Voraussetzung für die Entstehung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts:
"1. Ein Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU bzw. Art. 16 Richtlinie 2004/38/EG entsteht, wenn der Unionsbürger während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG erfüllt hat (im Anschluss an BVerwG, Urteile vom 13.06.2024 - 1 C 5.23 - juris Rn. 29 und vom 16.07.2015 - 1 C 22.14 - juris Rn. 17).
2. Ein unmittelbar aus Art. 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrechts eines Drittstaatsangehörigen von einem Unionsbürger setzt voraus, dass der Unionsbürger aus eigenem Recht freizügigkeitsberechtigt ist, er also von seiner Freizügigkeit unter Beachtung der Voraussetzungen in Art. 7 Abs. 1 oder Art. 16 Abs. 1 Richtlinie 2004/38/EG Gebrauch gemacht hat (BVerwG, Urteil vom 13.06.2024 - 1 C 5.23 - juris Rn. 27). Beruft sich der Drittstaatsangehörige in einem Antrag auf Zulassung der Berufung auf ein aus Art. 21 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht, hat er substantiiert darzulegen, dass der Unionsbürger in dieser Weise von seiner bestehenden Freizügigkeitsberechtigung Gebrauch gemacht hat.
3. Wird mit dem Antrag auf Zulassung der Berufung innerhalb der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO allein ein Aufenthaltsrecht nach Art. 21 AEUV geltend gemacht, führt ein erst nach Ablauf der Begründungsfrist unterbreiteter Vortrag zum unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV für sich allein grundsätzlich nicht zur Zulassung der Berufung."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
11 (1) Gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten (Freizügigkeitsrecht). Der Gerichtshof der Europäischen Union hat in besonders gelagerten Fallkonstellationen anerkannt, dass drittstaatsangehörige Familienangehörige eines Unionsbürgers, die zwar aus der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Abl. L 158 vom 30.04.2004, S. 77) - Freizügigkeitsrichtlinie -, kein abgeleitetes Recht auf Aufenthalt in einem Mitgliedstaat herleiten können, dennoch auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 1 AEUV die Anerkennung eines Rechts erreichen können (EuGH, Urteile vom 27.06.2018
<Altiner und Ravn> - C-230/17 - Rn. 27, vom 10.05.2017 <Chavez-Vilchez u.a.> - C-133/15 - Rn. 54 und vom 12.03.2014 <O. und B.> - C-456/12 - Rn. 44 ff.; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 20.01.2022 - 11 S 2757/20 - juris Rn. 59).
12 Zu den vom Gerichtshof der Europäischen Union entschiedenen besonders gelagerten Fallkonstellationen, in denen aus Art. 21 Abs. 1 AEUV von einem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht für einen Drittstaatsangehörigen abgeleitet werden kann, zählen solche, in denen ein Drittstaatsangehöriger die tatsächliche Sorge für ein minderjähriges Unionsbürgerkind ausübt [...]. und solche, in denen ein Unionsbürger mit dem Drittstaatsangehörigen in seinen Herkunftsmitgliedstaat zurückgekehrt ist oder zurückkehren will, nachdem er sich in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, niedergelassen hatte [...].
13 Dabei stellt der Gerichtshof der Europäischen Union stets darauf ab, dass ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zugunsten eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers grundsätzlich nur dann besteht, wenn es erforderlich ist, damit dieser Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit wirksam ausüben kann. Der Zweck und die Rechtfertigung eines solchen abgeleiteten Rechts beruhen auf der Feststellung, dass seine Nichtanerkennung insbesondere die Freizügigkeit sowie die Ausübung und die praktische Wirksamkeit der Rechte, die dem Unionsbürger nach Art. 21 Abs. 1 AEUV zustehen, beeinträchtigen könnte [...].
15 Voraussetzung für die Entstehung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts ist, dass der Unionsbürger, von dem ein Drittstaatsangehöriger ein Aufenthaltsrecht aus Art. 21 Abs. 1 AEUV ableitet, von seiner Freizügigkeit unter Beachtung der Voraussetzungen in Art. 7 oder Art. 16 der Freizügigkeitsrichtlinie Gebrauch gemacht hat [...], also insbesondere über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt, Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Freizügigkeitsrichtlinie, oder ein Daueraufenthaltsrecht gemäß Art. 16 der Freizügigkeitsrichtlinie erworben hat [...]. Die Entstehung eines Daueraufenthaltsrechts setzt dabei voraus, dass der Unionsbürger während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 der Freizügigkeitsrichtlinie erfüllt hat [...].
19 bb) Soweit die Klägerin im Berufungszulassungsverfahren erstmals mit Schriftsatz vom 18.09.2023 vorträgt, auch der Kernbereich der Unionsbürgerschaft sei betroffen, damit der Sache nach einen aus Art. 20 Abs. 1 AEUV folgenden Anspruch geltend macht und insoweit eine Stellungnahme ihres Sohnes vom 15.09.2023 vorlegt, die eine aus ihrer Abschiebung folgende "existentielle Betroffenheit" belegen soll, ist der Senat bereits aus formalen Gründen gehindert, die Berufung aus diesem Grund zuzulassen.
