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OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 09.05.2025 - 11 A 1756/24.A - asyl.net: M33366
https://www.asyl.net/rsdb/m33366
Leitsatz:

Unterbrechung der Überstellungsfrist auch bei praktischer Unmöglichkeit der Überstellung: 

1. Auch eine gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung unter Verweis auf die praktische Undurchführbarkeit der Überstellung führt zur Unterbrechung der Überstellungsfrist nach der Dublin III-VO. Die Unterbrechung der Überstellungsfristen ist in Fällen der rechtlichen Unmöglichkeit gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO (Rechtsmittel) ausdrücklich vorgesehen. 

2. Die Aussetzung von Überstellungen durch die Italienische Republik führt nicht dazu, dass das durch Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO eröffnete Selbsteintrittsermessen zu einer Pflicht zum Selbsteintritt verdichtet wird. Eine Verpflichtung zum Selbsteintritt kann allenfalls unter außergewöhnlichen und schwerwiegenden Umständen eintreten. 

3. Allein die Tatsache, dass Italien Überstellungen aussetzt, begründet weder ein Zuständigkeitswechsel noch die Rechtswidrigkeit einer Abschiebungsanordnung. Die Erklärung zur Aussetzung der Überstellungsentscheidung seitens Italien betrifft das Überstellungsverfahren, begründet allein aber kein Abschiebungshindernis. 

4. Bei nichtvulnerablen – auch weiblichen – Asylsuchenden in Italien lassen sich derzeit keine systemischen Schwachstellen feststellen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Überstellungsfrist, systemische Mängel, Selbsteintritt
Normen: Dublin III-VO Art. 27 Abs. 3, Dublin III-VO Art. 17 Abs. 1 Satz 1, Dublin III-VO Art. 29 Abs. 2, Dublin III-VO rt. 3 Abs. 2 Unterabs. 2, AsylG § 34a Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Die Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

2. Die Zuständigkeit ist nicht nach Art. 29 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO wegen Verstreichens der Überstellungsfrist auf die Beklagte übergegangen. Nach dieser Vorschrift erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn dieser gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. Um einen solchen Antrag handelte es sich bei dem Antrag der Klägerin auf einstweiligen Rechtsschutz, dem das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 2. Januar 2024 stattgegeben hat. Dieser hatte zur Folge, dass die Überstellungsfrist unterbrochen wurde (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 – 1 C 15.15 –, Buchholz 451.902 Europ Ausländer- u Asylrecht Nr. 83 = juris, Rn. 11 f.).

Nichts anderes ergibt sich daraus, dass das Verwaltungsgericht dem Eilantrag allein deshalb stattgegeben hat, weil eine Überstellung der Klägerin aus praktischen Gründen unmöglich gewesen sei.

Insbesondere folgt aus den Urteilen des EuGH vom 22. September 2022 (C-245/21) und vom 12. Januar 2023 (C-323/21 bis C-325/21) nicht, dass die Überstellungsfrist in Fällen, in denen einem Antrag auf gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit der Begründung stattgegeben wird, die Überstellung sei praktisch unmöglich, nicht unterbrochen würde.

Nach der Rechtsprechung des EuGH ist zwar die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, nicht geeignet, die Unterbrechung oder Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO bezeichneten Überstellungsfrist zu rechtfertigen (vgl. EuGH, Urteil vom 22. September 2022 – C-245/21 –, NVwZ 2022, 1616 = juris, Rn. 65, sowie Urteil vom 12. Januar 2023 - C-323/21 -, juris, Rn. 69).

Der Fall einer gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines gegen eine Überstellungsentscheidung gerichteten Rechtsbehelfs stellt jedoch keinen Fall praktischer Unmöglichkeit dar, sondern eine - in Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO ausdrücklich vorgesehene - rechtliche Unmöglichkeit der Überstellung (so auch Hamb. OVG, Beschluss vom 22. Juli 2024 - 5 Bf 87/24.AZ -, juris, Rn. 47).

Auch der EuGH geht während der Dauer der aufschiebenden Wirkung eines gegen eine Überstellungsentscheidung eingelegten Rechtsbehelfs davon aus, dass es unmöglich ist, die Überstellung vorzunehmen, weshalb die hierzu vorgesehene Frist in diesem Fall erst zu laufen beginnt, wenn grundsätzlich vereinbart ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird, und wenn lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben, also ab dem Zeitpunkt, zu dem die aufschiebende Wirkung endet (vgl. EuGH, Urteil vom 13. September 2017 - C-60/16 -, juris, Rn. 55, zu der Frist des Art. 28 Abs. 3 Dublin III-VO unter Verweis auf das Urteil vom 29. Januar 2009 - C-19/08 - (Petrosian), juris, Rn. 46).

Dies gilt unabhängig von der Begründung des die aufschiebende Wirkung anordnenden Beschlusses (vgl. Hamb. OVG, Beschluss vom 22. Juli 2024 - 5 Bf 87/24.AZ -, juris, Rn. 25).

