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EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 08.05.2025 - C-130/24 - YC gg. Deutschland - asyl.net: M33287
https://www.asyl.net/rsdb/m33287
Leitsatz:

Nachholung des Visumsverfahrens bei abgeleitetem Aufenthaltsrecht nicht mit Unionsrecht vereinbar: 

1. Art. 20 AEUV (Unionsbürgerschaft) ist so auszulegen, dass sich das abgeleitete Aufenthaltsrecht, das dem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf der Grundlage dieser Bestimmung zusteht, unmittelbar aus dem Unionsrecht ergibt. Es wird unabhängig von der Erteilung eines Aufenthaltstitels durch die zuständigen nationalen Behörden unmittelbar kraft Unionsrechts erworben. Der von den zuständigen nationalen Behörden erteilte Aufenthaltstitel hat nicht konstitutive, sondern deklaratorische Wirkung.

2. Das abgeleitete Aufenthaltsrecht nach Art. 20 AEUV entsteht nicht erst mit Antragstellung, sondern mit dem tatsächlichen Entstehen des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger (hier Zeitpunkt der Geburt des Kindes).

3. Art. 20 AEUV steht einer nationalen Regelung entgegen, nach der die Anerkennung eines solchen Aufenthaltsrechts davon abhängig gemacht wird, dass sich der Drittstaatsangehörige nachträglich ein nationales Visum beschaffen muss, insbesondere wenn dies faktisch zur Trennung von einem unionsangehörigen Kind führen würde oder der Unionsbürger gezwungen wäre, den Drittstaatsangehörigen zu begleiten und folglich ebenfalls das Unionsgebiet für einen Zeitraum von unbestimmter Dauer zu verlassen.

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Visumsverfahren, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen, EU-Staatsangehörige, Drittstaatsangehörige, Abhängigkeitsverhältnis, Unionsbürgerschaft, Unionsrecht,
Normen: AEUV Art. 20, AufenthG § 5 Abs. 2, AufenthG § 28 Abs. 1 Nr. 3, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

6 Am 25. September 2019 erteilte die Auslandsvertretung der Republik Polen in einem Drittstaat der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu Studienzwecken ein bis zum 23. September 2020 gültiges Visum für den längerfristigen Aufenthalt. [...]

9 Am 6. November 2020 forderte diese Stadt die Klägerin des Ausgangsverfahrens auf, das Staatsgebiet unverzüglich zu verlassen. Dieser Aufforderung wurde keine Folge geleistet [...].

10 Am 24. September 2021 brachte die Klägerin des Ausgangsverfahrens ein Kind zur Welt, das, abgeleitet von seinem Vater, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.

12 Am 12. April 2022 beantragte die Klägerin des Ausgangsverfahrens bei der Stadt Wuppertal die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der Personensorge.

14 Die Stadt Wuppertal vertritt die Auffassung, es sei ausgeschlossen, der Klägerin des Ausgangsverfahrens eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, da sie zwischen Dezember 2020 und Juni 2021 untergetaucht sei und damit den Straftatbestand von § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erfülle. Daraus folge ein Interesse nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG, sie aus dem Staatsgebiet auszuweisen, das der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehe und von dem nicht abgewichen werden könne.

15 Überdies setze die Erteilung eines Aufenthaltstitels die Einreise mit dem erforderlichen Visum voraus, woran es im vorliegenden Fall fehle. Außerdem sei es der Klägerin des Ausgangsverfahrens zumutbar, das deutsche Hoheitsgebiet zu verlassen, um in ihrem Herkunftsland ein Visumverfahren nachzuholen, da ein solches Erfordernis angesichts der kurzen Dauer des Verfahrens – von weniger als einem Monat – das Kindeswohl nicht gefährde. Schließlich lägen auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines aus Art. 20 AEUV abgeleiteten Aufenthaltsrechts nicht vor. Bei einer gemeinsamen Ausreise zur Durchführung des Visumverfahrens müsste das Kind, das nicht schulpflichtig sei, das Gebiet der Europäischen Union nämlich nur kurzfristig verlassen, so dass der Kernbestand des durch diese Bestimmung zuerkannten Rechts dadurch nicht beeinträchtigt würde. Im Übrigen sei eine Unterbrechung des Kontakts zwischen dem Kind und seinem Vater für einen Zeitraum von weniger als einem Monat hinnehmbar.

16 Mit Teilurteil vom 23. November 2023 gab das vorlegende Gericht der Stadt Wuppertal auf, der Klägerin des Ausgangsverfahrens eine ab dem Datum dieses Urteils gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG zum Zweck des Familiennachzugs zu erteilen.

