Berücksichtigung der Statusentscheidung eines anderen Mitgliedstaates:
1. Es gibt weder aus nationalem noch aus europäischem Recht eine unmittelbare Bindungswirkung der Statusentscheidung eines anderen Mitgliedstaates.
2. Allerdings müssen Behörden und Gerichte die Zuerkennungsentscheidung eines anderen Mitgliedstaats, sowie die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang berücksichtigen. Die Behörde, die über den Antrag entscheidet, muss daher unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des anderen Mitgliedstaates einleiten. Dieser Informationsaustausch umfasst die Information über den neuen Antrag, die Übermittlung einer Stellungnahme zum neuen Antrag an die Behörde des anderen Mitgliedstaats und die Bitte, innerhalb einer angemessenen Frist die ihr vorliegenden Informationen, die zu einem Schutzstatus geführt haben, zu übermitteln.
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch EuGH, Urteil vom 18.06.2024 - C-753/22 - QY gg. Deutschland - asyl.net: M32485)
[...]
8 Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da es die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage abgewiesen hat, ohne die bereits in Griechenland erlassene Zuerkennungsentscheidung und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang zu berücksichtigen. Zwar hatte das Verwaltungsgericht eine Sachentscheidung über den Asylantrag der Klägerin zu treffen (1.); auch folgt der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch nicht aus einer inhaltlichen Bindungswirkung der griechischen Zuerkennungsentscheidung (2.). Doch hat das Verwaltungsgericht unter Verstoß gegen Unionsrecht die Entscheidung Griechenlands, der Klägerin internationalen Schutz zu gewähren, und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, nicht in vollem Umfang berücksichtigt (3.). Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat nicht selbst entscheiden; dies nötigt zur Zurückverweisung (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (4.). [...]
10 2. Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch folgt nicht aus der bereits in Griechenland erfolgten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Eine unmittelbare Bindungswirkung der von einem anderen Staat getroffenen Statusentscheidung ergibt sich weder aus nationalem Recht (a) noch aus dem Unionsrecht (b).
11 a) aa) Die von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Griechenland ausgehenden Rechtswirkungen sind nationalrechtlich in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt. Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet, aus der aber kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt. Eine weitergehende Bindung des Bundesamtes lässt sich nationalrechtlich auch nicht aus § 3 Abs. 3 AsylG oder aus verfassungsrechtlichen Vorgaben herleiten [...].
13 b) Im Ergebnis zu Recht (§ 144 Abs. 4 VwGO) geht das Verwaltungsgericht da-von aus, dass die Klägerin auch aus dem Unionsrecht keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft allein aus dem Umstand ableiten kann, dass ihr ein solcher Status bereits in einem anderen Mitgliedstaat gewährt wurde. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten im Bereich des internationalen Schutzes nicht, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen [...]. Anderes folgt nicht aus einem ebenfalls am 18. Juni 2024 ergangenen Urteil des EuGH [...], das allein das Auslieferungsrecht zum Gegenstand hat.
14 3. Das Verwaltungsgericht hat jedoch dadurch gegen Bundesrecht verstoßen, dass es die Zuerkennungsentscheidung Griechenlands und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, nicht in vollem Umfang berücksichtigt hat. Damit beruht die Annahme, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage und genügt den revisionsrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf die richterliche Überzeugungsbildung nicht [...].
15 a) In den Fällen, in denen der Antrag eines Schutzsuchenden nicht bereits als unzulässig abgelehnt werden kann, besteht zunächst die Pflicht der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates, eine individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorzunehmen und hierbei die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang zu berücksichtigen. Die Behörde des Mitgliedstaates, die über den neuen Antrag zu entscheiden hat, muss daher unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedstaates einleiten, der dem Antragsteller zuvor die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe. Hierbei muss sie die andere Behörde über den neuen Antrag informieren, ihr ihre Stellungnahme zu dem neuen Antrag übermitteln und sie bitten, ihr innerhalb einer angemessenen Frist die ihr vorliegenden Informationen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, zu übermitteln [...].
16 b) Die Verpflichtung, die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates sowie die ihr zugrunde liegenden Anhaltspunkte bei der Entscheidung über einen Asylantrag zu berücksichtigen, gilt indes nicht nur für die zur Entscheidung über den Asylantrag berufenen Behörden, sondern erstreckt sich auf ein sich anschließen-des verwaltungsgerichtliches Verfahren. Dies folgt aus der Verpflichtung der Gerichte zur Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO und zur Herstellung der Spruchreife nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. [...]
17 c) Die Zuerkennungsentscheidung Griechenlands hat bei der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht die unionsrechtlich gebotene inhaltliche Berücksichtigung gefunden. Ein auf die in Griechenland getroffene Entscheidung bezogener Informationsaustausch zwischen dem Bundesamt und den für Asylverfahren zuständigen griechischen Behörden im vorgenannten Sinne ist weder im Asylverfahren noch im gerichtlichen Verfahren erfolgt. Auch auf anderem Wege - etwa durch eine Vorlage entsprechender Unterlagen durch die Klägerin - ist die Zuerkennungsentscheidung Griechenlands nebst den Anhaltspunkten, auf denen sie beruht, nicht zum Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens geworden. [...]