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SG Hamburg

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Zitieren als:
SG Hamburg, Beschluss vom 11.04.2025 - S 28 AY 188/25 ER - asyl.net: M33256
https://www.asyl.net/rsdb/m33256
Leitsatz:

Maßstab des Leistungsausschlusses für Dublin-Rückkehrende: 

"1. Maßstab der Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG ist, ob eine Ausreise im konkreten Einzelfall innerhalb der nächsten zwei Wochen rechtlich und tatsächlich möglich ist.

2. Bei der Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeit der Ausreise im konkreten Einzelfall handelt es sich um eine unselbständige, behördliche Verfahrenshandlung i.S. des § 56a Satz 1 SGG, die im Rahmen der Überprüfung der Sachentscheidung über den AsylbLG-Anspruch zu würdigen ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Leistungsausschluss, Dublinverfahren,
Normen: AsylbLG § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, SGG § 56a Satz 1
Auszüge:

[...]

34 Der Antragsteller dürfte nach Erlass des Bescheids vom 7.3.2025 zwar nicht mehr nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG, aber nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG zum leistungsberechtigten Personenkreis gehören, da die zunächst erteilte Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG mit Vollziehbarkeit der Abschiebeanordnung nach § 34a AsylG gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AsylG erloschen ist. Im BAMF-Bescheid vom 7.3.2025 wurde die Abschiebung nach Schweden auf Grundlage des § 34a AsylG angeordnet, die sofort vollziehbar ist (§ 34a Abs. 2 Satz 4 AsylG).

35 Der Antragsteller dürfte hingegen - entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin - zum maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des ursprünglichen Leistungsbescheides nicht nach § 1 Abs. 4 Nr. 2 AsylbLG von Leistungen ausgeschlossen gewesen sein.

36 Danach haben Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG deren Asylantrag durch eine Entscheidung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit § 31 Absatz 6 des Asylgesetzes als unzulässig abgelehnt wurde, für die eine Abschiebung nach § 34a Absatz 1 Satz 1 zweite Alternative des Asylgesetzes angeordnet wurde und für die nach der Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist, keinen Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz.

37 Vorliegend ist zwar der Asylantrag des Antragstellers durch eine Entscheidung des BAMF nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG als unzulässig abgelehnt worden und eine Abschiebung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 2. Alt. AsylG angeordnet worden.Diese ausländerrechtliche Entscheidung entfaltet Tatbestandswirkung für die Frage nach der Zugehörigkeit zum leistungsberechtigten Personenkreis [...].

38 Es dürfte jedoch an einer den Anforderungen des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG genügenden Feststellung zur rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeit der Ausreise durch das BAMF fehlen.

39 Gegenstand der Feststellung durch das BAMF dürfte sein, ob eine Ausreise innerhalb der nächsten zwei Wochen rechtlich und tatsächlich möglich ist. Der Prüfungsmaßstab ist damit ein anderer als der des § 34a AsylG [...], bei dem maßgeblich ist, ob eine Rückführung in allernächster Zeit (alsbald) auch möglich sein wird und ob ansonsten die technischen Details einer Überstellung des Drittstaatsangehörigen in den übernahmebereiten Staat geregelt sind [...].

