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OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 07.03.2025 - 2 LA 356/24 - asyl.net: M33327
https://www.asyl.net/rsdb/m33327
Leitsatz:

Arbeitnehmer*in im Sinne des Freizügigkeitsrechts: 

1. Für den Begriff des*der Arbeitnehmers*in kommt es auf die Ausübung einer tatsächlichen, weisungsgebundenen entgeltlichen Tätigkeit an. Besteht ein Arbeitsvertrag, ohne das die Beschäftigung tatsächlich  ausgeübt oder Entgelt gezahlt wird, ist eine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Freizügigkeitsrechts nicht begründet. 

2. Der leistungsrechtliche Begriff des Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III (Arbeitslosigkeit) stellt ebenso auf die tatsächlichen Verhältnisse ab. Die Beendigung oder Unterbrechung eines Beschäftigungsverhältnisses ist anzunehmen, wenn trotz eines bestehenden Arbeitsverhältnisses Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt tatsächlich nicht mehr erbracht werden. 

(Leitsätze der Redaktion, bezugnehmend auf: EuGH, Urt. v. 26.02.1992 – C-357/89 und BSG, Urt. v. 05.02.1998 – B 11 AL 55/97 R)

Schlagwörter: freizügigkeitsberechtigt, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Erwerbsminderung, Sicherung des Lebensunterhalts, Arbeitnehmerbegriff, Arbeitslosigkeit,
Normen: FreizügG/EU § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, FreizügG/EU § 4a, FreizügG/EU § 6, SGB III § 138 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Die Klägerin wendet sich gegen die Feststellung des Nichtbestehens eines Freizügigkeitsrechts als Unionsbürgerin [...].

Die 1956 geborene Klägerin ist niederländische Staatsangehörige. [...] Nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils ging sie vom 08.07.2013 bis zum 15.08.2013 einer geringfügigen Beschäftigung nach. Anschließend bezog sie Sozialleistungen. [...] Am 02.01.2019 nahm die Klägerin eine geringfügige Beschäftigung als Haushaltshilfe in einem Privathaushalt auf, die nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils bis zum 04.10.2019 andauerte. Parallel bestand vom 15.01.2019 bis zum 31.08.2019 ein befristetes Arbeitsverhältnis mit der … GmbH. [...] Die Klägerin bezog vom 18.01.2019 bis zum 11.02.2019 sowie vom 26.03.2019 bis zum 31.03.2019 Verletztengeld, weil sie infolge eines Arbeitsunfalls arbeitsunfähig war, sowie vom 02.04.2019 bis zum 04.04.2019 und vom 06.05.2019 bis zum 16.07.2020 Krankengeld. Vom 17.07.2020 bis zum 15.03.2021 erhielt die Klägerin Leistungen von der Bundesagentur für Arbeit. [...]

b) Die Begründung des Zulassungsantrags stellt die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass die Klägerin momentan nicht als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU), nicht schlüssig in Frage.

Die Klägerin trägt im Zulassungsverfahren vor, ihr Arbeitsverhältnis mit der … AG bestehe weiterhin fort. Die Krankenkasse habe sie lediglich nach dem Ende der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und dem Ablauf der maximalen Bezugsdauer des Krankengelds gemäß §§ 44, 48 SGB V "ausgesteuert", weshalb sie (die Klägerin) anschließend Arbeitslosengeld bei Arbeitsunfähigkeit nach § 145 SGB III beantragt und erhalten habe. Ihre Arbeitgeberin sei verpflichtet gewesen, sie (die Klägerin) zum Ende des Krankengeldbezugs sozialversicherungsrechtlich abzumelden; sie selbst sei verpflichtet gewesen, sich arbeitslos zu melden und damit zu signalisieren, dass sie das Direktionsrecht ihrer Arbeitgeberin nicht mehr anerkenne. Das arbeitsrechtliche Arbeitsverhältnis werde dadurch aber nicht berührt. Sie werde ihre Arbeit zum 01.12.2024 wiederaufnehmen und als Nachweise dafür die Meldung zur Sozialversicherung sowie eine Lohnabrechnung vorlegen.

Aus diesem Vortrag ergibt sich nicht schlüssig, dass die Klägerin Arbeitnehmerin im Sinne des FreizügG/EU ist.

aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist Arbeitnehmer im Sinne des Freizügigkeitsrechts, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält [...]. Arbeitnehmer ist jedoch nur, wer eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt [...]. Unerheblich ist die Art des Rechtsverhältnisses zwischen dem Arbeitnehmer und dem Arbeitgeber [...].