17 Im Hinblick auf die Zeit vor diesem Datum (im Folgenden: in Rede stehender Zeitraum) ist dieses Gericht der Auffassung, dass das innerstaatliche Recht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die Klägerin des Ausgangsverfahrens entgegenstehe [...].

18 Folglich sei es im vorliegenden Fall von entscheidender Bedeutung, zu klären, ob in dem in Rede stehenden Zeitraum ein aus Art. 20 AEUV abgeleitetes Aufenthaltsrecht entstanden sei [...].

22 Insoweit hegt das vorlegende Gericht jedoch Zweifel. Es neigt zu der Auffassung, dass das Recht aus Art. 20 AEUV nicht unmittelbar kraft Unionsrechts entstehe, sondern erst durch die zuständigen nationalen Behörden konstitutiv zu verleihen bzw. zu gewähren sei. Insoweit stellt das vorlegende Gericht fest, dass der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung bestimmte Unterscheidungen im Hinblick darauf vornehme, wie unionsrechtliche Aufenthaltsrechte zur Entstehung gelangten. [...]

25 Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Hängt das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV davon ab, ob ein Visumsverfahren, welches von Gesetzes wegen für die Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels erforderlich ist, in zumutbarer Weise in einem kurzen, verlässlich zu begrenzendem Zeitraum nachgeholt werden kann?

2. Entsteht das Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV kraft Unionsrechts, so dass dieses durch die nationalen Behörden nur noch zu bescheinigen ist, oder ist ein solches Aufenthaltsrecht durch die nationalen Behörden konstitutiv zu gewähren?

3. Für den Fall, dass das Aufenthaltsrecht kraft Unionsrechts automatisch entsteht: Zu welchem Zeitpunkt entsteht das Recht?

4. Für den Fall, dass das Aufenthaltsrecht durch nationale Behörden zu gewähren ist: Zu welchem Zeitpunkt ist dieses rückwirkend zu gewähren? [...]

26 Mit seiner zweiten Frage, die als Erstes zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass sich das abgeleitete Aufenthaltsrecht, das einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf der Grundlage dieser Bestimmung zusteht, unmittelbar aus dem Unionsrecht ergibt, so dass dem auf dieser Grundlage von den zuständigen nationalen Behörden erteilten Aufenthaltstitel nicht die Natur eines Rechtsakts zukommt, der konstitutiv Rechte begründet. [...]

30 Sobald [...] feststeht, dass einem Drittstaatsangehörigen, der zur Familie eines Unionsbürgers gehört, kein Aufenthaltsrecht nach innerstaatlichem Recht oder abgeleitetem Unionsrecht gewährt werden kann, hat die Tatsache, dass zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das dazu führen würde, dass der Unionsbürger im Fall der Abschiebung seines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen gezwungen wäre, das Gebiet der Union zu verlassen, zur Folge, dass Art. 20 AEUV den betreffenden Mitgliedstaat grundsätzlich verpflichtet, dem Drittstaatsangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht zuzuerkennen [...].

31 Daraus folgt, dass sich das abgeleitete Aufenthaltsrecht, das einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, in ganz besonderen Sachverhalten – wie sie in den Rn. 27 bis 30 des vorliegenden Urteils beschrieben werden – gewährt wird, unmittelbar aus Art. 20 AEUV ergibt [...].

32 Folglich wird das abgeleitete Aufenthaltsrecht, das einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf der Grundlage von Art. 20 AEUV zusteht, unabhängig von der Erteilung eines Aufenthaltstitels durch die zuständigen nationalen Behörden unmittelbar kraft Unionsrechts erworben [...].

35 Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass sich das abgeleitete Aufenthaltsrecht, das einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf der Grundlage dieser Bestimmung zusteht, unmittelbar aus dem Unionsrecht ergibt, so dass dem auf dieser Grundlage von den zuständigen nationalen Behörden erteilten Aufenthaltstitel nicht die Natur eines Rechtsakts zukommt, der konstitutiv Rechte begründet. [...]

36 Mit seiner dritten Frage, die als Zweites zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass das abgeleitete Aufenthaltsrecht, das einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf der Grundlage dieser Bestimmung zusteht, zu dem Zeitpunkt entsteht, zu dem der Antrag auf Anerkennung eines solchen Aufenthaltsrechts gestellt wird.