40 Dass es sich hierbei um eine gesonderte, von § 34a AsylG zu unterscheidende Prüfung handelt, ergibt sich bereits aus dem Wortlaut der Norm, der die Feststellung neben der Anordnung nach § 34a AsylG, welche eine eigenständige Feststellung voraussetzt, nennt und keinen eigenen gesetzlichen Maßstab für die Prüfung vorgibt. Die Tatbestandsvoraussetzung ist mit der Einfügung des § 1 Abs. 4 AsylbLG mit Wirkung vom 31.10.2024 hinzugefügt worden. Sie war in Vorgängervorschrift des § 1a Abs. 7 AsylbLG i.d. Fassung vom 21.2.2024 nicht enthalten. Gegen einen eigenen Prüfungsmaßstab der Feststellung spricht auch nicht, dass die Änderung nach den Ausführungen in der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat lediglich klarstellenden Charakter haben soll, da bereits die Entscheidung über die Unzulässigkeit des BAMF die entsprechende Feststellung enthalten solle [...]. Sinn und Zweck der Vorschrift unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe legen vielmehr nahe, dass ein engerer Prüfungsmaßstab anzusetzen ist und bei der gesonderten Feststellung die leistungsrechtlichen Folgen des § 1 Abs. 4 AsylbLG als zeitlicher Maßstab heranzuziehen sind. Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen werden den Leistungsberechtigten eingeschränkte Hilfen längstens für einen Zeitraum von zwei Wochen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (§ 1 Abs. 4 Satz 3 AsylbLG). Der Umfang der eingeschränkten Leistungen ergibt sich aus § 1a Abs.1 und § 4 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 AsylbLG (§ 1 Abs. 4 Satz 4 AsylbLG). Zwar sollen die Leistungen nach dem AsylbLG insgesamt an die Grenze des zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz Notwendigen auch unter Berücksichtigung eines nur kurzen Aufenthalts gehen [...]. Eine Nachrangigkeit des deutschen Sozialleistungssystems, die einen vollständigen Ausschluss von existenzsichernden Leistungen zur Folge hat, kann jedoch in der Regel nur dann angenommen werden, wenn die eigenverantwortliche Selbsthilfe zumutbar und tatsächlich möglich ist [...]. Auch wenn die Vorschrift des § 1 Abs. 4 AsylbLG erkennbar an die Vorschriften des § 23 Abs. 3 Satz 3-6 und § 23 Abs. 3a SGB XII angelehnt ist [...], können Leistungsberechtigte nach dem AsylbLG anders als Unionsbürger jedoch gerade nicht ohne Weiteres freiwillig und selbständig in den zuständigen Mitgliedstaat ausreisen. Vielmehr ist das Verfahren nach der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 einzuhalten. Grundsätzlich handelt es sich zwar bei der freiwilligen Rückreise um eine nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 zulässige Überstellungsart. Die Wahl der Überstellungsart liegt jedoch im Ermessen des überstellenden Mitgliedstaates und hängt auch entscheidend von den Vorgaben des zuständigen Mitgliedstaates ab. Ein Rechtsanspruch des Asylbewerbers auf die freiwillige Ausreise besteht nicht. Selbst im Fall der freiwilligen Rückreise sind die notwendigen Verfahrensschritte zu durchlaufen, die z.B. das Einverständnis des zuständigen Mitgliedstaates, der zuständigen Ausländerbehörde und die Ausstellung der Laissez-Passer-Bescheinigung umfassen, was in der Regel einen Zeitraum von bis zu 12 Werktagen in Anspruch nimmt [...]. Diese Umstände sind daher im Rahmen einer gesonderten Feststellung zu überprüfen. Dem entsprechen die Ausführungen des BMI in seinem Schreiben an den Staatsrat der Behörde für Inneres und Sport Hamburg vom 7.2.2025, in dem ausgeführt wird, dass in den Dublin-Fällen, in denen Italien oder Griechenland zuständiger Mitgliedstaat ist, trotz Zustimmung zur Übernahme von vornherein zu erwarten sei, dass die anschließende Überstellung tatsächlich scheitern werde und die Bescheide daher derzeit keine Feststellungen der rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeit der Ausreise enthalten werden. Zudem mag eine erst in drei Wochen mögliche Rückführung zwar noch "in allernächster Zeit" im vorstehenden Sinne erfolgen, sie würde es allerdings nicht rechtfertigen, lediglich noch Überbrückungsleistungen für einen Zeitraum von nur zwei Wochen zu gewähren.

41 Bei der gesonderten Feststellung des BAMF über die rechtliche und tatsächliche Möglichkeit der Ausreise handelt es sich nicht um eine ausländerrechtliche Entscheidung, die Tatbestandswirkung für die vorliegende Prüfung der Leistungen nach dem AsylbLG entfaltet und entsprechend der sozialgerichtlichen Beurteilung entzogen ist. Vielmehr ist in der Feststellung eine unselbständige, behördliche Verfahrenshandlung zu sehen, die im Rahmen der Überprüfung der Sachentscheidung über den AsylbLG-Anspruch nach § 56a SGG zu würdigen ist. Dabei ist unschädlich, dass die Feststellung im Rahmen des Bescheids des BAMF durch eine andere Behörde [...] und ggf. als eigenständiger Verwaltungsakt erlassen wurde [...].

42 Die Feststellung im BAMF-Bescheid vom 7.3.2025 dürfte den dargelegten Maßstäben nicht genügen. Es ist zunächst nicht ersichtlich, dass bei der Feststellung der rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeit der Ausreise die konkreten den Antragsteller betreffenden Umstände des Einzelfalls in den Blick genommen wurden und die Möglichkeit die Ausreise in den nächsten 14 Tagen durchzuführen als Prüfungsmaßstab herangezogen wurden. Hieran bestehen vorliegend schon deswegen Zweifel, weil Schweden, als zuständiger Mitgliedstaat eine freiwillige Ausreise im Fall des Antragstellers ausgeschlossen hatte, der Antragsteller im Bescheid jedoch auf die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise verwiesen wird. Tatsächlich wurde die Rückführung auch erst am 24.3.2025 in die Wege geleitet. Dahinstehen kann, ob zu diesem Zeitpunkt eine Rückführung wegen Klageerhebung nach § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG aus rechtlichen Gründen nicht durchsetzbar war, denn eine erneute Feststellung des BAMF lag zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Es dürfte daher an einer Voraussetzung für die Anwendung des § 1 Abs. 4 AsylbLG gefehlt haben. [...]