Keine Leistungseinschränkung bei drohender Verletzung von Art. 3 EMRK:
Nicht in jedem Fall ist die Gewährung nur eingeschränkter Leistungen nach § 1a Abs. 4 AsylbLG bei Weiterwanderung zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union in Betracht zu ziehen. So kann eine afghanische Großfamilie (Eltern und sieben minderjährige Kinder), die in Griechenland internationalen Schutz erhalten hat, gleichwohl aber nach Deutschland weitergereist ist und hier einen weiteren Asylantrag stellt, Anspruch auf Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG haben, wenn aufgrund konkreter Umstände zu befürchten ist, dass ihr bei einer Rückkehr nach Griechenland soziale Verelendung und Obdachlosigkeit droht (Rn. 45).
(Amtliche Leitsätze)
[...]
35 Es besteht ein Anordnungsanspruch. Die Voraussetzungen des Anspruchs auf Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG liegen nach summarischer Prüfung vor.
36,37 Die Antragsteller zu 1) und 2) gehören zum leistungsberechtigten Personenkreis des § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG. Sie sind Ausländer, halten sich tatsächlich im Bundesgebiet auf und besitzen eine Aufenthaltsgestattung nach dem AsylG. Die letztgenannte ausländerrechtliche Entscheidung entfaltet Tatbestandswirkung für die Frage nach der Zugehörigkeit zum leistungsberechtigten Personenkreis des § 1 AsylbLG (BSG, Urteil vom 25. Juli 2024 - B 8 AY 7/23 R - juris Rn. 18). [...]
40 Der Senat hat durchgreifende Zweifel, ob die nach § 1a Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 AsylbLG geltenden Voraussetzungen für die Gewährung eingeschränkter Leistungen vorliegen.
41,42 Nach § 1a Abs. 4 Sätze 1, 2 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nrn. 1, 1a AsylbLG, denen bereits von einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationaler Schutz gewährt worden ist, nur reduzierte Leistungen gemäß § 1a Abs. 1 AsylbLG, wenn der internationale Schutz fortbesteht.
43 Der Sinn des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG liegt in der Begrenzung der Sekundärmigration insbesondere aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach Deutschland (Oppermann in: jurisPK-SGB XII, 4. Auflage, § 1a AsylbLG [Stand: 14. Januar 2025], Rn. 133). Nach dem Gesetzentwurf vom 31. Mai 2016 dient sie der Vervollständigung der Regelung nach § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG (BT-Drucksache 18/8615, S. 35), wonach eine Anspruchseinschränkung für bestimmte Fälle vorgesehen ist, in denen ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Bereits im Gesetzgebungsverfahren zu § 1a Abs. 4 AsylbLG in der ab dem 24. Oktober 2015 geltenden Fassung war gefordert worden, dass eine Leistungseinschränkung auch ("erst recht") bei Personen erfolgt, deren Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat durch Gewährung eines Schutzstatus bereits positiv abgeschlossen worden ist (BR-Drucksache 446/1/15, S. 7).
44 Für das Asylverfahren bestimmt § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG für die gleiche Sachlage, dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat.
45 § 1a Abs. 4 AsylbLG ist im Wege einer teleologisch-systematischen Reduktion auf die Fälle zu beschränken, in denen dem Leistungsempfänger die Rückkehr in das schutzgewährende Land rechtlich und tatsächlich möglich und zumutbar ist (Bayerisches LSG, Beschluss vom 9. März 2023 - L 8 AY 110/22 - juris Rn. 52; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 7. Februar 2018 - L 8 AY 23/17 B ER - juris Rn. 16-18). Die Anwendung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG ist zweckwidrig und insgesamt nicht gerechtfertigt, wenn trotz Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzungen der Norm in der Bundesrepublik Deutschland eine Sachentscheidung über den Antrag auf Zuerkennung einer Flüchtlingseigenschaft zu treffen ist, wenn also § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht greift. In einem solchen Fall trifft den Leistungsberechtigten keine Obliegenheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu begeben, in dem ihm (subsidiärer) Schutz zuerkannt worden ist (so LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 7. Februar 2018 - L 8 AY 23/17 B ER - juris Rn. 18; Adolph in: Adolph, SGB II, SGB XII, AsylbLG [Stand: Juni 2024], § 1a AsylbLG, Rn. 103).
46 Zum Asylanspruch der Antragsteller zu 1) und 2) fehlt bis heute - soweit ersichtlich - eine Entscheidung des BAMF, die für den Senat wohl Tatbestandswirkung hätte (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juli 2024 - B 8 AY 7/23 R - juris Rn. 18).
47,48 Es ist allerdings unstreitig, dass das BAMF von der ihm eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, wenn die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat die Antragsteller zu 1) und 2) der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta) aussetzen würde. Dies folgt schon aus dem klaren Wortlaut von Art. 3 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (ausdrücklich auch Europäischer Gerichtshof [EuGH], Urteil vom 18. Juni 2024 - C-753/22 - juris Rn. 52; Nuckelt in: BeckOK AuslR, 42. Auflage, Stand: 1. Juli 2024, AsylG § 29 Rn. 20, beck-online; siehe auch EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17, C-541/17 - beck-online).
49 Damit hat der Senat summarisch zu prüfen, ob unter den konkreten Umständen Gründe für die Annahme bestehen, dass die Antragsteller zu 1) und 2) in Griechenland der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt sein könnten (vgl. grundsätzlich EuGH, Urteil vom 5. April 2016 - C-404/15, C-659/15 PPU - juris Rn. 92, 94; BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2020 - 2 BvR 1845/18 - juris Rn. 46; bejahend konkret für Flüchtlinge in G. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. Januar 2022 - A 4 S 2443/21 - juris Rn. 21; Oberverwaltungsgericht [OVG] des Saarlands, Urteil vom 15. November 2022 - 2 A 81/22 - juris Rn. 20; OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23. November 2021 - OVG 3 B 53.19 - juris Rn. 20-23; zuletzt SG Karlsruhe, Beschluss vom 25. September 2024 - S 12 AY 2449/24 ER - juris Rn. 7 - 8 m.w.N.). Zu bejahen ist eine solche Situation auch im Fall extremer materieller Not, die Menschen in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-63/17 - juris Rn. 92-93).
50,51 Dabei hält der Senat eine Trennung der Eltern von ihren minderjährigen, teils sehr jungen Kindern nicht für zumutbar. Der Prognose, welche Gefahren einem Ausländer bei Rückkehr in den Drittstaat drohen, ist eine - zwar notwendig hypothetische, aber doch - realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen. Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach - obwohl das nationale Recht keinen "Familienabschiebungsschutz" kennt - für die Bildung der Prognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Drittstaat in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen (vgl. Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Urteil vom 24. April 2024 - 1 C 8/23 - juris Rn. 13). [...]