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VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 10.04.2025 - 3 B 478/25 - asyl.net: M33276
https://www.asyl.net/rsdb/m33276
Leitsatz:

Anspruch auf Ausstellung einer Duldung bei Nichtbetreiben der Abschiebung:

1. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb einer förmlichen Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor.

2. Das bloße Fehlen konkreter Vollstreckungsbemühungen erfüllt für sich allein keinen der gesetzlich normierten Duldungstatbestände, sodass ohne das Hinzutreten weiterer Umstände nicht auf eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung geschlossen werden kann.

3. Die zuständige Ausländerbehörde hat bei der Entscheidung, ob sie eine Duldung erteilt, oder die Ausreisepflicht nach § 59 Abs. 1 Satz 4 AufenthG verlängert und eine entsprechende Bescheinigung ausstellt, eine Prognoseentscheidung über die Durchführbarkeit der Abschiebung zu treffen.

4. Kommt die Ausländerbehörde zu dem Ergebnis, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss ist, ist eine Duldung zu erteilen, wobei als zeitlicher Maßstab auf die in § 50 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vom 30. Juli 2004 (BGBl. I Seite 1950) enthaltene maximale Ausreisefrist von sechs Monaten zurückgegriffen werden kann.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Duldung, Duldungsbescheinigung, Ausreisefrist,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 4, AufenthG § 59 Abs. 1 S. 4
Auszüge:

[...]

1 Die Beschwerde des Antragstellers vom 5. März 2025 gegen die Ablehnung seines Antrags auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 27. Februar 2025 - 6 L 526/25.DA - ist zulässig, insbesondere nach §§ 146 Abs. 4, 147 VwGO statthaft. Sie hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. [...]

7 Die innerhalb der Frist des § 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO vorgelegte Beschwerdebegründung vom 18. März 2025 rechtfertigt keine Abänderung des angegriffenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts Darmstadt. [...]

9 Es fehlt an einem Anordnungsanspruch. Voraussetzung der Ausstellung einer Bescheinigung nach § 60a Abs. 4 AufenthG ist das Vorliegen einer Duldung. Diese Rechtsstellung hat ein Ausländer nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts inne, wenn ihm eine rechtswirksame Duldung erteilt worden ist, oder wenn er einen Rechtsanspruch auf Duldung hat [...]. Ein Rechtsanspruch auf Duldung ist jedenfalls dann ohne Weiteres ausreichend, wenn die Abschiebung im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist. Da die Behörde bei Vorliegen dieser Voraussetzungen verpflichtet ist, dem Ausländer eine Duldung von Amts wegen zu erteilen [...], kann es diesem nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie dieser Pflicht im Einzelfall trotz Vorliegens der Voraussetzungen nicht nachkommt und den Aufenthalt lediglich faktisch duldet [...]. Umgekehrt bedarf es im Falle einer schriftlich erteilten Duldung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 AufenthG) nicht zusätzlich eines materiellen Duldungsanspruchs [...].

10 Hat die Ausländerbehörde eine Duldung nicht erteilt, die Vollstreckung der Ausreisepflicht aber auch nicht betrieben, vermittelt ein solches Unterlassen allein keinen Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Zwar lässt die Systematik des Aufenthaltsgesetzes grundsätzlich keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt. Denn das Rechtsinstitut der Duldung soll dem Umstand Rechnung tragen, dass die Ausreisepflicht eines Ausländers nicht in allen Fällen ohne Verzögerung durchgesetzt werden kann und ihre Durchsetzung auf nicht absehbare Zeit unmöglich ist [...]. Das Gesetz geht davon aus, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts außerhalb einer förmlichen Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor [...]. Die Ausländerbehörde hat im Rahmen der Prüfung einer Aussetzung der Abschiebung nicht nur zu untersuchen, ob die Abschiebung des Ausländers überhaupt durchgeführt werden kann, sondern auch, innerhalb welchen Zeitraums eine solche möglich ist [...].

11 Das bloße Fehlen konkreter Vollstreckungsbemühungen erfüllt für sich allein indes keinen der gesetzlich normierten Duldungstatbestände. Ohne das Hinzutreten weiterer Umstände kann insbesondere nicht auf eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung geschlossen werden [...].

12 Die zuständige Ausländerbehörde hat bei der Entscheidung, ob sie eine Duldung erteilt, oder die Ausreisepflicht nach § 59 Abs. 1 Satz 4 AufenthG verlängert und eine entsprechende Bescheinigung ausstellt, eine Prognoseentscheidung über die Durchführbarkeit der Abschiebung zu treffen [...]. Mit dem Hinweis in § 59 Abs. 1 Satz 5 AufenthG, dass § 60a Abs. 2 AufenthG unberührt bleibt, wird das Spannungsverhältnis zwischen Verlängerung der Ausreisefrist und der Erteilung einer Duldung angesprochen. Der Gesetzgeber stellt durch diesen Hinweis sicher, dass die Behörde im Rahmen ihrer Prognoseentscheidung auch die Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG in Blick nimmt, ohne der Duldung damit einen Vorrang einzuräumen. Denn die Ausländerbehörde muss im Rahmen der Vorbereitung der Abschiebung grundsätzlich keine Maßnahmen ergreifen, die die Abschiebung erschweren (§ 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG) oder eine Verfestigung des Aufenthalts des Ausländers ermöglichen. Der Anwendungsbereich des § 59 Abs. 1 Satz 4 AufenthG endet indes, wenn die Prognoseentscheidung über die Durchführbarkeit der Abschiebung zum Ergebnis kommt, dass die Vollstreckung über einen längeren Zeitraum nicht möglich ist. Kommt die Ausländerbehörde zu dem Ergebnis, dass die Abschiebung nicht ohne Verzögerung durchgeführt werden kann oder der Zeitpunkt der Abschiebung ungewiss ist, ist eine Duldung zu erteilen [...]. Als zeitlicher Maßstab kann hier auf die in § 50 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vom 30. Juli 2004 (BGBl. I Seite 1950) enthaltene maximale Ausreisefrist von sechs Monaten zurückgegriffen werden, auch wenn diese vom Gesetzgeber in § 59 AufenthG nicht übernommen wurde. [...]