Gewaltandrohung aus politischen oder religiösen Gründen muss nicht öffentlich erfolgen:
1. Eine nicht-öffentliche Drohung mit Gewaltanwendung zur Verfolgung religiöser Ziele erfüllt den Tatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 AufenthG (Ausweisungsinteresse u.a. bei Gewaltandrohung aus politischen oder religiösen Gründen); eine Öffentlichkeit der Äußerung ist hierfür nicht erforderlich.
2. Der Begriff der „Drohung mit Gewaltanwendung“ erfasst auch Fälle, in denen Einzelpersonen im schulischen Umfeld wiederholt mit religiös motivierten Tötungsfantasien konfrontiert werden und dadurch ein ernstzunehmendes Bedrohungsszenario erzeugt wird.
3. Ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit einer Ausweisung im Sinne des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO liegt nur vor, wenn eine begründete Gefahr besteht, dass sich die mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens verwirklicht.
4. Fehlen hinreichende tatsächliche Feststellungen zur Gefahrenprognose, kann die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung gegen die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1 I. Die am 19.03.2025 eingelegte und begründete Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes versagenden Beschluss des Verwaltungsgerichts, der am 13.03.2025 zugestellt worden ist, ist zulässig und begründet. Mit seinem fristgemäß (§ 146 Abs. 4 Satz 1 VwGO) dargelegten Gründen, auf deren Prüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO grundsätzlich beschränkt ist, zieht der Antragsteller die (Ergebnis-)Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung durchgreifend in Zweifel (dazu 2.). Die infolgedessen durchzuführende umfassende Prüfung, ob vorläufiger Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist, führt dazu, dass dem Begehren des Antrag - stellers auf Wiederherstellung bzw. Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs zu entsprechen ist (dazu 3.). [...]
5 a) Den vom Antragsteller am 10.02.2025 gestellten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht Sigmaringen mit dem angegriffenen Beschluss abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, hinsichtlich der Ausweisung sei im Rahmen der summarischen Prüfung offen, ob der Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik eine Gefährdung für die öffentliche Sicherheit oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik darstelle. Bezüglich der mit Strafbefehl vom 25.05.2024 abgeurteilten Diebstahldelikte dürfte zwar das vertypte schwere Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 10 AufenthG vorliegen. Es dürfte jedoch an der Wiederholungsgefahr fehlen, u.a. da es sich um Bagatellkriminalität handele, kein großer Schaden entstanden sei und der Antragsteller erstmals strafrechtlich in Erscheinung getreten sei sowie die Taten zugegeben und das Diebesgut bezahlt habe. Ob ein Ausweisungsinteresse aufgrund der dem Antragsteller von seinen Mitschülern vorgeworfenen Äußerungen vorliege, könne nach bisherigem Sachstand im Rahmen der gebotenen summarischen Prüfung nicht abschließend festgestellt werden und bedürfe weiterer Ermittlungen. Die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs seien daher derzeit offen. Die danach vorzunehmende Folgenabwägung falle unter Berücksichtigung
der Umstände des Einzelfalls zulasten der Interessen des Antragstellers aus. Denn seine Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet seien derart marginal, dass sie - trotz der Unsicherheiten hinsichtlich der Tatsachengrundlage der Ausweisung - von den erheblichen öffentlichen Interessen an seiner Ausweisung zurückgedrängt würden. [...]
6 b) Hiergegen macht der Antragsteller mit seiner Beschwerde u.a. geltend, dass nach der gesetzlichen Konzeption der Rechtsbehelf gegen die Ausweisungsverfügung aufschiebende Wirkung habe und daher bei einem "non liquet" sein Suspensivinteresse überwiege. Der Sofortvollzug sei ohne valide Tatsachengrundlage verfügt worden, da im Zeitpunkt der Verfügung nur eine kurze E-Mail vorgelegen habe und die nachfolgenden Ermittlungen durch die Polizei jedenfalls nicht widerspruchsfrei zur E-Mail an den Antragsgegner seien und auch bislang nicht weiter hätten hinterfragt werden können. Im Falle einer Abschiebung habe er weder die Möglichkeit, während der Geltungsdauer seiner Aufenthaltserlaubnis einen neuen Ausbildungsplatz zu finden und seine Ausbildung fortzusetzen, noch - jedenfalls auf lange Sicht hin - wieder nach Deutschland einzureisen. Außerdem lasse keine der Aussagen der von den Kriminalbeamten vernommenen Zeugen erkennen, wann die behaupteten Äußerungen des Antragstellers gefallen sein sollten.
7 c) Mit diesem Vorbringen wird die tragende Begründung des angegriffenen Beschlusses durchgreifend erschüttert.