Nach diesen Maßstäben ist die Klägerin selbst dann, wenn man ihren Vortrag zur Fortdauer des Arbeitsverhältnisses im arbeitsrechtlichen Sinne als wahr unterstellt, derzeit keine Arbeitnehmerin im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Unstreitig hat sie spätestens seit Mai 2022 tatsächlich keine Tätigkeit mehr für die … AG ausgeübt und von dieser keine Vergütung mehr erhalten. Überdies gibt sie selbst an, dass sie sich arbeitslos gemeldet hat um zu signalisieren, "dass sie das Direktionsrecht ihres Arbeitgebers nicht mehr anerkennt" [...]. Wenn die Klägerin aber nicht bereit ist, Weisungen ihrer Arbeitgeberin Folge zu leisten, fehlt eine weitere für die Arbeitnehmereigenschaft konstitutive Voraussetzung. Soweit die Klägerin vorgetragen hat, ihre Arbeit zum 01.12.2024 wieder aufnehmen zu wollen, hat sie die angekündigten Nachweise darüber nicht vorgelegt.

Allein das Bestehen eines Arbeitsvertrags ohne eine tatsächlich ausgeübte Beschäftigung und ein tatsächlich gezahltes Entgelt begründet keine Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des Freizügigkeitsrechts [...], denn nach der [...] EuGH-Rechtsprechung kommt es für den freizügigkeitsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff nicht auf die Art des Rechtsverhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber an, sondern auf die Ausübung einer tatsächlichen und echten weisungsgebundenen entgeltlichen Tätigkeit.

bb) Nichts Anderes ergibt sich aus den sozialrechtlichen Regelungen über die Bezugsdauer des Krankengelds (§§ 44, 48 SGB V) und die anschließende Gewährung von Arbeitslosengeld nach § 145 SGB III bei Minderung der Leistungsfähigkeit. § 145 SGB III lässt von den Tatbestandsmerkmalen der Arbeitslosigkeit (§ 138 SGB III) lediglich die (objektive) Verfügbarkeit für die Arbeitsagentur (§ 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB III) und das Entfalten von Eigenbemühungen um Arbeit (§ 138 Abs. 1 Nr. 2 SGB III) entfallen. Die Übrigen Voraussetzungen des § 138 SGB III müssen hingegen erfüllt sein [...]. Daraus ergibt sich, dass auch Bezieher von Arbeitslosengeld nach § 145 SGB III die Voraussetzung des § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III erfüllen müssen, d.h. nicht in einem Beschäftigungsverhältnis stehen dürfen. Der leistungsrechtliche Begriff des Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des § 138 Abs. 1 Nr. 1 SGB III knüpft nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts an die tatsächlichen Verhältnisse an; hiernach ist eine Beendigung oder Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses anzunehmen, wenn trotz bestehenden Arbeitsverhältnisses Arbeitsleistung und Arbeitsentgelt tatsächlich nicht mehr erbracht werden [...]. Der Umstand, dass die Klägerin nach eigenem Vortrag Arbeitslosengeld aufgrund von § 145 SGB III bezieht, bestätigt mithin, dass sie keine weisungsgebundene entgeltliche Tätigkeit tatsächlich ausübt. Dafür, dass die Klägerin eine Beschäftigung ausübt, die wegen ihres geringen Umfangs für den leistungsrechtlichen Begriff des Beschäftigungsverhältnisses unerheblich ist (vgl. § 138 Abs. 3 SGB III), aber dennoch von ausreichendem Umfang ist für die Begründung der Arbeitnehmereigenschaft im freizügigkeitsrechtlichen Sinne [...], gibt es keine Anhaltspunkte. Die Klägerin hat nicht schlüssig dargelegt, dass sie momentan überhaupt irgendeiner entgeltlichen Beschäftigung tatsächlich nachgeht.

cc) Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass die Arbeitnehmereigenschaft der Klägerin nach dem Ende ihrer Tätigkeit bei der … AG gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU fortgedauert hat. Nach dieser Vorschrift bleibt die Arbeitnehmerfreizügigkeit bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall unberührt. Die Arbeitsunfähigkeit ist dann als vorübergehend anzusehen, wenn aufgrund einer ärztlichen Prognose mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in angemessener Zeit gerechnet werden kann [...]. Die Klägerin bestreitet im Zulassungsverfahren nicht die Feststellung des Verwaltungsgerichts, wonach sie schon während der Beschäftigung bei der … AG ab dem 01.10.2021 arbeitsunfähig erkrankt war. Sie trägt selbst vor, anschließend an die Lohnfortzahlung und den Krankengeldbezug Arbeitslosengeld wegen Minderung der Leistungsfähigkeit nach § 145 SGB III bezogen zu haben. Zu den Gründen der Erwerbsminderung und der zu prognostizierenden Dauer trägt die Klägerin im Zulassungsverfahren nichts vor. Ihre Behauptung, die Arbeit im Dezember 2024 wieder aufnehmen zu können, hat sie nicht belegt. Vor diesem Hintergrund ist eine nur vorübergehende Erwerbsminderung nicht dargelegt. [...]