Kein subsidiärer Schutz bei einer Vielzahl kleinere Straftaten:
Eine zum Ausschluss des subsidiären Schutzes führende Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG erfordert nicht zwingend bestimmte Straftaten eines besonderen Gewichts, sondern kann sich auch in einer besonderen Häufigkeit von Rechtsverstößen zeigen.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
25 1. Es kann offenbleiben, ob die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Zuerkennung subsidiären Schutzes hinsichtlich Syriens (noch) vorliegen, wie es der gefestigten Rechtsprechung des Senats bis zum Sturz des Assad-Regimes entsprach (vgl. Senatsurteile vom 04.05.2021 - A 4 S 468-470/21 -, Juris). Denn einem Erfolg der Klage steht entgegen, dass der Kläger den Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG verwirklicht. [...]
28 Soweit es um den Begriff der Gefahr geht, kann daher auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) RL 2011/95/EU zurückgegriffen werden. Diese erfordert, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält (vgl. EuGH, Urteil vom 06.07.2023, C-8/22, Juris Rn. 60). Primär ist nicht das Fehlverhalten in der Vergangenheit maßgeblich, sondern die zukünftige Gefährdung (vgl. Senatsbeschluss vom 21.01.2022 - A 4 S 108/22 -, Juris Rn. 10).
29 Umstritten ist, ob eine an begangenen Straftaten anknüpfende Gefahrenprognose eine bestimmte Schwere der Straftaten erfordert (bejahend etwa: Österreichischer Verfassungsgerichtshof, Urteil vom 13.12.2011 - U1907/10 - veröffentlicht unter www.ris.bka.gv.at; verneinend etwa: VG Freiburg, Urteil vom 21.10.2020 - 7 K 2047/20 -, Juris Rn. 51; offengelassen von OVG LSA, Beschluss vom 20.05.2021 - 2 M 25.21 -, Juris Rn. 17).
30 Der Senat hat bislang dazu tendiert, dass sich der Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG "wohl auch auf zu erwartende Straftaten von ‚gewissem Gewicht‘ beziehen muss" und insoweit auf die anderen Ausschlussgründe - Nr. 1 (Kriegsverbrechen), Nr. 2 (schwere Straftaten) und Nr. 3 (völkerrechtswidrige Handlungen) - Bezug genommen (vgl. Senatsbeschluss vom 21.01.2022 - A 4 S 108/22 -, Juris Rn. 9; sowohl Art. 17 Abs. 1 Buchst. b) als auch d) RL 2011/95/EU in den Blick nehmend BVerwG, Urteil vom 16.12.2021 - 1 C 60.20 -, Juris Rn. 44 zu § 53 Abs. 3b AufenthG: "aufgrund … in der Vergangenheit begangener schwerer Straftaten … eine (auch hinreichend schwere) Gefahr für die Allgemeinheit"). Allerdings hat seitdem der Europäische Gerichtshof hervorgehoben, dass der Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 AsylG bzw. Art. 17 Abs. 1 Buchst. d) RL 2011/95/EU alternativ zu dem des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG bzw. Art. 17 Abs. 1 Buchst. b) RL 2011/95/EU besteht (vgl. EuGH, Urteil vom 06.07.2023, C-8/22, Juris Rn. 37).
31 Letzterer dient dazu, Personen auszuschließen, die als des subsidiären Schutzes unwürdig angesehen werden, und ist nicht gefahren- oder präventionsabhängig konzipiert, sondern als dauerhaft wirkender Ausschlusstatbestand (vgl. Senatsurteil vom 25.02.2025 - A 4 S 1548/23 -, Juris Rn. 56), und erfordert keine Gefahrenprognose. Auch ist zu sehen, dass (nur) der sich auf den Flüchtlingsschutz beziehende Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) RL 2011/95/EU erfordert, dass ein Flüchtling eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 06.07.2023, C-402/22, Juris Rn. 35 dazu, dass die Anforderung an die Straftat über Art. 17 Abs. 1 Buchst. b) RL 2011/95/EU hinausgeht). Der Senat geht daher für die erste Variante des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AsylG - Gefahr für die Allgemeinheit - nicht mehr davon aus, dass die zu erwartenden Delikten im Zusammenhang mit Terrorismus, Tötungsdelikten, Drogen- oder Waffenhandel stehen (in diese Richtung noch Senatsbeschluss vom 21.01.2022 - A 4 S 108/22 -, Juris Rn. 9). Damit eine Gleichwertigkeit mit der zweiten Variante des Ausschlussgrundes ("Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland") besteht, ist zwar eine "hinreichend schwere" Gefahr zu fordern (vgl. BVerwG, Urteil vom 16.12.2021 - 1 C 60.20 -, Juris Rn. 44). Diese erfordert aber nicht zwingend bestimmte Straftaten eines besonderen Gewichts, sondern kann sich etwa auch in einer besonderen Häufigkeit von Rechtsverstößen zeigen.
32 b) Nach diesen Maßstäben geht von dem Kläger eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit aus, obwohl keine der von ihm begangenen Straftaten für sich genommen eine besondere Schwere aufwies und er insbesondere bislang "nur" wegen einfacher Körperverletzung verurteilt wurde. Der Kläger ist durch eine deutlich zweistellige Zahl an Straftaten aufgefallen, von deren Begehung ihn auch die wiederholte Verbüßung von Freiheitsstrafen nicht abgehalten hat. In einem Vermerk der "Clearingstelle MIT-BW" vom August 2023 heißt es demzufolge, dass der Kläger bei quartalsmäßiger Überprüfung der Einstufung seit dem dritten Quartal 2019 als Mehrfach- und Intensivtäter geführt werde. Einem analogen Verhaltensmuster folgend komme es zunächst zu Provokationen, daran anschließenden verbalen Auseinandersetzungen, welche schlussendlich in tätlichen Angriffen mündeten, bei denen der Kläger stets eine Bewaffnung (Schusswaffe, Messer, Schlagstock, Pfefferspray) mit sich führe und diese auch zum Einsatz bringe. Die Straftaten wiesen ein breites Spektrum auf in Form von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit, Betäubungsmittel-, Waffen- und zahlreichen Eigentumsdelikten, häufig verbunden mit Bedrohungen. Dies wirft die Frage auf, weshalb der Kläger bislang nie wegen
gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurde, zeigt aber ungeachtet dessen deutlich die von ihm ausgehende Gefahr. [...]