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SG Karlsruhe

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Zitieren als:
SG Karlsruhe, Beschluss vom 25.02.2025 - S 12 AY 379/22 ER - asyl.net: M33205
https://www.asyl.net/rsdb/m33205
Leitsatz:

Leistungsausschluss für Dublin-Rückkehrende europarechts- und verfassungswidrig: 

"1. Gegen höherrangiges Recht verstößt § 1 Abs. 4 S. 1 AsylbLG offenkundig, weil die Norm sowohl evident europarechtswidrig als auch evident verfassungswidrig ist.

2. Obwohl § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG zum 1.11.2024 in Kraft getreten ist, dürfen alle Asylbewerber­leistungsempfänger darauf vertrauen, dass der gesetzeskräftige Leistungsausschluss weder von Asylbewerberleistungsbehörden noch von Sozialgerichten angewandt wird.

3. Es ist selbst dann keine "wesentliche Änderung" im Sinne des § 48 SGB X gegeben, wenn die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen des Wortlauts aus § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AsylbLG erfüllt sind."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Dublinverfahren, Unzulässigkeit, Leistungsausschluss
Normen: AsylbLG § 1 Abs. 4 S. 1, AsylbLG § 1 Abs. 4 S. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

15 [...] Am Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes besteht kein schützenswertes öffentliches Interesse. Die Verfügung darin ist voraussichtlich rechtswidrig ergangen und verletzte wohl subjektive Rechte des Antragstellers. Die Antragsgegnerin dürfte am 11.02.2025 unrechtmäßig die Aufhebung der vormaligen Leistungsbewilligung verfügt haben. [...]

18 Überdies war die Aufhebungsverfügung vom 11.02.2025 wohl in materieller Hinsicht rechtswidrig, weil die Tatbestandsvoraussetzungen keiner Rechtsgrundlage erfüllt sind.

19 § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB § 48 Abs. 1 Satz 1 bestimmt zwar, dass der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im Hinblick auf die am 11.02.2025 [...] verfügte Aufhebung der Asylbewerberleistungsbewilligung dürfte aber keine wesentliche Änderung eingetreten sein. Insbesondere stellt wohl die Ablehnung des Asylantrags durch das BAMF vom 27.01.2025 aus zwei Rechtsgründen keine wesentliche Änderung im Sinne der Norm da.

20 Insofern ist der Antragsgegnerin zwar zuzugestehen, dass das BAMF sodann den Asylantrag als unzulässig erachtete und auch die Abschiebung des Antragstellers in den für das Asylverfahren zuständigen Mitgliedstaat – hier: Griechenland – androhte. Eben deswegen wären die gesetzlichen Voraussetzungen des Gesetzeswortlauts von § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG grundsätzlich erfüllt. Die Norm bestimmt nämlich, dass Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG haben, wenn ihr Asylantrag durch eine Entscheidung des BAMF als unzulässig abgelehnt wurde, wenn nach der Feststellung des BAMF die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist und die Abschiebung angeordnet wurde.

21 Erstens hat aber im vorliegenden Fall des Antragstellers die Durchsetzung der Ausreisepflicht ausnahmsweise noch zu unterbleiben. Sie ist nämlich noch nicht vollziehbar. Die Abschiebungsandrohung des BAMF vom 27.01.2025 wirkt in seinem Einzelfall noch nicht. Gegen sie hat er zum Verwaltungsgericht Karlsruhe die Anfechtungsklage A 13 K 664/25 erhoben. Diese Klage schiebt die Wirkung der Abschiebungsandrohung des BAMF einstweilen auf. Eben dies hat das Verwaltungsgericht Karlsruhe im Verfahren A 13 K 665/25 am 13.02.2025 angeordnet.

22 Ungeachtet dessen gilt generell in allen Fällen des Bezugs von Asylbewerberleistungen: Es ist selbst dann keine "wesentliche Änderung" im Sinne des § 48 SGB X gegeben, wenn die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen des Wortlauts aus § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG erfüllt sind. Obwohl § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG zum 01.11.2024 in Kraft getreten ist, dürfen alle Asylbewerberleistungsempfänger darauf vertrauen, dass der gesetzeskräftige Leistungsausschluss weder von Asylbewerberleistungsbehörden noch von Sozialgerichten angewandt wird. Gerichte und Behörden sind gemäß Art. 20 Abs. 3 GG nicht nur an Gesetze, sondern zuvörderst an hierzu vorrangiges Europarecht und Verfassungsrecht gebunden. Gegen höherrangiges Recht verstößt § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG offenkundig, weil die Norm sowohl evident europarechtswidrig als auch evident verfassungswidrig ist.