37 Hierzu genügt die Feststellung, dass aus der in den Rn. 27 bis 30 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht, dass dieses Aufenthaltsrecht dem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, ab der Entstehung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ihm und diesem Unionsbürger zuzuerkennen ist (Urteil vom 8. Mai 2018, K. A. u.a. [Familienzusammenführung in Belgien], C-82/16, EU:C:2018:308, Rn. 89).

38 In einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden dürfte der Zeitpunkt der Entstehung des betreffenden Abhängigkeitsverhältnisses dem Zeitpunkt der Geburt des Kindes entsprechen. Es ist aber jedenfalls allein Sache der zuständigen nationalen Gerichte oder Behörden, anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls den genauen Zeitpunkt festzustellen, ab dem davon ausgegangen werden kann, dass ein solches Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger besteht.

39 Folglich ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass das abgeleitete Aufenthaltsrecht, das einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf der Grundlage dieser Bestimmung zusteht, nicht zu dem Zeitpunkt entsteht, zu dem der Antrag auf Anerkennung eines solchen Aufenthaltsrechts gestellt wird, sondern zum Zeitpunkt der Entstehung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger. [...]

40 Mit seiner ersten Frage, die als Drittes zu prüfen ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Anerkennung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts, das einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf der Grundlage dieser Bestimmung zusteht, von der Voraussetzung abhängig macht, dass sich dieser Angehörige eines Drittstaats nachträglich ein Visum in diesem Staat erteilen lassen muss. [...]

46 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Modalitäten der Umsetzung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts festzulegen, das einem Drittstaatsangehörigen in den ganz besonderen Sachverhalten, die in den Rn. 27 bis 30 des vorliegenden Urteils angeführt sind, nach Art. 20 AEUV zuzuerkennen ist, sofern diese Verfahrensmodalitäten die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung nicht beeinträchtigen, indem sie dazu führen, dass der Drittstaatsangehörige das Gebiet der Union als Ganzes verlassen muss und der Unionsbürger aufgrund des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ihm und dem Drittstaatsangehörigen de facto gezwungen wäre, diesen zu begleiten und folglich ebenfalls das Gebiet der Union zu verlassen […].

48 Dies ist bei einer nationalen Regelung der Fall, die die Anerkennung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts, das einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf der Grundlage von Art. 20 AEUV zusteht, von der Voraussetzung abhängig macht, dass sich dieser Angehörige eines Drittstaats nachträglich ein Visum in diesem Staat erteilen lässt.

49 Insoweit hat der Gerichtshof zwar bereits entschieden, dass die einem Drittstaatsangehörigen durch eine nationale Praxis auferlegte Verpflichtung, vor jedweder Prüfung des etwaigen Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und seinem Familienangehörigen, der Unionsbürger ist, das Unionsgebiet zu verlassen, um die Aufhebung oder die Aussetzung eines gegen ihn verhängten Einreiseverbots zu beantragen, die praktische Wirksamkeit von Art. 20 AEUV beeinträchtigt, wenn die Befolgung dieser Verpflichtung aufgrund des Bestehens eines Abhängigkeitsverhältnisses zwischen dem Drittstaatsangehörigen und dem Unionsbürger dazu führt, dass der Unionsbürger de facto gezwungen wäre, den Drittstaatsangehörigen zu begleiten und folglich ebenfalls das Unionsgebiet für einen Zeitraum zu verlassen, der von unbestimmter Dauer wäre […].

51 Diese Voraussetzung ist nämlich geeignet, den Wesensgehalt des durch das Unionsrecht zuerkannten abgeleiteten Aufenthaltsrechts eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers in den ganz besonderen Sachverhalten, die in den Rn. 27 bis 30 des vorliegenden Urteils angeführt sind, unmittelbar zu beeinträchtigen, da die Wahrnehmung eines solchen Aufenthaltsrechts zwangsläufig voraussetzt, dass der Drittstaatsangehörige in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats einreisen kann; folglich kann diese Voraussetzung auch dazu führen, dass dem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands der Rechte, die ihm sein Status verleiht, verwehrt wird, wenn sie ihn aufgrund des zwischen diesen Personen bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses de facto zwingt, das Gebiet der Union als Ganzes zu verlassen, um seinen Familienangehörigen – den der Voraussetzung unterliegenden Drittstaatsangehörigen – zu begleiten [...]

56 Folglich ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 20 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Anerkennung des abgeleiteten Aufenthaltsrechts, das einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers auf der Grundlage dieser Bestimmung zusteht, von der Voraussetzung abhängig macht, dass sich dieser Angehörige eines Drittstaats nachträglich ein Visum in diesem Staat erteilen lassen muss. [...]