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VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 27.02.2025 - 24 K 131/23 A - asyl.net: M33190
https://www.asyl.net/rsdb/m33190
Leitsatz:

Zugriff der Taliban auf Daten ehemaliger Sicherheitskräfte: 

1. Seit der Machtübernahme haben die Taliban Zugriff auf die von der vorherigen Regierung gespeicherten Daten über Angestellte der Sicherheitskräfte und können diese gezielt verfolgen. Eine technische Analyse des Chaos Computer Club zeigt, dass die auf den von den Taliban erbeuteten Geräten gespeicherten Daten nicht durch eine Verschlüsselung geschützt sind.

2. Von Verfolgung durch die Taliban sind nicht nur hochrangige ehemalige Angehörige der Sicherheitskräfte bedroht. Niederrangige Angehörige der Sicherheitskräfte sind nicht durch einflussreiche Verbindungen geschützt. Klare Muster der Gefährdung lassen sich nicht erkennen. 

(Leitsätze der Redaktion) 

 

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Sicherheitskräfte, Militärangehörige
Normen: AsylG § 3b Abs. 2
Auszüge:

[...]

14 [...] Der Kläger lebte zum Zeitpunkt des ersten Zustellungsversuchs in einer Gemeinschaftsunterkunft und damit zustellungsrechtlich in einer Gemeinschaftseinrichtung im Sinne von § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO. Vorrangig muss der Postzusteller in diesem Fall versuchen, den Empfänger in der Gemeinschaftseinrichtung persönlich anzutreffen. Ist dies nach den Gegebenheiten nicht möglich, besteht die Möglichkeit der Ersatzzustellung an den Leiter der Gemeinschaftseinrichtung bzw. dessen Vertreter (§ 3 Abs. 2 VwZG i.V.m. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO). Vorliegend wurde der Bescheid ausweislich von Ziffer 7.1 der Postzustellurkunde vom 3. März 2023 jedoch einer "in dem Geschäftsraum" beschäftigten Personen übergeben. Diese Art der Ersatzzustellung ist jedoch nur in Gemeinschaftsräumen an eine dort beschäftigte Person möglich (§ 3 Abs. 2 VwZG i.V.m. § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO); zu dieser Personengruppe gehörte der Kläger nicht. [...]

18 Gemessen an diesen Grundsätzen befindet sich der Kläger als ehemaliger Angehöriger der Sicherheitskräfte wegen der ihm von den Taliban zugeschriebenen politischen Überzeugung aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Herkunftslands, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Bei seiner Würdigung geht das Gericht von folgender Erkenntnislage zum Umgang der Taliban mit ehemaligen Angehörigen der afghanischen Streitkräfte aus [...]:

19 Nach der aktuellen Fortschreibung des Lageberichts des Auswärtigen Amtes zu Afghanistan vom 26. Juni 2023 (Lagefortschreibung AA) berichten die Vereinten Nationen (VN), die UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan) sowie Medien von Hunderten von Entführungen und Ermordungen von ehemaligen Regierungs- und Sicherheitskräften seit August 2021 – trotz einer von den Taliban als De-facto-Machthabern für diese erlassenen und weiterhin propagierten Generalamnestie [...]. So hat die ehemalige Hochkommissarin für Menschenrechte der VN nach Prüfung von 130 Fällen bis Mitte Februar 2022 die Vorwürfe gegenüber den Taliban für begründet befunden, wonach Angehörige der ehemaligen Sicherheitskräfte und der Regierung ermordet wurden. Bei rund 100 dieser Fälle handelt es sich um willkürliche Hinrichtungen, die Taliban-Kräften zugeordnet werden konnten. Laut einer im April 2022 erschienenen Medienrecherche der New York Times konnten seit August 2021 ca. 500 Fälle verifiziert werden, in denen Angehörige der ehemaligen Regierung oder Sicherheitskräfte verschleppt, gefoltert oder ermordet wurden bzw. weiterhin verschwunden sind. UNAMA und Human Rights Watch (HRW) halten diese Untersuchung für glaubwürdig [...].