8 § 80 Abs. 1 VwGO sieht als Ausprägung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG für den Regelfall die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage vor. Soll dementgegen ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit einer Verfügung angeordnet werden, ist ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt. Hierfür bedarf es auf Tatsachen gestützter Feststellungen zu einer begründeten Besorgnis, dass sich die vom Antragsteller ausgehende, mit der Ausweisung bekämpfte Gefahr bereits vor Abschlussdes Hauptsacheverfahrens realisieren werde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 -, juris Rn. 29 f.).
9 Mit dem Beschwerdevorbringen greift der Antragsteller den Beschluss des Verwaltungsgerichts erfolgreich an. Denn das Verwaltungsgericht hat es unterlassen, eine auf Tatsachen gestützte Feststellung zur begründeten Besorgnis der Realisierung einer vom Antragsteller ausgehenden Gefahr zu treffen. Es hat vielmehr ausgeführt, dass eine verlässliche Feststellung des Sachverhalts ohne Anhörung des Antragstellers und Vernehmung der Zeugen nicht möglich sei, ohne die naheliegende Konsequenz zu ziehen, diese im Rahmen einer mündlichen Verhandlung durchzuführen. Weiter ist das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gekommen, dass es keine abschließende Gefahrenprognose vornehmen könne, wobei es insbesondere davon ausgeht, dass die Frage, ob vom Antragsteller die Gefahr ausgeht, er könnte die ihm vorgeworfenen Drohungen umsetzen, erst nach "umfassender Beweiserhebung im Widerspruchs- bzw. Hauptsacheverfahren" zu beantworten sei. Damit fehlt es an jeder verlässlichen Tatsachenfeststellung, so dass die dennoch gezogene Schlussfolgerung, das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug der Ausweisung wiege schwer, den Anforderungen aus Art. 19 Abs. 4 GG nicht gerecht wird. [...]
55 (4) Die Drohung mit Gewaltanwendung musste nicht öffentlich erfolgen, um von § 54 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 AufenthG erfasst zu sein.
56 Der Aufruf zu Gewalttätigkeiten in § 54 Abs. 1 Nr. 4 Var. 2 AufenthG muss öffentlich stattfinden, was für diese Variante der Vorschrift anzunehmen ist, wenn er für eine größere oder unbestimmte Anzahl von Menschen bestimmt und wahrnehmbar ist (vgl. Fleuß in: BeckOK AuslR, § 54 AufenthG Rn. 155 <Stand: 10/2024>). Dies wurde etwa bejaht für die Predigten eines Imans in einer öffentlich zugänglichen Moschee (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 18.09.2024 - 2 LB 316/22 -, juris Rn. 124).
57 Den genannten, voraussichtlich als Drohungen einzustufenden Äußerungen des Antragstellers fehlt es im Vergleich dazu an der wahrnehmbaren Adressierung einer größeren oder unbestimmten Anzahl von Menschen und damit an der "Öffentlichkeit". Denn ausweislich der Protokolle der Zeugenvernehmungen in der Akte der Staatsanwaltschaft hat sich der Antragsteller, soweit erkennbar, mit seinen Aussagen lediglich an einzelne, allenfalls einige wenige seiner Mitschüler gewandt (vgl. etwa Vernehmung des Zeugen …..., Akte StA, S. 18).
58 Ob sich das Tatbestandsmerkmal "öffentlich" nicht nur auf den Aufruf zur Gewaltanwendung (§ 54 Abs. 1 Nr. 4 Var. 2 AufenthG), sondern auch auf die Drohung mit einer solchen (§ 54 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 AufenthG) bezieht, ist strittig (dafür Cziersky-Reis in: NK-AuslR, 3. Aufl. 2023, § 54 AufenthG Rn. 37; wohl auch Bergmann/Lehrian/Putzar-Sattler in: Huber/Mantel, AufenthG/AsylG, 4. Aufl. 2025, § 54 AufenthG Rn. 16; dagegen Senge in: Erbs/Kohlhaas/Hadamitzky, § 54 AufenthG Rn. 7 <Stand: 1/2025>; Hailbronner in: Hailbronner, AuslR, § 54 AufenthG, Rn. 90 <Stand 1/2025>; Bauer in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 15. Aufl. 2025, § 54 AufenthG Rn. 87; Neidhardt in: HTK-AuslR, § 54 AufenthG, Abs. 1 Nr. 4 Rn. 12 <Stand: 2/2022>).
