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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 27.02.2025 - 24 K 151/23 A - asyl.net: M33185
https://www.asyl.net/rsdb/m33185
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für Angehörigen der ehemaligen Sicherheitskräfte: 

Es ist davon auszugehen, dass ein ehemaliger Angehöriger der Afghan Public Protection Forces – APPF (einer zum Innenministerium gehörenden militärischen Abteilung zum Schutz öffentlicher Personen) bei einer Rückkehr nach Afghanistan landesweit von den Taliban verfolgt wird. Eine herausgehobene Stellung innerhalb der Regierung oder eine Führungsposition ist für die Annahme einer Verfolgung insoweit nicht erforderlich, da davon auszugehen ist, dass die Taliban im Besitz von Dokumenten sind, die die Tätigkeit des Klägers  belegen. Zum anderen sind keine klaren Muster erkennbar, nach denen Regierungsmitarbeiter in den Fokus der Taliban geraten. 

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, APPF, politische Verfolgung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...] 18 [...] Aufgrund der Gesamtumstände des vorliegenden Einzelfalls ist es zur Überzeugung der Einzelrichterin erheblich wahrscheinlich, dass der Kläger als ehemaliger Mitarbeiter des afghanischen Innenministeriums im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einer Verfolgung durch die dort mittlerweile landesweit herrschenden Taliban ausgesetzt wäre. Bei seiner Würdigung geht das Gericht von folgender Erkenntnislage zum Umgang der Taliban mit ehemaligen Regierungsbediensteten aus [...]:

19 Nach der aktuellen Fortschreibung des Lageberichts des Auswärtigen Amts zu Afghanistan vom 26. Juni 2023 (Lagefortschreibung AA) berichten die Vereinten Nationen (VN), die UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) sowie Medien von Hunderten von Entführungen und Ermordungen von ehemaligen Regierungs- und Sicherheitskräften seit August 2021 – trotz einer von den Taliban als De-facto-Machthabern für diese erlassenen und weiterhin propagierten Generalamnestie [...]. So hat die ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte der VN nach Prüfung von 130 Fällen bis Mitte Februar 2022 die Vorwürfe gegenüber den Taliban für begründet befunden, wonach Angehörige der ehemaligen Sicherheitskräfte und der Regierung ermordet wurden. Bei rund 100 dieser Fälle handelt es sich um willkürliche Hinrichtungen, die Taliban-Kräften zugeordnet werden konnten. Laut einer im April 2022 erschienenen Medienrecherche der New York Times konnten seit August 2021 ca. 500 Fälle verifiziert werden, in denen Angehörige der ehemaligen Regierung oder Sicherheitskräfte verschleppt, gefoltert oder ermordet wurden bzw. weiterhin verschwunden sind. [...]

20 Diese Erkenntnisse des Auswärtigen Amts decken sich mit anderen einschlägigen Berichten, insbesondere der European Union Agency for Asylum [...] Übereinstimmend wird betont, dass es nicht möglich ist, klare Muster dafür zu finden, welche Angehörigen der ehemaligen Sicherheitskräfte oder der Regierungsadministration Ziel der Taliban. Vielmehr ist die Praxis der Taliban danach als "inkonsistent", "ad hoc" oder als "Mischung gegenläufiger Handhabungen" [...] zu beschreiben [...]. Von Mitarbeitern des Regierungsapparats sind Angestellte bestimmter Ministerien, wie beispielsweise des Verteidigungs-, des Innen- und des Justizministeriums, in besonderer Weise in den Fokus der Taliban geraten [...]. Zur Beurteilung begründeter Verfolgungsfurcht von Regierungsvertretern ist die Institution, bei der sie beschäftigt waren, ebenso zu berücksichtigen, wie ihre Rolle und Funktionen [...].

21 Vor diesem Hintergrund droht dem Kläger im Ergebnis einer Würdigung aller Umstände seines Einzelfalls aufgrund seiner Tätigkeit im afghanischen Innenministerium mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die Taliban.

22 Es steht zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, dass der Kläger nach seiner einjährigen Tätigkeit beim afghanischen Finanzministerium von 2012 bis Ende September 2020 in der Abteilung der APPF beim Innenministerium in Kabul beschäftigt war. Zum Nachweis seiner Tätigkeit in beiden Ministerien legte er beim Bundesamt mehrere mit Fotos versehene Dienstausweise vor, die seine jeweils innegehabte Funktion innerhalb des Regierungsapparats ausweisen. Zudem reichte er beim Bundesamt Empfehlungsschreiben verschiedener internationaler Firmen und Organisationen ein, mit denen er im Zuge seiner Tätigkeit bei der AFFP zusammengearbeitet hatte. [...]

