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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 16.01.2025 - 4 ARs 11/24 - asyl.net: M33165
https://www.asyl.net/rsdb/m33165
Leitsatz:

Heranziehung zum Kriegsdienst steht Auslieferung nicht zwingend entgegen: 

Verweigert der Verfolgte im Auslieferungsverfahren nach dem Europäischen Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957 aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe und ist nicht gewährleistet, dass er nach seiner Auslieferung nicht zum Kriegsdienst im ersuchenden Staat herangezogen wird und im Fall seiner Verweigerung keine Bestrafung zu erwarten hat, begründet dies jedenfalls dann kein Auslieferungshindernis, wenn sein um Auslieferung ersuchendes Heimatland völkerrechtswidrig mit Waffengewalt angegriffen wird und ein Recht zur Kriegsdienstverweigerung deshalb nicht gewährleistet.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ukraine, Auslieferung, Wehrdienstverweigerung,
Normen: GG Art. 79 Abs. 3, GG Art. 1, GG Art. 20, GG Art. 4 Abs. 1, GG Art. 4 Abs. 3, GG Art. 12a, GG Art. 115a, EMRK Art. 3, EMRK Art. 9, EMRK Art. 15; IPbpR Art. 18; IRG §§ 42, 73; KDVG § 11
Auszüge:

[...]

29 2. An diesen Maßstäben gemessen, steht die im ersuchenden Staat drohende sanktionsbewehrte Heranziehung eines Verfolgten zum Kriegsdienst mit der Waffe, den dieser aus Gewissensgründen ablehnt, seiner Auslieferung jedenfalls dann nicht entgegen, wenn sein um Auslieferung ersuchendes Heimatland völkerrechtswidrig mit Waffengewalt angegriffen wird und ein Recht zur Kriegsdienstverweigerung deshalb nicht gewährleistet.

30 a) Die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 4 Abs. 3 GG oder Art. 4 Abs. 1 GG auf den zugrundeliegenden Sachverhalt auch nur - rechtlich (aa) wie tatsächlich (bb) - unterstellt, gebietet die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung nicht die Annahme eines unüberwindbaren Auslieferungshindernisses für den Fall einer kriegsbedingten Aussetzung des Kriegsdienstverweigerungsrechts im Zielstaat. Ein unabdingbarer Grundsatz der einschränkungslosen Aufrechterhaltung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auch im Verteidigungsfall lässt sich ihr bereits auf nationaler Ebene nicht entnehmen (cc). Ein abweichendes Schutzniveau des Kriegsdienstverweigerungsrechts folgt aber auch weder aus einer Parallelbetrachtung des Abschiebungsrechts, das im Asylrecht eine vergleichbare Gefährdungslage zu gewärtigen hat (dd), noch aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 9 EMRK. Zwar erkennt diese in jüngerer Zeit den Schutz des Kriegsdienstverweigerungsrechts grundsätzlich an. Sie bleibt jedoch im Schutzniveau hinter dem des Grundgesetzes zurück (ee). Für den durch Art. 18 Abs. 1 IPbpR garantierten Schutz gilt dies gleichermaßen (ff). [...]

32 bb) Für die Beantwortung der Vorlegungsfrage ohne Bedeutung ist daher auch, ob der Verfolgte im Einzelfall - wie sich dem Vorlegungsbeschluss für das Ausgangsverfahren nicht zweifelsfrei entnehmen lässt - den Kriegsdienst mit der Waffe generell ablehnt, oder ob er sich lediglich gegen die Entschließung der Staatsgewalt wendet, die bewaffnete Macht überhaupt oder mit bestimmten Mitteln zu einem konkreten politischen oder militärischen Zweck einzusetzen, also gegen eine Teilnahme an bestimmten Kriegen, gegen bestimmte Gegner, unter bestimmten Bedingungen, in bestimmten historischen Situationen oder mit bestimmten Waffen. Denn auch wenn eine solche situationsbezogene Gewissensentscheidung nicht dem Schutzgehalt des Art. 4 Abs. 3 GG unterfiele [...], sondern der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 GG betroffen wäre [...], vermöchte eine Erstreckung des persönlichen Anwendungsbereichs auch von Art. 4 Abs. 1 GG auf im Inland nicht Wehrpflichtige ebenso wenig, das Schutzniveau dieses Grundrechts für die mit dem Ausgangsverfahren vorgelegte Auslieferungskonstellation zu bestimmen.