59 Die Auslegung der Vorschrift nach dem Wortlaut gibt zur Beantwortung dieser Frage keinen eindeutigen Aufschluss, da das Wort "öffentlich" zwar bei § 54 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 AufenthG nicht eigens aufgeführt ist, dennoch aber gleichermaßen auf den Aufruf zur Gewaltanwendung und auf die Drohung bezogen oder aber im Sinne einer Beiordnung ("oder…oder") allein zu § 54 Abs. 1 Nr. 4 Var. 2 AufenthG gehörig angesehen werden kann. Auch eine systematische Auslegung, die § 54 Abs. 1 Nr. 4 Var. 1 AufenthG in den Blick nimmt, führt nicht weiter, weil der Umstand, dass die dort geregelte Beteiligung an Gewalttätigkeiten nicht öffentlich stattfinden muss, einerseits so gelesen werden kann, dass das Erfordernis der Öffentlichkeit ausdrücklich vorgesehen sein muss, andererseits die Stellung der Variante 3 des § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG hinter der Variante 2, wie zum Wortlaut gesehen, dennoch den Bezug der Voraussetzung der Öffentlichkeit auch auf Variante 3 zulässt. In historischer Sicht ist die Vorschrift des früheren § 54 Nr. 5a AufenthG a.F., aus dem einige Tatbestände in § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG aufgegriffen wurden (vgl. Hoppe in: Dörig/Hocks, MAH Migrations- und Integrationsrecht, 3. Aufl. 2024, § 7 Rn. 98) und der in Bezug auf die hier interessierende Passage in gleicher Weise formuliert war ("an Gewalttätigkeiten beteiligt oder öffentlich zur Gewaltanwendung aufruft oder mit Gewaltanwendung droht"), erst im Vermittlungsausschuss und daher ohne weitere Gesetzesbegründung als Tatbestandsvoraussetzung für eine Regelausweisung in das Aufenthaltsgesetz eingefügt worden. Ein entsprechender Tatbestand war aber schon im vorangehenden Ausländerrecht enthalten (§ 47 Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG i.d.F. des Terrorismusbekämpfungsgesetzes vom 09.01.2002, zuvor § 46 Nr. 1 AuslG 1990). Daher können die Gesetzesbegründungen der Vorläufervorschriften zur Auslegung herangezogen werden (vgl. zu § 54 Nr. 5a AufenthG a.F. OVG Bremen, Beschluss vom 20.06.2005 - 1 B 128/05 -, juris Rn. 17). Auch zu § 8 Abs. 1 Nr. 5 AuslG 1990, mit dem die Formulierung erstmals mit Erlass des Terrorismusbekämpfungsgesetzes vom 09.01.2002 (BGBl. I, S. 361; Bundestag, DrS 14/7386, S. 9) in das Gesetz Einzug hielt, ergibt sich allerdings aus den Gesetzesmaterialien nichts Erhellendes zu der Frage, ob die Drohung öffentlich erfolgen muss (BR-Drs. 920/01, S. 127 ff.; BT-Drs. 14/7386, S. 54, BT-Drs. 14/7864, S. 6). Nach ihrem Zweck zielt die Vorschrift
des § 54 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG auf die Abwehr von Bestrebungen, politische oder religiöse Ziele nicht allein mit friedlichen Mitteln zu verfolgen, und soll nach dem Willen des Gesetzgebers Ausländer erfassen, die im politischen oder im religiös-politischen Spektrum agieren (BT-Drs. 18/4097, 51; OVG Bremen, Urteil vom 18.09.2024 - 2 LB 316/22 -, juris Rn. 121). Mit der gesonderten Normierung macht der Gesetzgeber deutlich, dass die Beteiligung an Gewalttätigkeiten, der öffentliche Aufruf dazu oder die Drohung damit als besonders gefährlich eingestuft werden, wenn die Verhaltensweisen politischen oder religiösen Zielen dienen (vgl. Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, § 54 AufenthG, Rn. 88). Die besondere Gefährlichkeit erwächst also gerade aus dieser Zweckbestimmung (Bauer in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 15. Aufl. 2025, § 54 AufenthG Rn. 85).
60 Diesen Zweck des Gesetzgebers zugrunde gelegt, muss die Drohung mit Gewaltanwendung nicht öffentlich erfolgen. Denn bereits die nicht öffentliche Drohung gegen Einzelpersonen, wie sie im konkreten Einzelfall dem Antragsteller vorgeworfen wird, weist wegen ihrer religiösen Zielrichtung eine besondere Gefährlichkeit auf, so dass die teleologische Auslegung zu dem vom Wortlaut gedeckten Verständnis führt, dass die nicht-öffentliche Drohung das Ausweisungsinteresse erfüllt.
61 Die Drohung mit Gewaltanwendung muss folglich nicht öffentlich erfolgen, um von § 54 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 AufenthG erfasst zu sein. [...]