In eine Blutfehde verwickelte Familie bildet keine sozialen Gruppe:
1. Angehörige einer Familie teilen aufgrund ihrer familiären Bindungen einen "gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann" oder ein "angeborenes Merkmal". Dies ergibt sich entweder aus genetischer Abstammung, Adoption oder Ehe. Auch die Verwicklung in eine familiäre Blutfehde ist Teil eines "gemeinsamen Hintergrunds, der nicht verändert werden kann".
2. Die Wahrnehmung einer Gruppe als "andersartig" durch die Gesellschaft ist im Zusammenhang mit der "deutlich abgegrenzten Identität" der Gruppe zu betrachten. Um als Gruppe zu gelten, muss sie von der sie umgebenden Gesellschaft und nicht nur von Einzelnen oder nur von den Verfolgungsakteuren als andersartig angesehen werden. Es ist nicht ausreichend, wenn sich Opfer von Verfolgungshandlungen selbst als andersartig betrachten.
3. Eine Gruppe kann insbesondere aufgrund sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen im Herkunftsland als andersartig betrachtet werden. Anhaltspunkte wie Diskriminierung, Ausschließung oder Stigmatisierung deuten auf eine solche Wahrnehmung hin.
4. Angehörige einer Familie, die aufgrund eines vermögensrechtlichen Streits in eine Blutfehde verwickelt sind, bilden keine soziale Gruppe, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als andersartig wahrgenommen werden.
(Leitsätze der Redaktion; unter Verweis auf EuGH, Urteil vom 16.01.2024 - C-621/21 - WS gegen Bulgarien - Asylmagazin 3/2024, S.117 ff. - asyl.net: M32111 (Frauen als Opfer häuslicher Gewalt) und EuGH, Urteil vom 11.06.2024 - C-646/21 ([Frauen, die sich mit dem Wert der Geschlechtergleichheit identifizieren)).
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27 Aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 ergibt sich, dass eine Gruppe als eine "bestimmte soziale Gruppe" gilt, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Erstens müssen die Mitglieder der betreffenden Gruppe mindestens eines der drei im ersten Gedankenstrich dieser Bestimmung genannten Identifizierungsmerkmale teilen, nämlich "angeborene Merkmale", einen "gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann", oder "Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung …, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten". Zweitens muss diese Gruppe im Herkunftsland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, "da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird" (Urteil vom 11. Juni 2024, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Frauen, die sich mit dem Wert der Geschlechtergleichheit identifizieren], C-646/21, EU:C:2024:487, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).
28 Was die erste dieser Voraussetzungen betrifft, deren Vorliegen vor dem vorlegenden Gericht nicht in Abrede gestellt wird, so teilen die Angehörigen einer Familie, wie vom Generalanwalt in den Nrn. 24 bis 26 seiner Schlussanträge ausgeführt, aufgrund ihrer familiären Bindungen, unabhängig davon, ob sich diese Bindungen aus genetischer Abstammung, Adoption oder Ehe ergeben, ein "angeborenes Merkmal" oder einen "gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann". Der Umstand, dass die Angehörigen einer Familie, insbesondere die Männer und Jungen dieser Familie, aufgrund ihrer Abstammung in eine Blutfehde verwickelt sind, weil diese in patrilinearer Linie von Generation zu Generation weitergegeben wird, ist ebenfalls Teil eines gemeinsamen Hintergrundes, der nicht verändert werden kann, und stellt somit ein zusätzliches gemeinsames Merkmal dieser Personen dar. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass diese Personen die erste Voraussetzung erfüllen.
29 Zur zweiten Voraussetzung, die erfüllt sein muss, damit es sich um eine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 handelt, nämlich die deutlich abgegrenzte Identität dieser Gruppe im betreffenden Herkunftsland, "da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird", möchte das vorlegende Gericht wissen, ob gemäß dieser Bestimmung das Vorliegen einer "deutlich abgegrenzten Identität" eigenständig und losgelöst von der Frage zu prüfen ist, ob die betroffene Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
30 Aus dem Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 in sämtlichen Sprachfassungen ergibt sich, dass die Wahrnehmung der Andersartigkeit der betroffenen Gruppe durch die sie umgebende Gesellschaft von entscheidender Bedeutung ist. Wie vom Generalanwalt im Wesentlichen in den Nrn. 30 bis 32 seiner Schlussanträge ausgeführt, stellt die in dieser Bestimmung genannte "deutlich abgegrenzte Identität" der Gruppe eine Voraussetzung dar, die nicht getrennt und autonom von der Betrachtung der sie umgebenden Gesellschaft, sondern im Zusammenhang mit dieser zu beurteilen ist.
