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SG Trier

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Zitieren als:
SG Trier, Beschluss vom 20.02.2025 - S 3 AY 4/25 ER - asyl.net: M33264
https://www.asyl.net/rsdb/m33264
Leitsatz:

Leistungsausschluss für Dublin-Rückkehrende verstößt gegen Europarecht: 

1. Allein mit der vom BAMF erlassenen Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylG und der Ablehnung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ist noch keine positive Feststellung über die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit einer Ausreise getroffen, wie es der Tatbestand des § 1 Abs. 4 AsylbLG verlangt. Der Leistungsausschluss des  § 1 Abs. 4 Nr. 2  AsylbLG erfordert die positive Feststellung des BAMF, dass eine Ausreise tatsächlich und rechtlich möglich ist.  

2. Es bestehen erhebliche Zweifel an der Europarechtskonformität des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG und einer Vereinbarkeit mit Art. 17 Richtlinie 2013/33 EU, wonach Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, Leistungen für einen angemessenen Lebensstandard gewährt werden müssen, soweit keine Ausnahmen des Art. 20 der Richtlinie 2013/33 EU vorliegen. Leistungen dürfen danach eingeschränkt oder entzogen werden, wenn Antragstellende gegen die Unterbringungszuweisung oder gegen die ihnen obliegenden Auskunfts- und Meldepflichten verstoßen haben. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Leistungsausschluss, Dublinverfahren,
Normen: AsylbLG § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, AsylG § 34a, Richtlinie 2013/33 EU Art. 17, Richtlinie 2013/33 EU Art. 20
Auszüge:

[...]

Gemessen hieran besteht zur Überzeugung des Gerichts sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund. Bei der gegebenen Sach- und Rechtslage wird das Begehren des Antragstellers auf Gewährung von Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG in der Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Erfolg haben. [...]

Der Antragsteller gehört gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG zum Kreis der nach dem Gesetz Leistungsberechtigten. Infolge der Ablehnung seines Asylantrags durch die Entscheidung des BAMF vom 29.11.2024 ist der Antragsteller vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer. Er ist auch hilfebedürftig [...], denn er verfügt, wie er in der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zur Gewährung von Prozesskostenhilfe versichert hat – die Antragsgegnerin hat keine Einkommens- und Vermögensabfrage durchgeführt – nicht über Einkommen und Vermögen.

Das Gericht hat erhebliche Zweifel daran, ob der Antragsteller gemäß § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG von Leistungen ausgeschlossen werden kann. Danach haben vollziehbar Ausreisepflichtige, deren Asylantrag durch eine Entscheidung des BAMF nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 31 Abs. 6 AsylG als unzulässig abgelehnt wurde, für die eine Abschiebung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 2. Altn AsylG angeordnet wurde und für die nach der Feststellung des BAMF die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, keinen Anspruch auf Leistungen nach dem AsylbLG, auch wenn die Entscheidung des BAMF noch nicht unanfechtbar ist.

Das Gericht kann bereits eine (positive) Feststellung des BAMF, dass die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, nicht erkennen. Das BAMF hat zwar festgestellt, dass keine Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegt und hat die Abschiebung nach § 34a Abs. 1 AsylG angeordnet. Dass damit auch die Feststellung durch das BAMF erfolgt, dass die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich ist, erscheint zweifelhaft. Das Gesetz unterscheidet zwischen den Abschiebeverboten und der Aussetzung der Abschiebung, weil tatsächliche und rechtliche Gründe diese unmöglich machen [...]. Trotz fehlendem Abschiebungsverbot kann die Abschiebung aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen unmöglich sein. Unbeschadet des Umstandes, dass Abschiebeverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG andere tatbestandliche Voraussetzungen normieren, als die tatsächliche und rechtliche Unmöglichkeit der Ausreise (vgl. insoweit auch § 60a Abs. 2 AufenthG, der das Tatbestandsmerkmal der tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeit normiert), fordert das Gesetz ausdrücklich eine positive Feststellung mit dem benannten Inhalt. Nach dem Wortlaut des Gesetzes soll eine ausdrückliche Feststellung des BAMF erfolgen, dass die Ausreise (auch) aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen möglich ist. Allein die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 AsylbG, die nach Satz 1 der Vorschrift erfolgt, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann, ersetzt diese Feststellung nicht. Andernfalls wäre § 1 Abs. 4 AsylbLG auch redundant, denn die Abschiebungsandrohung ist bereits Voraussetzung für den Leistungsausschluss. Für eine Absicht des Gesetzgebers, Tatbestandsmerkmale mehrfach in einer Norm aufzunehmen, hat das Gericht keine Anhaltspunkte. Die in § 1 Abs. 4 AsylbLG normierte Feststellung des BAMF versteht das Gericht daher als eigenständiges Tatbestandsmerkmal, das bisher erkennbar nicht vorliegt.

Darüber hinaus bestehen erhebliche Zweifel an der Europarechtskonformität des hier herangezogenen § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG, jedenfalls ist offen, ob die Regelung mit Art. 17 Richtlinie 2013/33 EU vereinbar ist [...].

