Keine Zurechnung von Vertreterverschulden bei Vernichtung des Reisepasses:
1. Eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG wegen der Vernichtung eines Reisepasses kommt nur bei einer groben persönlichen Pflichtwidrigkeit in Betracht. Wird der Reisepass eines*einer Minderjährigen von einem Elternteil zerstört, ist dies dem*der Minderjährigen nicht zurechenbar.
2. Nicht jede Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments führt zu einer qualifizierten Ablehnung. Nur eine Vernichtung oder Zerstörung, die im Ergebnis die Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit ver- oder behindert hat, kann diese Rechtsfolge des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG rechtfertigen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
15 Gemessen an diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung im vorliegenden Fall zu Gunsten der Antragsteller aus. Nach summarischer Prüfung bestehen ernsthafte Bedenken gegen die Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet mit Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. August 2024. Die auf § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG gestützte Ablehnung der Asylanträge als offensichtlich unbegründet dürfte sich als rechtswidrig erweisen. Sie kann nach kursorischer Prüfung auch nicht auf einen anderen Katalogtatbestand des § 30 Abs. 1 AsylG gestützt werden.
16 Gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, mutwillig vernichtet oder beseitigt hat oder die Umstände offensichtlich diese Annahme rechtfertigen.
17 Zwar gab die Antragstellerin zu 1 in ihrer Anhörung an, ihren Reisepass und ihren Personalausweis auf dem Weg von der Türkei nach Deutschland zerstört zu haben. Die Schleuser hätten sie hierum gebeten. Sie hätten gesagt, dass die Antragsteller, falls sie erwischt würden, mit ihrem Personalausweis zurück in die Türkei geschickt würden.
18 Die Zerstörung dieser Personaldokumente erfüllt aber voraussichtlich nicht die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
19 Im Hinblick auf den minderjährigen Antragsteller zu 2 ist dies bereits deswegen nicht der Fall, da nach Aktenlage nicht erkennbar ist, dass seine Personaldokumente vernichtet worden sind. Nach den Angaben der Antragstellerin zu 1 in der Anhörung vom 14. März 2024 war nur die Antragstellerin im Besitz eines Reisepasses und eines Personalausweises, die sie auf Anweisung der Schleuser vernichtet hat. Es ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass der minderjährige Antragsteller zu 2 im Besitz von Personaldokumenten gewesen ist, die vernichtet worden wären. Jedenfalls wäre es dem Antragsteller zu 2 nicht zurechenbar, wenn die Antragstellerin zu 1 seine etwaig vorhandenen Personaldokumente vernichtet hätte. Denn das mit dem sofortigen Verlust des (vorläufigen) Bleiberechts verbundene Offensichtlichkeitsverdikt nach § 30 Abs. 1 AsylG kommt nur bei einer groben persönlichen Pflichtwidrigkeit des Schutzsuchenden in Betracht. Die sonst im Verfahrensrecht vorgesehene Zurechnung von Vertreterverschulden scheidet daher hierbei aus [...].
20 Im Übrigen sind im Hinblick auf beide Antragsteller die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG nicht gegeben, da die Antragstellerin zu 1 nicht ein Identitäts- oder Reisedokument vernichtet hat, das die Feststellung ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit "ermöglicht hätte". Die Formulierung "ermöglicht hätte" impliziert, dass nicht jede Vernichtung oder Beseitigung eines Identitäts- oder Reisedokuments zu einer Qualifizierung der Ablehnung eines unbegründeten Asylantrags als offensichtlich unbegründet führen soll, sondern allein eine solche, die im Ergebnis die Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden ver- oder jedenfalls behindert hat. Denn nur dann ist die Annahme gerechtfertigt, dass gerade das vernichtete oder beseitigte Personaldokument die Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit "ermöglicht hätte". Bestehen aber aus anderen Gründen keine Zweifel an Identität und Staatsangehörigkeit des Asylsuchenden, hat sich die Vernichtung oder Beseitigung des Personaldokuments nicht auf die Feststellung von Identität oder Staatsangehörigkeit ausgewirkt [...].
21Im konkreten Fall hat die Antragstellerin zu 1 nicht ein Identitäts- oder Reisedokument vernichtet, das die Feststellung ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit "ermöglicht hätte". Denn die Vernichtung ihres Reisepasses und ihres Personalausweises hat die Feststellung ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit nach Aktenlage in keiner Weise behindert. Diese Feststellung war auf andere Weise problemlos möglich, da die Antragstellerin zu 1 eine Kopie ihres Personalausweises vorlegen konnte. Zudem hatte sie Kopien ihrer Heiratsurkunde sowie Kopien der Geburtsurkunden ihrer Kinder. Sie machte auch bei ihrer Erstregistrierung am 22. November 2022 keine falschen Angaben zu ihrer Person. Nach Aktenlage hatte die Antragsgegnerin keine Zweifel an der Identität oder Staatsangehörigkeit der Antragsteller, welche durch deren Personaldokumente hätten im Sinne des § 30 Abs. 1 Nr. 4 AsylG beseitigt werden können (vgl. hierzu den Aktenvermerk des Sachbearbeiters der Antragsgegnerin vom 5.8.2024, nach dem keine begründeten Zweifel an der angegebenen Herkunft der Antragsteller vorlägen). Überdies ist aus dem Vortrag der Antragstellerin zu 1 oder aus den Akten nicht erkennbar, dass die Antragstellerin zu 1 mit der Vernichtung beabsichtigt hat, die Feststellung ihrer Identität oder Staatsangehörigkeit zu verhindern. Es ging ihr vielmehr auf Anraten der Schleuser darum, eine etwaige Rückführung in die Türkei unmöglich zu machen. [...]