31 Es ist Sache des betreffenden Mitgliedstaats, zu bestimmen, welche "umgebende Gesellschaft" im Sinne dieser Bestimmung für die Beurteilung des Vorliegens einer sozialen Gruppe relevant ist. Diese Gesellschaft kann mit dem gesamten Herkunftsland der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zusammenfallen oder enger eingegrenzt sein, z. B. auf einen Teil des Hoheitsgebiets oder der Bevölkerung dieses Drittlands [...].
32 Im Übrigen muss die "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" unabhängig von Verfolgungshandlungen festgestellt werden, die den Mitgliedern dieser Gruppe in ihrem Herkunftsland drohen […].
34 Ebenso können je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen, insbesondere den sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen, sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen – etwa den Umstand, dass Frauen sich einer Zwangsehe entzogen haben oder verheiratete Frauen ihre Haushalte verlassen haben oder auch den Umstand, sich tatsächlich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern zu identifizieren –, als "einer bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden [...].
35 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es nicht nur auf die Wahrnehmung einiger Individuen ankommt, die Teil der umgebenden Gesellschaft sind. Um als Gruppe anerkannt werden zu können, die im Herkunftsland eine abgegrenzte Identität hat, muss die Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als Ganzes als andersartig betrachtet werden, was notwendigerweise erfordert, dass es sich um die Wahrnehmung eines wesentlichen Teils der Individuen dieser Gesellschaft handelt und nicht nur einzelner Akteure, deren Handlungen als Verfolgungshandlungen im Sinne der Richtlinie 2011/95 qualifiziert werden können. Anderenfalls würden solche Handlungen ausreichen, um die davon betroffenen Personen als eine "bestimmte soziale Gruppe" anzusehen, was diese Voraussetzung ihrer Wirksamkeit berauben würde.
36 Der Umstand, dass sich Opfer solcher Handlungen selbst als andersartig betrachten, kann für sich allein in diesem Zusammenhang ebenso wenig ausschlaggebend sein. Ist eine Familie in eine Blutfehde verwickelt, bedeutet der Umstand, dass sich die davon betroffenen Mitglieder der Familie subjektiv als andersartig wahrnehmen, für sich genommen nicht, dass die von ihnen gebildete Gruppe von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird, wie es Art. 10 Abs. 1 Buchst. d zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 2011/95 erfordert.
37 Es kommt also darauf an, dass eine Gruppe insbesondere aufgrund sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen im Herkunftsland von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Dass die umgebende Gesellschaft eine Gruppe so wahrnimmt, kann insbesondere durch konkrete Anhaltspunkte wie Diskriminierungen, Ausschließungen oder Stigmatisierungen belegt werden, die die Mitglieder der fraglichen Gruppe allgemein betreffen und sie an den Rand der sie umgebenden Gesellschaft drängen [...].
38 Vorbehaltlich der Prüfungen, die das vorlegende Gericht vorzunehmen hat, ergibt sich in diesem Fall aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten nicht, dass die Gruppe der Angehörigen einer bestimmten Familie, die aufgrund eines Streits vermögensrechtlicher Natur in eine Blutfehde verwickelt ist, in ihrem Herkunftsland nicht nur von den Angehörigen der in diese Blutfehde verwickelten Familien, sondern auch von der sie umgebenden Gesellschaft als Ganzes als andersartig betrachtet wird.
39 Folglich begründet der Umstand, dass einer Person, die internationalen Schutz beantragt, in ihrem Herkunftsland wegen einer auf einem Streit vermögensrechtlicher Natur beruhenden Blutfehde gegen alle oder manche Mitglieder ihrer Familie physische Gewalt bis hin zur Tötung droht, nicht die Feststellung, dass dieser Antragsteller einer "bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 angehört. Einer solchen Person kann folglich auf dieser Grundlage nicht die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden. [...]