Keine qualifizierte Ablehnung bei Möglichkeit von Familienasyl:
1. Die Ablehnung eines Asylantrages gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG kommt nur in Betracht, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zweifelsfrei zu bejahen sind. Auch ein Anspruch auf Familienasyl gemäß § 26 AsylG darf dann offensichtlich nicht in Betracht kommen.
2. Leitet eine minderjährige Person ihr Verfolgungsschicksal von den Eltern ab, ist eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet erst möglich, wenn das BAMF den Asylantrag der stammberechtigten Eltern als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat und die Entscheidung bestandskräftig ist.
3. Die gegen eine minderjährige Person erlassene Abschiebungsandrohung ist rechtlich bedenklich, da bei einer Rückkehrentscheidung das Kindeswohl und familiäre Bindungen in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen sind. Minderjährige Antragstellende sind auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen und können nicht auf ein nachgelagertes Verfahren bei der Ausländerbehörde verwiesen werden.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
17 Die Antragstellerin bzw. ihre Eltern haben für die Antragstellerin keine individuellen Gründe geltend gemacht, so dass sie unter diesem Blickwinkel keine eigenen Gründe hat, die auch nur potentiell von Asylrelevanz wären, insbesondere wurden keine Tatsachen vorgebracht, dass die Antragstellerin persönlich Repressionen seitens des türkischen Staates zu befürchten hätte.
18 Gleichwohl ist auch in der vorliegenden Fallkonstellation des vom Gesetzgeber vorgegebenen Offensichtlichkeitsausspruchs gemäß § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und eine damit verbundene Einschränkung des Rechtsschutzes – gerade auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten – nur gerechtfertigt, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen der Offensichtlichkeitsentscheidung unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände zweifelsfrei zu bejahen sind. Daran fehlt es hier.
19 Denn die Antragsgegnerin hat nicht berücksichtigt, dass noch ein Familienflüchtlingsschutz gemäß § 26 AsylG in Betracht kommt, so dass die Erlangung eines internationalen Schutzes seitens der Antragstellerin nicht unter jedem Blickwinkel offensichtlich ausgeschlossen ist und damit durchaus Umstände vorliegen, die für die Gewährung eines internationalen (Familien-)Schutzes von "Belang" sind. Denn weitere Voraussetzung für einen Offensichtlichkeitsausspruch nach § 30 AsylG ist, dass auch ein Anspruch gemäß § 26 AsylG offensichtlich für die Antragstellerin nicht in Betracht kommen darf. Nur wenn Familienasyl und internationaler Schutz für Familienangehörige ebenfalls ohne Weiteres versagt werden müssten, ist der Asylantrag insgesamt aussichtslos. Leitet eine Minderjährige ihr Verfolgungsschicksal von demjenigen ihrer Eltern ab, ist eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet erst möglich, nachdem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylantrag der stammberechtigten Eltern ebenfalls überprüft und ebenfalls als offensichtlich unbegründet vollziehbar oder unanfechtbar abgelehnt hat bzw. wenn eine ablehnende Entscheidung der Stammberechtigten bestandskräftig ist. Entscheidet das Bundesamt über den Asylantrag in der qualifizierten Form des § 30 AsylG, bevor eine unanfechtbare negative Entscheidung über das Begehren der Stammberechtigten getroffen ist bzw. bevor eine vollziehbare qualifizierte Ablehnung als offensichtlich unbegründet auch gegenüber den Stammberechtigten gefallen ist, ist eine Entscheidung insoweit allein deshalb rechtswidrig [...].
20 Soweit die Gegenauffassung damit argumentiert, dass die Berücksichtigung familiärer Belange voraussetze, dass die Stammberechtigten über einen gesicherten Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland verfügten und eine Aufenthaltsgestattung nicht ausreiche, bzw. darauf verweist, dass § 26 AsylG eine unanfechtbare Schutzgewährung des/der Stammberechtigten voraussetze und diese wie hier offensichtlich zum jetzigen Zeitpunkt nicht vorliege [...], überzeugt dies nicht.