33 cc) Nach der deutschen verfassungsrechtlichen Ordnung erfährt der Schutz, den das Grundgesetz dem freien Gewissen des Einzelnen mit Art. 4 GG einräumt, im Verteidigungsfall - mithin dem Fall, dass die Bundesrepublik Deutschland mit Waffengewalt angegriffen wird (Art. 115a Abs. 1 GG) - nicht unbeträchtliche Modifikationen sowohl auf der Ebene der Verfassung (1) wie auf der Ebene des das Nähere nach Art. 4 Abs. 3 Satz 2 GG und Art. 12a Abs. 2 Satz 3 GG regelnden einfachen Rechts (2). Setzt das deutsche Verfassungsrecht der Pflicht, sich an der Sicherung der staatlichen Existenz zu beteiligen, mit Art. 4 Abs. 3 GG gleichwohl hohe Schranken entgegen (3), etabliert es zwar ein im Vergleich mit anderen demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungen besonders weitgehendes Schutzniveau (4). Soweit der Verteidigungsfall mit einer Gefährdungslage nicht nur für die Landesverteidigung, sondern für die Grundrechtsverwirklichung eines jeden einhergeht, gilt dies indes ebenso für Schutzgehalte, die Art. 4 GG für zur Landesverteidigung berufene Wehrpflichtige gewährleistet. Daher erscheint es auch nach deutschem Verfassungsrecht nicht von vornherein undenkbar, dass Wehrpflichtige in außerordentlicher Lage zusätzlichen Einschränkungen unterliegen und in letzter Konsequenz sogar gehindert sein könnten, den Kriegsdienst an der Waffe aus Gewissensgründen zu verweigern (5).

34 (1) Der Schutz, den das Grundgesetz dem freien Gewissen des Einzelnen mit Art. 4 GG einräumt, erfährt im Verteidigungsfall ebenso wie andere grundrechtliche Gewährleistungen bereits auf Verfassungsebene nicht unbeträchtliche Modifikationen. So können Wehrpflichtige, die aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigern, gemäß Art. 12a Abs. 3 Satz 1 GG im Verteidigungsfall durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zu zivilen Dienstleistungen für Zwecke der Verteidigung einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung in Arbeitsverhältnisse verpflichtet werden, die nach Art. 12a Abs. 3 Satz 2 GG auch bei den Streitkräften und im Bereich ihrer Versorgung begründet werden können. Kann im Verteidigungsfall der Bedarf an zivilen Dienstleistungen im zivilen Sanitäts- und Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation nicht auf freiwilliger Grundlage gedeckt werden, können gemäß Art. 12a Abs. 4 GG auch Frauen zu derartigen Dienstleistungen herangezogen werden. Zur Vorbereitung auf Dienstleistungen, für die besondere Kenntnisse oder Fertigkeiten erforderlich sind, kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zudem nach Art. 12a Abs. 5 Satz 2 GG die Teilnahme an Ausbildungsveranstaltungen zur Pflicht gemacht werden. Kann im Verteidigungsfall der Bedarf an Arbeitskräften für die vorgenannten Bereiche auf freiwilliger Grundlage nicht gedeckt werden, kann zur Sicherung dieses Bedarfs überdies gemäß Art. 12a Abs. 6 Satz 1 GG die Freiheit der Deutschen, die Ausübung eines Berufs oder den Arbeitsplatz aufzugeben, durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden. [...]

36 (3) Unbeschadet dessen und auch des Umstands, dass Art. 4 GG in Art. 79 Abs. 3 GG nicht genannt wird, stellt das Bundesverfassungsgericht zum Rang der Gewissensfreiheit innerhalb der verfassungsrechtlichen Ordnung allerdings in ständiger Rechtsprechung fest, dass das Grundgesetz von der Würde der freien, sich selbst bestimmenden Person als höchstem Rechtswert ausgeht (Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG), es in Art. 4 Abs. 1 GG die Unverletzlichkeit des Gewissens garantiert und damit die Freiheit, nicht zu einem Verhalten gegen dessen als bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfahrene Gebote gezwungen zu werden. Hieran knüpft Art. 4 Abs. 3 GG nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an und räumt selbst in ernsten Konfliktlagen, in denen der Staat seine Bürger besonders fordert, dem Schutz des freien Gewissens des Einzelnen den Vorrang ein. Das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen setzt hiernach der verfassungsrechtlich verankerten Pflicht, sich an der bewaffneten Landesverteidigung und damit insoweit an der Sicherung der staatlichen Existenz zu beteiligen, eine "unüberwindliche" Schranke entgegen [...].