23 § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG verletzt voraussichtlich die europarechtlichen Regelungen über Mindeststandards der Versorgung während des Asylverfahrens aus Art. 17 bis 20 der Aufnahme-Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (EURL 2013/33). Diese Mindeststandards sind in den sog. Dublin-III-Fällen anwendbar, solange – wie hier – noch keine endgültige Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergangen ist [...].

24 Die Mindeststandards dürften gemäß Art. 20 EURL 2013/33 der Aufnahme-Richtlinie zwar eingeschränkt werden. Allerdings liegt hier keiner der abschließend aufgeführten Ausnahmetatbestände vor. Es ist nämlich nicht ersichtlich, dass der Antragsteller gegen Vorschriften der Unterbringungszentren, gegen räumliche Beschränkungen oder Melde- und Auskunftspflichten verstoßen oder nicht rechtzeitig Antrag auf internationalen Schutz gestellt oder Vermögen verschwiegen oder Gewalt verübt hätte. Überdies hätte die Unterschreitung des europarechtlichen Mindeststandards eine – im vorliegenden Fall des Antragstellers fehlende – individuell zu begründende Einzelfallentscheidung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips sowie die Gewährleistung des Zugangs zu medizinischer Versorgung und eine menschenrecht6
liche Mindestversorgung nach Art. 20 Abs. 5 erfordert [...].

25 § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG verletzt voraussichtlich ferner das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG. Bei § 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG handelt es sich um einen vollständigen Leistungsausschluss, der durch das Vorenthalten einer materiellen Existenzgrundlage Einreiseanreize vermeiden und zur Ausreise aus Deutschland motivieren soll. Als solcher ist der Leistungsausschluss erst recht verfassungswidrig. Denn selbst weniger schwerwiegende Maßnahmen in der Form bloßer Leistungsabsenkungen dürfen nicht mit migrationspolitischen Erwägungen gerechtfertigt werden [...].

26 Indes ist ein vollständiger Leistungsausschluss für Personen, die sich tatsächlich in Deutschland aufhalten, gerade nicht zu vereinbaren mit der temporären Reichweite des Grundrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG.Dem sog. Aktualitätsgrundsatz (bzw. "Gegenwärtigkeitsprinzip") zufolge ist die menschenwürdige Existenz einschließlich des soziokulturellen Minimums ab Beginn des Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland bis zu deren Ende zu sichern. Auch eine kurze Aufenthaltsdauer oder -perspektive rechtfertigt es gerade nicht, den Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auf die Sicherung der physischen Existenz zu beschränken [...].

27 Eine vom allgemeinen Existenzsicherungsrecht abweichende Bedarfsbemessung dürfte nur erfolgen, wenn wegen eines nur kurzfristigen Aufenthalts konkrete Minderbedarfe gegenüber Hilfsempfängern mit Daueraufenthaltsrecht nachvollziehbar festgestellt und bemessen werden könnten. Derartige Erkenntnisse liegen indes nicht vor [...].

28 Bei dem neuen Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG für sog. Dublin-III-Fälle, in denen das BAMF den Asylantrag wegen der vorrangigen Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG ablehnt, kommt erschwerend hinzu, dass der betroffene Personenkreis nicht innerhalb von zwei Wochen nach Ablehnung des Asylantrages freiwillig ausreisen kann [...].

29 Dies zeigt sich auch im vorliegenden Fall. Denn das nach § 1 Abs. 4 Satz 7 AsylbLG mögliche Darlehen für die Kosten der Ausreise ist dem Eilantragsteller nach Lage der Akten noch nicht bewilligt worden, sodass er die Flugkosten nicht aufbringen könnte, zumal sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auch nicht feststellen lässt, ob der Antragsteller tatsächlich legal nach Griechenland einreisen dürfte, was lebenspraktisch mehr erfordert als die abstrakte Zuständigkeit eines Mitgliedstaates für ein Asylverfahren nach der Dublin-III-VO.

30 Nach alldem ist § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG aus vorrangigen Rechtsgründen generell untauglich, eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X zu begründen. Eben hierauf gestützte Aufhebungsentscheidungen der Asylbewerberleistungsverwaltung sind stets rechtswidrig. In Fällen wie diesen kommt auch nicht § 45 SGB X zur Anwendung, da es bereits an der nach § 45 Abs. 1 SGB X erforderlichen Ausübung des Rücknahmeermessens fehlt. [...]