Ausschluss der Flüchtlingseigenschaft wegen schwerer Straftaten:
Bei der Prüfung, ob eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, wegen des Begehens einer schweren nichtpolitischen Straftat von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, ist durch die Behörden und Gerichte zwingend zu berücksichtigen, ob die für die Begehung der Straftat verhängte Strafe bereits verbüßt wurde (Rn. 43).
(Leitsatz der Redaktion)
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Zur Vorlagefrage
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26 Somit möchte das vorlegende Gericht mit seiner Frage wissen, ob Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 18 der Charta dahin auszulegen ist, dass bei der Beurteilung der Frage, ob die Handlungen einer internationalen Schutz beantragenden Person, die im Übrigen die Kriterien für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, unter den in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Grund für den Ausschluss dieser Anerkennung fallen, die Behörden und gegebenenfalls die zuständigen Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats die Tatsache berücksichtigen müssen, dass diese Person die gegen sie wegen der von ihr begangenen Straftaten verhängte Strafe bereits verbüßt hat.
27 Gemäß Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 ist ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe zu der Annahme berechtigen, dass er eine schwere nicht politische Straftat außerhalb des Aufnahmelands begangen hat, bevor er als Flüchtling aufgenommen wurde. [...]
29 Da weder in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 noch in einer anderen Bestimmung dieser Richtlinie der Ausdruck "schwere Straftat" definiert wird, ist dieser entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen, wobei der Kontext, in dem er verwendet wird, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Juli 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Besonders schwere Straftat], C-402/22, EU:C:2023:543 Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
30 Als Erstes sollen gemäß dem Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 mit dem dort genannten Ausschlussgrund Handlungen geahndet werden, die in der Vergangenheit begangen wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C-57/09 und C-101/09, EU:C:2010:661, Rn. 103).
31 Nach dem gewöhnlichen Sinn der verwendeten Formulierung verweist das Wort "Straftat" zwar auf in der Vergangenheit – nämlich zum Zeitpunkt der Begehung der Straftat – verankerte tatsächliche Umstände, doch durch das Attribut "schwere" tritt ergänzend ein Beurteilungskriterium hinzu, das sich im Laufe der Zeit ändern kann. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass die Beurteilung der Schwere einer Straftat zum Zeitpunkt ihrer Begehung anders ausfällt als zum Zeitpunkt der Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz. [...]
36 Als Drittes besteht der den Ausschlussgründen der Richtlinie 2011/95 zugrunde liegenden Zweck darin, die Glaubwürdigkeit des durch die Richtlinie in Übereinstimmung mit der Genfer Flüchtlingskonvention vorgesehenen Schutzsystems zu erhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2010, B und D, C-57/09 und C-101/09, EU:C:2010:661, Rn. 115).
37 Insoweit verfolgt erstens Art. 12 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie sowohl das Ziel, von der Anerkennung als Flüchtling Personen auszuschließen, die als des damit verbundenen Schutzes unwürdig angesehen werden, als auch zu verhindern, dass diese Anerkennung es den Urhebern bestimmter schwerwiegender Straftaten ermöglicht, sich einer strafrechtlichen Verantwortung zu entziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, K. und H. F. [Aufenthaltsrecht und Vorwürfe von Kriegsverbrechen], C-331/16 und C-366/16, EU:C:2018:296, Rn. 50 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
38 Die Berücksichtigung des Umstands, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt, die Strafe verbüßt hat, zu der sie wegen von ihr begangener Handlungen verurteilt wurde, verstößt nicht gegen diese beiden Zielsetzungen. Zum einen kann der Ausschluss einer Person von der Anerkennung als Flüchtling, wenn diese die gegen sie wegen der in Rede stehenden Straftat verhängte Strafe bereits verbüßt hat, nicht durch das Ziel gerechtfertigt werden, zu vermeiden, dass sie sich der strafrechtlichen Verantwortung für diese Straftat entzieht. Zum anderen darf in Bezug auf das Ziel, Personen von der Anerkennung als Flüchtlinge auszuschließen, die als des damit verbundenen Schutzes unwürdig angesehen werden, die Begehung schwerwiegender Handlungen in einem bestimmten Zeitpunkt des Lebens einer Person nicht zwangsläufig dazu führen, dass diese Person für immer der Gewährung internationalen Schutzes unwürdig wird, ohne etwa deren mögliche Rehabilitierung zu berücksichtigen. [...]
43 Demnach ist die Tatsache, dass die internationalen Schutz beantragende Person ihre Strafe verbüßt hat, ein Aspekt, den die zuständige Behörde des betreffenden Mitgliedstaats bei der Prüfung sämtlicher besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalls zwingend zu berücksichtigen hat. [...]
45 Die Tatsache, dass die internationalen Schutz beantragende Person ihre Strafe verbüßt hat, ist nämlich nur einer von mehreren Umständen, die bei der Beurteilung der Frage zu berücksichtigen sind, ob diese Person unter den in dieser Vorschrift genannten Ausschlussgrund fällt. Die zuständige Behörde wird bei der Beurteilung der Schwere der fraglichen Straftat u. a. die Art der in Rede stehenden Handlung, die angedrohte und verhängte Strafe, die seit dem strafbaren Verhalten vergangene Zeit, das Verhalten des Betroffenen während dieser Zeit und die von ihm gegebenenfalls gezeigte Reue zu prüfen haben. [...]
47 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit Art. 18 der Charta dahin auszulegen ist, dass bei der Beurteilung der Frage, ob die Handlungen einer internationalen Schutz beantragenden Person, die im Übrigen die Kriterien für die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft erfüllt, unter den in Art. 12 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 genannten Grund für den Ausschluss dieser Anerkennung fallen, die Behörden und gegebenenfalls die zuständigen Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats die Tatsache berücksichtigen müssen, dass diese Person die gegen sie wegen der von ihr begangenen Straftaten verhängte Strafe bereits verbüßt hat, ohne dass dieser Umstand aber für sich genommen dem Ausschluss des Antragstellers von der Anerkennung als Flüchtling nach dieser Bestimmung entgegensteht.