38 (5) Explizit offengelassen - und ohne dabei auch nur die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG vorzubehalten - hat das Bundesverfassungsgericht zudem, ob selbst jemand, der an sich zur Kriegsdienstverweigerung berechtigt erscheint, durch überragende Treuepflichten in außerordentlicher Lage gehindert sein kann, das Grundrecht geltend zu machen [...], und ob die für das Anerkennungsverfahren im Frieden geltenden Maßstäbe im Kriegsfall im Hinblick auf die dann bestehenden außergewöhnlichen Verhältnisse zu modifizieren sind [...]. Überdies entspricht es ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass sowohl die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Streitkräfte gegen das Interesse des Kriegsdienstverweigerers an der Freiheit von jeglichem Zwang gegenüber seiner Gewissensentscheidung abzuwägen sind [...] wie auch dass miteinander kollidierende Grundrechtspositionen darüber hinaus in ihrer Wechselwirkung zu erfassen und nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz so in Ausgleich zu bringen sind, dass sie für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden [...]. Angesichts dessen erachtet es der Senat für - jedenfalls prinzipiell - nicht undenkbar, dass ungeachtet des besonders hohen Rangs der in Art. 4 GG verbürgten Gewissensfreiheit auch die deutsche verfassungsrechtliche Ordnung es gestatten oder sogar erfordern könnte, den Schutz des Kriegsdienstverweigerungsrechts in außerordentlicher Lage gegenüber anderen hochrangigen Verfassungswerten zurücktreten zu lassen. [...]

43 (a) Der in der Sanktionierung einer alternativlosen Heranziehung zum Wehrdienst von ihm nunmehr angenommene Eingriff in die Gewissensfreiheit ist aber der Rechtfertigung nach Art. 9 Abs. 2 EMRK zugänglich. Die Gewährleistung kann mithin Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer [...]. Bei der Entscheidung, ob und in welchem Umfang ein Eingriff erforderlich ist, belässt der Gerichtshof den Vertragsstaaten der EMRK allerdings einen gewissen Ermessensspielraum und beschränkt sich auf die Prüfung, ob die auf nationaler Ebene getroffenen Maßnahmen grundsätzlich gerechtfertigt und verhältnismäßig waren [...]. Bei dieser Prüfung berücksichtigt er auch einen etwaigen Konsens und gemeinsame Werte, die sich aus der Praxis der Vertragsstaaten ergeben [...]. Er hat in diesem Zusammenhang jedoch darauf hingewiesen, dass fast alle Mitgliedstaaten des Europarats, in denen jemals eine Wehrpflicht galt oder vorgesehen ist, Alternativen zu diesem Wehrdienst eingeführt haben, um den möglichen Konflikt zwischen individuellem Gewissen und militärischen Verpflichtungen in Einklang zu bringen [...].

45 (3) Wird das Leben einer Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht, so kann jeder Vertragsstaat gemäß Art. 15 Abs. 1 EMRK Maßnahmen treffen, die von den in der Konvention vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, soweit es die Lage unbedingt erfordert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Vertragspartei stehen. Soweit Art. 15 Abs. 2 EMRK dieser Derogationsmöglichkeit Grenzen zieht, ergibt sich hieraus nicht, dass auch die Gewährleistungen des Art. 9 EMRK zu den notstandsfesten Rechten zählen [...]. Unbeschadet dessen verbleibt es den Vertragsstaaten auch und erst recht im Notstandsfall, Rechte aus Art. 9 Abs. 1 EMRK den Einschränkungen nach Art. 9 Abs. 2 EMRK zu unterwerfen.

46 ff) Soweit nach Art. 18 Abs. 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 [...] jedermann das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat, fällt es nach der Auslegung des Ausschusses für Menschenrechte der Vereinten Nationen (nachfolgend: Menschenrechtsausschuss) auch in den Anwendungsbereich dieser Gewährleistung, eine Person nicht zur Anwendung tödlicher Gewalt zu zwingen, obwohl dies in ernsthaftem Widerspruch zu ihrer Gewissensfreiheit oder ihrer Religions- oder Glaubensfreiheit steht [...]. Allerdings reicht das Art. 18 IPbpR entnommene Recht auf Kriegsdienstverweigerung in seinem Schutzniveau nicht über die Schutzgehalte des Art. 9 Abs. 1 EMRK hinaus. Zwar zählt Art. 4 Abs. 2 IPbpR die Gewährleistungen des Art. 18 Abs. 1 IPbpR zu den Rechten, die auch im Notstandsfall im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IPbpR nicht außer Kraft gesetzt werden dürfen. Auch Art. 18 Abs. 3 IPbpR gestattet es jedoch, die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekunden, gesetzlich vorgesehenen Einschränkungen zu unterwerfen, die zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit, Sittlichkeit oder der Grundrechte und -freiheiten anderer erforderlich sind [...].

47 b) Lässt sich nach dem Vorstehenden weder dem Grundgesetz noch der Europäischen Menschenrechtskonvention oder dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte eine uneingeschränkte Aufrechterhaltung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auch im Verteidigungsfall entnehmen, ist es der Bundesrepublik Deutschland nach den eingangs genannten Maßstäben verwehrt, die kriegsbedingte Aussetzung des Kriegsdienstverweigerungsrechts im ersuchenden Staat als unüberwindbares Auslieferungshindernis zu betrachten. [...]