20 [...] Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge führt in der Länderkurzinformation Afghanistan, Situation ehemaliger Sicherheitskräfte (ANSF) mit dem Stand Oktober 2024 [...] aus, dass ehemalige Sicherheitskräfte anhaltend stark von Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban betroffen sind. Danach ist die Verfolgung nach den anfänglich anscheinend willkürlichen Tötungen und Verhaftungen ehemaliger Sicherheitskräfte schon wenige Monate nach der Machtübernahme der Taliban systematischer geworden. Sie blieben zeitlich und örtlich sehr unterschiedlich, so dass keine konsistenten langfristigen Muster erkennbar sind. Nach der Machtübernahme hatten die Taliban Zugriff zu den von der vorherigen Regierung gespeicherten Daten über Angestellte der Sicherheitskräfte und konnte sie somit gezielt verfolgen [...]. Von den Verfolgungen sind nicht nur hochrangige ehemalige Sicherheitskräfte betroffen. Zwar tragen hochrangige ehemalige Sicherheitskräfte mehr Verantwortung für die Kämpfe gegen die Taliban und sind deshalb eher Ziel von Rachetötungen. Jedoch kann das soziale und berufliche Netzwerk einer Person den Grad an Schutz gegenüber den Taliban bestimmen. Die Exekutionen von hochrangigen ehemaligen Sicherheitskräften mit stabilen sozialen Netzwerken birgt für die Taliban eher langfristiges Konfliktpotential. Im Gegensatz dazu haben niederrangige Sicherheitskräfte oftmals keine einflussreichen Verbindungen, die sie vor der Rache durch die Taliban schützen [...]. Soweit vereinzelt Angestellte der ehemaligen Sicherheitskräfte in den Dienst der Taliban gewechselt sind, betrifft dies größtenteils ziviles Personal wie beispielsweise Ingenieure, Logistiker und Gesundheitspersonal […].

23 Es steht zur Überzeugung der Einzelrichterin fest, dass der Kläger als Ingenieur […] im Rang eines Offiziers bei den afghanischen Streitkräften beschäftigt und auf dem Stützpunkt ... stationiert war. Zum Nachweis seiner Tätigkeit legte er beim Bundesamt neben seinem Abschlusszertifikat bei der ... unter anderem seine Militärkarte und einen Dienstausweis vor. An der Authentizität dieser Dokumente hat die Beklagte keine Zweifel geltend gemacht und auch das Gericht sieht keinen Anlass, deren Echtheit in Frage zu stellen. Im Termin zur mündlichen Verhandlung beantwortete der Kläger ohne Zögern alle Fragen des Gerichts zu seiner Tätigkeit als Ingenieur auf einem Stützpunkt der afghanischen Streitkräfte, bei denen er nach eigenen Angaben, an denen die Einzelrichterin zu zweifeln keinen Anlass sieht, den Rang eines Offiziers bekleidete. Weiter gab er an, in der Kaserne auf dem Stützpunkt in ... stationiert gewesen zu sein. Seine diesbezüglichen Angaben wirkten auf die Einzelrichterin in vollem Umfang authentisch und glaubhaft.

24 Für eine Exponiertheit des Klägers aus Sicht der Taliban spricht bereits der Umstand, dass er als Ingenieur ... über Spezialwissen verfügte, das für diese besonders wertvoll war. So waren es insbesondere Ingenieure wie der Kläger, die nach aktueller Erkenntnislage in den Dienst der Taliban wechselten [...]. Zudem ist davon auszugehen, dass den Taliban der Name des Klägers und die von ihm auf der Militärbasis wahrgenommenen Funktionen bekannt waren. So berichtete der Kläger bereits in seiner Anhörung beim Bundesamt, seinen Dienstausweis in seinem Schlafzimmer in der wenig später von den Taliban eingenommenen Kaserne zurückgelassen zu haben. Zudem macht er geltend, aus Anlass seiner Tätigkeit beim Militär vollständig erkennungsdienstlich behandelt worden zu sein. Es entspricht der aktuellen Erkenntnislage, dass Mitarbeiter der afghanischen Streitkräfte erkennungsdienstlich und insbesondere biometrisch erfasst wurden und die Taliban im Zuge der Machtübernahme im August 2021 Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden erlangten. Dazu gehörte unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei [...]. Wie leicht die Taliban Zugang zu den von ausländischen Streitkräften erhobenen biometrischen Daten erhalten können, zeigte zuletzt der Fund eines deutschen IT-Experten. Nach einschlägigen Medienberichten zeigt eine technische Analyse von IT-Experten des Chaos Computer Clubs, dass die auf den von den Taliban erbeuteten Geräten gespeicherten Daten nicht durch Verschlüsselung vor Zugriff geschützt und somit sehr niedrigschwellig durch die Taliban nutzbar sind. Brisant ist dabei, dass manche der Personen, deren Daten auf den Geräten gespeichert sind, offenbar eindeutig als ehemalige Mitglieder der Polizei und des Militärs ausgewiesen sind [...].

25 Ausgehend hiervon kommt dem von der Beklagten in den Vordergrund gerückten Umstand, dass der Kläger in der afghanischen Armee keine hierarchisch herausgehobene Stellung bekleidete, keine entscheidende Bedeutung zu. Dies gilt umso mehr, als sich nach aktueller Erkenntnislage ohnehin keine klaren Muster dafür beschreiben lassen, welche Angehörigen der Streitkräfte in den Fokus der Taliban geraten. [...]