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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 24.03.2025 - 1 C 15.23 - asyl.net: M33186
https://www.asyl.net/rsdb/m33186
Leitsatz:

Ausweisung bei bestehendem Abschiebungsverbot:

1. Eine Ausweisung ist auch aus rein generalpräventiven Gründen möglich, wenn eine Person wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots auf absehbare Zeit nicht abgeschoben werden kann.

2. Unter Geltung der Rückführungsrichtlinie gibt es keinen Raum für ein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot ohne Rückkehrentscheidung.

3. § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG bietet für eine Titelerteilungssperre ohne Einreise- und Aufenthaltsverbot keine Rechtsgrundlage.

4. Das Vorliegen des Ausschlussgrundes des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG schließt einen Ermessensanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nicht aus.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Generalpräventiver Zweck, Titelerteilungssperre, Ausweisung, Flüchtlingsanerkennung, Widerruf,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 5, AufenthG § 54, AufenthG § 53, AufenthG § 53a, AufenthG § 11, AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 25 Abs. 5
Auszüge:

[...]

12 1. Ohne Verstoß gegen Bundesrecht hat das Oberverwaltungsgericht die Ausweisung des Klägers als rechtmäßig angesehen. Sie konnte aus rein generalpräventiven Erwägungen erfolgen, auch wenn der Kläger wegen eines festgestellten Abschiebungsverbots auf absehbare Zeit nicht abgeschoben werden kann (a). Die Interessenabwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG erweist sich im Ergebnis als zutreffend (b). [...]

16 Gemessen daran hat das Oberverwaltungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise die ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG begründende Straftat des Klägers individuell, namentlich auch unter Berücksichtigung seiner Lebensumstände und seiner persönlichen Situation, berücksichtigt und dabei die konkrete Tatbegehung als besonders schwerwiegend gewürdigt [...]. Die dagegen vom Kläger erhobenen Einwände greifen nicht durch. [...]

17 bb) Auch ein Ausländer, der wegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots auf absehbare Zeit nicht abgeschoben werden kann, darf aus rein generalpräventiven Gründen ausgewiesen werden. Eine Ausweisung ist grundsätzlich auf die Aufenthaltsbeendigung durch Ausreise aus dem Bundesgebiet gerichtet [...]. Dem steht nicht entgegen, dass die zwangsweise Durchsetzung der infolge der Ausweisung begründeten Ausreisepflicht wegen des Bestehens von Abschiebungsverboten auf absehbare Zeit nicht vollzogen werden kann und die Ausweisung in diesen Fällen somit nur "inlandsbezogen" wirkt. Abschiebungsschutz aus zielstaatsbezogenen Gründen besteht indes nur, solange der ein Abschiebungsverbot nach § 60 AufenthG feststellende Verwaltungsakt Bestand hat. Entfällt das Abschiebungsverbot, kann der Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichenfalls – nach Erlass einer Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung – durch eine Abschiebung zwangsweise beendet werden. [...]

21 Zwar ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) gemäß Art. 19 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 4 GRC unabhängig vom Verhalten der betreffenden Person die Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung dieser Person in einen Staat, in dem für sie die ernsthafte Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung besteht, uneingeschränkt verboten und können die Mitgliedstaaten diese Person daher nicht abschieben, ausweisen oder ausliefern, wenn für sie die reale Gefahr besteht, im Bestimmungsland einer durch diese beiden Bestimmungen der Charta verbotenen Behandlung ausgesetzt zu werden [...]. In einem solchen Fall folgt aus Art. 5 RL 2008/115/EG aber nur eine Pflicht für die nationale Behörde, vor der Vollstreckung einer bereits erlassenen Rückkehrentscheidung eine aktualisierte Bewertung der Gefahren für den Drittstaatsangehörigen vorzunehmen, wobei die Prüfung solcher Gründe nicht auf das Asylverfahren beschränkt ist [...]. Soweit hiernach eine Ausweisung bei einer drohenden Verletzung von Art. 4 GRC "verboten" ist, gilt dies nur in Fällen, in denen die Vollstreckung einer Rückkehrentscheidung, also die Aufenthaltsbeendigung, tatsächlich droht. Bei einer Ausweisung trotz bestehenden Abschiebungsverbots ist dies – solange das Abschiebungsverbot besteht – gerade nicht der Fall. Ein solches Verständnis steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs, nach der Art. 5 RL 2008/115/EG dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegensteht, wenn feststeht, dass dessen Abschiebung in das vorgesehene Zielland nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen ist [...]. Eine – lediglich den Aufenthaltsstatus verschlechternde – Ausweisung ohne Rückkehrentscheidung wird dadurch nicht ausgeschlossen. [...]

23 b) Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmenden Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ist das Berufungsgericht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass im Falle des Klägers das generalpräventive und gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1b AufenthG besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse gegenüber den Bleibeinteressen des § 55 AufenthG überwiegt (UA S. 13 ff.).  [...]

25 Gefahren im Herkunftsland, die diese Schwelle überschreiten, sind hingegen nicht zugunsten des Ausländers zu berücksichtigen, unabhängig davon, ob ein (der Prüfungszuständigkeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge unterfallendes) zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot bereits festgestellt ist oder nicht. Zu dem letztgenannten Fall hat der Senat dies bereits entschieden und zur Begründung auf die ausschließliche Prüfungszuständigkeit des Bundesamts verwiesen. Ist ein Abschiebungsverbot (einschließlich eines internationalen Schutzstatus) bereits festgestellt, kann aber nichts anderes gelten. Solange dieses Verbot Bestand hat, kommt eine Aufenthaltsbeendigung unter keinen Um-ständen in Betracht, sodass die Gefahren, vor denen dieses Verbot schützen soll, nicht tatsächlich drohen. Das Berufungsgericht hat bei der Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteressen deshalb zu Recht (fiktiv) unterstellt, dass das Abschiebungsverbot nicht mehr besteht.[...]