20 Denn nach Ablauf der Begründungsfrist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO können, sofern - wie hier - nicht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (§ 60 VwGO), weder eine bisher fehlende Darlegung nachgeholt noch neue Zulassungsgründe nachgeschoben werden. Der Senat ist grundsätzlich auf die Prüfung frist- und formgerecht vorgetragener Zulassungsgründe beschränkt. Nach Fristablauf ist nur noch eine Erläuterung, Ergänzung oder Verdeutlichung rechtzeitig und formgerecht geltend gemachter Zulassungsgründe möglich. Der Vortrag neuer, selbstständiger Zulassungsgründe nach Ablauf der Frist - und seien es auch nur weitere als die bereits dargelegten Gründe innerhalb eines Zulassungsgrunds - ist damit ausgeschlossen [...]. Selbst im Falle einer Rechtsänderung und deren Geltendmachung nach Ablauf der Frist muss diese unberücksichtigt bleiben [...].
21 Der Schriftsatz, der die einen Anspruch aus Art. 20 Abs. 1 AEUV betreffenden Ausführungen der Klägerin enthält, ist dem Verwaltungsgerichtshof am 19.09.2023 und damit nicht innerhalb von zwei Monaten seit der Zustellung des angegriffenen Urteils zugegangen (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), die am 19.06.2023 erfolgt ist. Da sich die innerhalb der Begründungsfrist geltend gemachten Ausführungen nicht ansatzweise zum im erstinstanzlichen Verfahren ebenfalls geltend gemachten Anspruch gemäß Art. 20 AEUV verhalten, kann der Senat sie auch nicht als Erläuterung, Ergänzung oder Verdeutlichung bereits dargelegter Zulassungsgründe berücksichtigen.
22 Auch unabhängig hiervon bestünden selbst bei Berücksichtigung des verspäteten Vorbringens keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung. Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, des Bundesverwaltungsgerichts und des Senats setzt die Entstehung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts sui generis, das aus Art. 20 AEUV zugunsten eines Drittstaatsangehörigen abgeleitet wird, voraus, dass ein Unionsbürger dergestalt in einem familiären Abhängigkeitsverhältnis zu dem betreffenden Drittstaatsangehörigen steht, dass er zwingend auf ihn angewiesen ist. Der vom Drittstaatsangehörigen abhängige Unionsbürger müsste also bei Beendigung des Aufenthalts des Drittstaatsangehörigen im Unionsgebiet faktisch gezwungen sein, diesen zu begleiten oder ihm nachzufolgen, also das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, mit der Folge, dass ihm der tatsächliche Genuss des Kernbestands seiner Rechte als Unionsbürger verwehrt würde [...].
23 Die Gewährung eines solchen Aufenthaltsrechts aus Art. 20 AEUV kann jedoch nur ausnahmsweise bei Vorliegen ganz besonderer Sachverhalte erfolgen [...] Denn es geht ausschließlich darum, die oben angesprochene Extremsituation zu verhindern, in der der Unionsbürger in verständlicher Weise für sich keine andere Wahl sieht, als einem Drittstaatsangehörigen, von dem er rechtlich, wirtschaftlich oder affektiv abhängig ist, bei der Ausreise zu folgen oder sich zu ihm ins Ausland zu begeben und deshalb das Unionsgebiet zu verlassen (BVerwG, Urteile vom 12.07.2018 - 1 C 16.17 - juris Rn. 35 und vom 30.07.2013 - 1 C 9.12 - juris Rn. 34). Gegen eine in diesem Sinne relevante rechtliche und wirtschaftliche Abhängigkeit spricht etwa die Tatsache, dass ein minderjähriger Unionsbürger im Unionsgebiet mit einem sorgeberechtigten Elternteil zusammenlebt, der entweder deutscher Staatsangehöriger ist oder als Ausländer über ein freizügigkeits- oder aufenthaltsrechtlich begründetes Daueraufenthaltsrecht verfügt sowie berechtigt ist, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen [...].
24 Allerdings ist es möglich, dass dessen ungeachtet eine so große affektive Abhängigkeit des Kindes von dem nicht aufenthaltsberechtigten Elternteil besteht, dass sich das Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn dem Drittstaatsangehörigen ein Aufenthaltsrecht verweigert, entzogen oder ihm die Rückkehr ins Bundesgebiet verboten würde. Einer solchen Feststellung muss die Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zugrunde liegen. Hierzu zählen insbesondere das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, der Grad seiner affektiven Bindung zu seinen Eltern und das Risiko, das mit der Trennung vom drittstaatsangehörigen Ausländer für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre [...]. Eine affektive Abhängigkeit ist insbesondere für den Fall in Betracht zu ziehen, dass der Unionsbürger und sein drittstaatsangehöriger Elternteil über einen erheblichen Zeitraum hinweg ein normales Familienleben im Sinne des Art. 7 EU-GR-Charta geführt haben [...].
25 In diesem Zusammenhang obliegt es dem Drittstaatsangehörigen, die Informationen beizubringen, anhand deren sich beurteilen lässt, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des Art. 20 AEUV erfüllt sind [...].
26 Dass diese Voraussetzungen erfüllt wären, legt die Klägerin nicht dar. Denn ihr volljähriger, wirtschaftlich und auch sonst nicht von ihr abhängiger Sohn behauptet in seiner Stellungnahme vom 15.09.2023 nicht einmal, dass er die Klägerin im Falle ihrer Abschiebung in die Russische Föderation dorthin begleiten würde. Vielmehr sprechen seine Ausführungen "Für mich würde eine Abschiebung meiner Mutter bedeuten, dass ich, wenn ich sie besuchen und sehen möchte, ich als deutscher und italienischer Staatsangehöriger jedes mal ein Visum beantragen müsste, zumal momentan eine Reise nach Russland, wenn überhaupt, nur sehr schwer möglich ist" dafür, dass er sich auch im Falle ihrer Abschiebung weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten wird. [...]