21 Denn zum einen ist im Lichte der europarechtlichen und auch der verfassungsrechtlichen Vorgaben der Sachverhalt umfassend zu erforschen; dazu gehört auch Schutzmöglichkeiten unter Berücksichtigung des § 26 AsylG in Betracht zu ziehen. Dabei schadet nicht, dass die Antragstellerin entsprechendes noch nicht beim Bundesamt vorgebracht hat. Denn die Prüfung möglichen Familienflüchtlingsschutzes gemäß § 26 AsylG drängt sich in der vorliegenden Konstellation auf. In dem Zusammenhang ist gerade auch zu berücksichtigen, dass und ob ein Asylantrag des/der potentiellen Stammberechtigten Erfolg haben kann. Zum anderen hätte es im Lichte des Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK sowie Art. 7 und 24 EU-Grundrechtecharta seitens der Antragsgegnerin tiefergreifenderer Erwägungen bedurft und nicht nur eines Verweises auf die Möglichkeiten der Ausländerbehörde in einem nachgelagerten Verfahrensstadium im Rahmen der Vollstreckung. Denn die Antragsgegnerin wie auch das Gericht gehen nach der Aktenlage davon aus, dass das Asylbegehren der möglichen stammberechtigten Eltern und Geschwister der Antragstellerin jedenfalls nicht offensichtlich unbegründet ist. Vielmehr ist nicht ausgeschlossen, dass das Gericht zu einer anderen Entscheidung kommen kann. Das Asylbegehren einer Minderjährigen ist zudem schon begrifflich nicht offensichtlich unbegründet, solange die Zuerkennung eines Schutzstatus noch in Betracht kommt, insbesondere, wenn wie hier das Vorbringen der Eltern im Gerichtsverfahren zum dort maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt durchaus anders bewertet werden könnte. Der Sinn und Zweck des Familienasyls sowie die Belange des Kindes sprechen für die vorliegend getroffene Auslegung. Denn andernfalls wäre die knapp 20 Monate alte Antragstellerin allein für sich ausreisepflichtig und könnte theoretisch abgeschoben werden, obwohl für ihre Eltern und Geschwister noch Monate bzw. bei Durchlaufen des Instanzenzugs Jahre ins Land gehen könnten, bevor diese ausreisepflichtig würden ([...].
22 Die Abschiebungsandrohung ist des Weiteren unabhängig von Vorstehendem hinsichtlich der prüfungsrelevanten inlandsbezogenen Abschiebungshindernisse gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG rechtlich bedenklich. Denn ernsthafte rechtliche Zweifel resultieren daraus, dass die Antragsgegnerin in der vorliegenden Konstellation überhaupt eine sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung erlassen hat, obwohl die am 27. August 2023 geborene Antragstellerin offenkundig auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen ist. Bei einer Rückkehrentscheidung sind Kindeswohl und familiäre Bindungen in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen [...]. Denn Art. 5 Buchstabe a) und b) der RL 2008/115/EG (Rückführungs-RL) verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen im Rahmen eines zum Erlass des gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahren zu schützen. Es genügt nicht, dass die Minderjährige ihre geschützten Interessen im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug der Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung des Vollzugs dieser Entscheidung zu bewirken [...].
23 Die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid seitens der Antragsgegnerin, dass eine Abschiebung nur im Familienverbund mit den sorgeberechtigten Eltern durchzuführen sei und selbst bei einer unterbleibenden freiwilligen Ausreise der Antragstellerin dies nicht zwangsläufig zu einem Vollzug der Abschiebungsandrohung führe, wird den verfassungsrechtlichen und europarechtlichen Vorgaben nicht gerecht. Denn, wenn wie ausgeführt über den Aufenthalt der Antragstellerin in der Bundesrepublik die sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung schwebt, während im Klageverfahren ihrer Eltern, die über eine im vorliegenden Zusammenhang ausreichende Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG verfügen [...], die aufschiebende Wirkung womöglich noch über Jahre andauert, ist es rechtlichen nicht zumutbar, die Antragstellerin lediglich gemäß § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG auf die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollziehung durch die Ausländerbehörde in einem nachfolgenden Verfahrensstadium zu verweisen. Vielmehr sind die Belange der minderjährigen Antragstellerin in allen Stadien des Verfahrens und damit schon von der Antragsgegnerin selbst in deren Asylerfahren im Rahmen der Rückkehrentscheidung zu berücksichtigen. [...]