29 a) Unter Geltung der Richtlinie 2008/115/EG gibt es keinen Raum für ein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot ohne Rückkehrentscheidung. [...]

33 bb) Unter Geltung der Rückführungsrichtlinie besteht für ein rein nationales Einreise- und Aufenthaltsverbot auf der Grundlage von § 11 AufenthG kein Raum. Da nach § 11 Abs. 1 AufenthG das Einreise- und Aufenthaltsverbot zu er-lassen ist, wenn der Ausländer ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, gegen ihn eine Abschiebungsanordnung nach § 58a AufenthG erlassen wurde oder er aus bestimmten Gründen (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) zurückgewiesen worden ist, kann es im Falle der Ausweisung außerhalb der Geltung der Rückführungsrichtlinie, also rein nach nationalem Recht, zwar auch ohne Abschiebungsandrohung ergehen. Im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie ist dies indes nicht möglich. Nach Art. 2 Abs. 1 RL 2008/115/EG findet die Richtlinie insbesondere (auch) Anwendung auf ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen verhängt wurde, gegen den aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf der Grundlage einer früheren strafrechtlichen Verurteilung eine Ausweisungsverfügung ergangen ist, soweit der Mitgliedstaat nicht von der in Art. 2 Abs. 2 Buchst. b RL 2008/115/EG geregelten Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, die Richtlinie nicht auf einen aufgrund oder infolge strafrechtlicher Sanktion rückkehrpflichtigen Drittstaatsangehörigen anzuwenden (EuGH, Urteil vom 3. Juni 2021 - C-546/19 - Rn. 48). Die Richtlinie stellt allein auf die Illegalität des Aufenthalts ab und differenziert nicht zwischen migrations- und gefahrenabwehrrechtlich bedingten Einreise- und Aufenthaltsverboten, sondern erfasst beide. [...]

36 3. Die vom Oberverwaltungsgericht ausgesprochene Verpflichtung der Beklagten zur Neubescheidung des Antrages des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis steht ebenfalls im Einklang mit Bundesrecht. Nach den obigen Ausführungen (unter 2.) scheitert dieses Begehren entgegen der Auffassung der Beklagten nicht bereits an der Titelerteilungssperre des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG.

37 Der Kläger hat zwar keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, weil er wegen der verwirklichten Straftat von erheblicher Bedeutung den Ausschlussgrund des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG erfüllt, ohne dass es auf eine gegenwärtige Wiederholungsgefahr für eine Straftat von erheblicher Bedeutung ankommt [...]. Der Ausschlussgrund ist nicht gefahren- oder präventionsabhängig, sondern als dauerhaft wirkender Ausschlusstatbestand konzipiert. Im Anschluss an Art. 17 Abs. 1 Buchst. b RL 2011/95/EU bezeichnet er Fälle, in denen der Ausländer einer Aufenthaltsgewährung als unwürdig erachtet wird. Diese aus der Begehung einer schweren Straftat folgende "Unwürdigkeit", einen qualifizierten Aufenthaltstitel zu erlangen, besteht auch dann fort, wenn keine Wiederholungsgefahr (mehr) besteht und von dem Ausländer auch sonst keine aktuellen Gefahren für den Aufent-haltsstaat ausgehen [...]. 

38 Einen Anspruch des Klägers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung nach § 25 Abs. 5 AufenthG hat das Oberverwaltungsgericht zutreffend bejaht. Ein solcher Anspruch ist von seinem Antrag erfasst, weil das Begehren allgemein auf die Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels nach allen in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen gerichtet ist [...]. Das Vorliegen des Ausschlussgrundes des § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG schließt einen Anspruch nach Absatz 5 nicht aus und dessen tatbestandliche Voraussetzungen liegen vor. Der Kläger ist vollziehbar ausreisepflichtig und ihm ist die Ausreise in seinen Heimatstaat Iran wegen des vom Bundesamt festgestellten Abschiebungsverbots, das nach der Rechtsprechung des Senats auch im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen ist [...], aus rechtlichen Gründen unmöglich. Mit dem Wegfall des Ausreisehindernisses ist in absehbarer Zeit nicht zu rechnen. Die Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 (kein Ausweisungsinteresse) und Nr. 4 (Passpflicht) AufenthG sind indessen nicht erfüllt. Da der (Regel-)Anspruch des Klägers auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach obigen Ausführungen ausgeschlossen ist, verbleibt es bei einem (in den übrigen Fällen der Erteilung eines humanitären Aufenthaltstitels, hier nach § 25 Abs. 5 AufenthG bestehenden) Ermessensanspruch nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auf Absehen von den Erteilungsvoraussetzungen des Absatzes 1. Auch wenn zur Vermeidung einer Umgehung der gesetzgeberischen Wertung in § 25 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 AufenthG bei Eröffnung der Möglichkeit eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bei Vorliegen eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses nur ausnahmsweise – etwa bei Straffreiheit und sehr guten Integrationsleistungen über einen längeren Zeitraum – in Betracht kommt, hat die Beklagte derartige Ermessenserwägungen bisher nicht angestellt. [...]