23 Für eine Exponiertheit des Klägers aus Sicht der Taliban spricht zum einen der Umstand, dass dieser im Innenministerium und nach aktueller Erkenntnislage damit in einem Ministerium tätig war, das in besonderer Weise in den Fokus der Taliban geraten war [...]. Vorliegend kommt noch hinzu, dass der Kläger in der sicherheitsrelevanten Abteilung der APPF tätig war. Zum anderen wirkt sich die von ihm im Innenministerium über mehrere Jahre hinweg konkret wahrgenommene Funktion gefahrerhöhend aus. Denn es ist davon auszugehen, dass die Taliban während der langjährigen Tätigkeit des Klägers bei der Sicherung von Transporten ausländischer Firmen und Organisationen, etwa bei Straßenkontrollen oder Überfällen auf die Transporte, in den Besitz von Lieferscheinen gelangt sind, auf denen der Kläger als für die Transportsicherung im Innenministerium verantwortlicher Mitarbeiter namentlich benannt und dieser ihnen damit als Regierungsmitarbeiter war. Ausgehend hiervon kommt dem von der Beklagten in den Vordergrund gerückten Umstand, dass der Kläger im Innenministerium keine hierarchisch herausgehobene Stellung und Führungsposition bekleidete, keine entscheidende Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr, als sich nach aktueller Erkenntnislage ohnehin keine klaren Muster dafür beschreiben lassen, welche Regierungsangehörigen in den Fokus der Taliban geraten [...].

24 Als weiterer Risikofaktor kommt zur Überzeugung des Gerichts hinzu, dass der Kläger im Jahr 2019 und im September 2020 persönliche Sicherungswarnungen von – wohl nachrichtendienstlich unterrichteten – Stellen erhielt, die innerhalb des Innenministeriums angesiedelt waren. [...]

26Ausgehend von dieser Risikoeinschätzung kommt es nicht entscheidungserheblich darauf, dass der Kläger – wie die Beklagte betont – nach eigenen Angaben nie unmittelbar persönlich von den Taliban bedroht wurde. [...]

27Die Tatsache, dass der Kläger bereits vor seiner Ausreise ins Visier der Taliban geraten war, erhöht – unabhängig davon, ob vor der Ausreise bereits die Erheblichkeitsschwelle für eine flüchtlingsrelevante Verfolgung überschritten war – die Wahrscheinlichkeit dafür, dass dieser im Fall einer Rückkehr in sein Herkunftsland ins Visier der nunmehr landesweit herrschenden Taliban geraten würde. Zudem wird der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan jedenfalls auch deshalb in den Fokus der derzeitigen Machthaber geraten, weil er sich bei der Einreise ausweisen und identifizieren muss. Es ist davon auszugehe, dass die derzeitigen Machthaber in Afghanistan Rückkehrer, die nach einem langjährigen Aufenthalt in Westeuropa wieder nach Afghanistan einreisen, einer sehr genauen Kontrolle unterziehen werden, um auf vermeintliche bzw. potentielle Widersacher sogleich zugreifen zu können. Nach den Erkenntnissen des Gerichts sind die Taliban auch in den sozialen Medien aktiv und nutzen gezielt soziale Medien und Internettechnik, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Sie nutzen beispielsweise soziale Netzwerke wie Facebook, um potentielle Gegner zu identifizieren. Es wird auch berichtet, dass die Taliban bei Kontrollpunkten Telefone durchsuchen, um Personen mit Verbindungen zu westlichen Regierungen und Organisationen bzw. zu den ehemaligen afghanischen Streitkräften und Regierungsmitarbeitern zu finden. Die Taliban werten auch im Internet verfügbare Videos und Fotos aus und können dabei auf gut ausbildete Spezialkräfte in Sachen Informationstechnik und Bildforensik zurückgreifen [...]. Die EUAA berichtet, nach Analysen aus dem Jahr 2024 habe die Professionalität der De-facto-Machthaber weiter zugenommen, die Biometrik einsetzten, um unter anderem ehemalige Regierungsbeschäftigte zu identifizieren . [...]