Nach Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, sorgen die Mitgliedsstaaten dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet.

Der Antragsteller gehört auf Grund des von ihm gestellten Asylantrages, über den noch nicht endgültig entschieden ist, zu dem nach Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2013/33 EU berechtigten Personenkreis. In den Fällen, in denen der Asylbewerber (noch) nicht tatsächlich an einen anderen, als zuständig angesehenen Mitgliedsstaat überstellt ist, ist der Anwendungsbereich der Richtlinie offensichtlich eröffnet [...].

Der Umfang der zu gewährenden Leistungen bemisst sich auf der Grundlage eines Leistungsniveaus wie bei eigenen Staatsangehörigen. Zwar räumt Art. 17 Abs. 5 Satz 2 der Richtlinie 2013/33 EU den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit ein, Antragstellern auf internationalen Schutz eine weniger günstige Behandlung als eigenen Staatsangehörigen zuteilwerden zu lassen. Die Leistungen müssen aber einem angemessenen Lebensstandard entsprechen (Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33 EU). Dabei bemisst sich der Umfang von materiellen Leistungen in Form von Geldleistungen oder Gutscheinen durch die Mitgliedsstaaten, auf der Grundlage des Leistungsniveaus, das der betreffende Mitgliedsstaat nach Maßgabe der einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder nach den Gepflogenheiten anwendet, um eigenen Staatsangehörigen einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten (Art. 17 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33 EU). Erlaubt ist eine weniger günstige Behandlung im Vergleich mit eigenen Staatsangehörigen, insbesondere wenn materielle Unterstützung teilweise in Form von Sachleistungen gewährt wird oder wenn das, auf eigene Staatsangehörige anzuwendende Leistungsniveau darauf abzielt, einen Lebensstandard zu gewährleisten, der über dem nach dieser Richtlinie für Antragsteller vorgeschriebenen Lebensstandard liegt (Art. 17 Abs. 5 Satz 2 Richtlinie 2013/33 EU).

Eingeschränkt oder entzogen werden dürfen gewährte Leistungen im Rahmen der Aufnahme nach Maßgabe von Art. 20 der Richtlinie 2013/33 EU. Dass § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG diesem Maßstab abstrakt gerecht wird, jedenfalls ist nicht zu erkennen, dass die Voraussetzungen im konkreten Fall erfüllt werden. Der Antragsteller hat nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht gegen die Unterbringungszuweisung verstoßen oder ist seinen Auskunfts- und Meldepflichten nicht nachgekommen. Ebenso wenig hat er einen Folgeantrag nach Art. 2 Buchstabe q Richtlinie 2013/32 EU gestellt. Vielmehr hat der Antragsteller in Italien gerade keinen Asylantrag gestellt, so dass dieser auch nicht bestandskräftig abgelehnt ist, er hat einen solchen Antrag nicht ausdrücklich zurückgenommen und er ist auch nicht von der Asylbehörde abgelehnt worden, nachdem er ihn stillschweigend zurückgenommen hat. Damit fehlt es bereits an den tatbestandlichen Voraussetzungen nach Art. 20 Abs. 1 Richtlinie 2013/33 EU, die eine Normierung von Leistungseinschränkungen bzw. Entziehung rechtfertigen können.

Unabhängig von den oben aufgezeigten Zweifeln an der Europarechtskonformität von § 1 Abs. 4 AsylbLG ist die Frage der Europarechtskonformität von Leistungseinschränkungen nach dem AsylbLG unter Berücksichtigung des Vorlagebeschlusses des BSG jedenfalls als offen anzusehen. Das BSG hat dem EuGH durch Beschluss vom 25.07.2024 – B 8 AY 6/23 R – die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob eine Regelung eines Mitgliedstaats, die Antragstellern auf internationalen Schutz abhängig von ihrem Status als vollziehbar Ausreisepflichtige innerhalb der Überstellungsfrist nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ausschließlich einen Anspruch auf Unterkunft, Ernährung, Körper- und Gesundheitspflege und Behandlung im Krankheitsfall sowie nach den Umständen im Einzelfall Kleidung und Gebrauchs- und Verbrauchsgüter des Haushalts gewährt, das in Art. 17 Abs. 2 und Abs. 5 Richtlinie 2013/33/EU beschriebene Mindestniveau ab deckt. Die Frage nach der Vereinbarkeit mit Europarecht muss sich dann erst recht stellen, wenn nicht nur die Einschränkung von Leistungen, sondern wie hier ein Leistungsausschluss für den benannten Personenkreis, zu dem der Antragsteller gehört, normiert ist.

Die ernstlichen Zweifel jedenfalls an der Europarechtskonformität von § 1 Abs. 4 AsylbLG müssen im vorliegenden Fall im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung zur Gewährung effektiven vorläufigen Rechtsschutzes zu Gunsten des Antragstellers ausfallen und zu einer vorläufigen Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin führen [...]. Nur so kann vorliegend der Funktion der begehrten Leistungen als existenzsichernde [...] effektiv Rechnung getragen werden. [...]