Soweit der EuGH im Zusammenhang mit einer behördlichen Aussetzungsentscheidung ausführt, dass der Unionsgesetzgeber nicht der Ansicht gewesen sei, dass sich die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung bezeichneten Überstellungsfrist eigne (vgl. EuGH, Urteil vom 22. September 2022 – C-245/21 –, NVwZ 2022, 1616 = juris, Rn. 65), lässt sich dies nicht auf die gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung übertragen. Den nationalen Behörden soll es nicht ermöglicht werden, im Wege der allein auf praktische Gründe gestützten Aussetzungsentscheidung – ggf. mehrfach – eine Unterbrechung der Überstellungsfrist herbeizuführen und dieser damit die Wirksamkeit zu nehmen. Eine entsprechende Gefahr sieht der EuGH vor allem darin begründet, dass solche Entscheidungen – anders als gerichtliche Anordnungen der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs – von der Behörde jederzeit widerrufen werden könnten (vgl. EuGH, Urteil vom 22. September 2022 – C-245/21 –, NVwZ 2022, 1616 = juris, Rn. 64; so auch Hamb. OVG, Beschluss vom 22. Juli 2024 – 5 Bf 87/24.AZ –, juris, Rn. 38).

Anderes soll hingegen für den gerichtlichen (Eil-)Rechtsschutz gelten. Diesbezüglich führt der EuGH aus, dass der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht gehabt habe, den gerichtlichen Schutz der betroffenen Personen dem Erfordernis der zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zu opfern, und im Gegenteil die Verfahrensgarantien, die diesen Personen im Rahmen des vom Unionsgesetzgeber geschaffenen Systems zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats (Dublin-System) gewährt werden, mit dieser Verordnung erheblich weiterentwickelt habe (vgl. EuGH, Urteil vom 22. September 2022 – C-245/21 –, NVwZ 2022, 1616 = juris, Rn. 60).

Da der EuGH damit ersichtlich davon ausgeht, dass gerichtlicher Schutz einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen darf, kann die zitierte Entscheidung nur dahingehend verstanden werden, dass der Gerichtshof es gerade nicht als geboten ansieht, in Fällen der gerichtlichen Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung die nationalen Gerichte durch ein Fortlaufen der Überstellungsfrist dazu zu zwingen, innerhalb eines sechsmonatigen Zeitraums über den (Hauptsache-) Rechtsbehelf zu entscheiden bzw. die Behörden zur fristgerechten Vollziehung einer Überstellungsentscheidung zu zwingen und die gerichtlich angeordnete aufschiebende Wirkung zu ignorieren (vgl. Hamb. OVG, Beschluss vom 22. Juli 2024 – 5 Bf 87/24.AZ –, juris, Rn. 41).

Insofern bleibt es beim Grundsatz, dass jede Entscheidung eines nationalen Gerichts, mit dem die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen eine auf den Bestimmungen der Dublin-III-VO beruhende Überstellungsentscheidung angeordnet wird, geeignet ist, den Lauf einer in der Dublin-III-VO normierten Überstellungsfrist zu unterbrechen, ohne dass es auf die dafür vom nationalen Gericht herangezogenen Gründe ankäme (vgl. ebenso Hamb. OVG, Beschluss vom 22. Juli 2024 – 5 Bf 87/24.AZ –, juris, Rn. 25). [...]

3. Die Beklagte ist auch nicht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO für den Asylantrag der Klägerin zuständig geworden. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat vorgenommen werden kann. [...]

a) Das Vorliegen derartiger systemischer Schwachstellen kann nicht allein deshalb vermutet werden, weil die Italienische Republik als der zuständige Mitgliedstaat einseitig angekündigt hat, dass alle Überstellungen von Personen, die internationalen Schutz beantragen, in sein Hoheitsgebiet und damit die Verfahren zur Aufnahme und Wiederaufnahme dieser Antragsteller ausgesetzt werden. Vielmehr kann das Vorliegen solcher systemischer Schwachstellen und einer solchen Gefahr nur nach einer konkreten Prüfung festgestellt werden, die auf objektiven, zuverlässigen, genauen und gebührend aktualisierten Angaben beruht (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2024 – C-185/24 und C-189/24 –, juris, Rn. 40; BVerwG, Beschluss vom 13. November 2023 – 1 B 38.23 –, juris, Rn. 15; a. A. noch OVG NRW, Beschluss vom 10. Juli 2023 – 11 A 142/22.A –, juris, Rn. 48).

b) Eine solche Prüfung ergibt in Bezug auf die Klägerin Folgendes:

Im Allgemeinen lassen sich bei den Aufnahme- und Lebensbedingungen der Personengruppe der nichtvulnerablen – auch weiblichen – Asylsuchenden in Italien aktuell keine systemischen Schwachstellen i. S. v. Art. 3 Unterabs. 2 Dublin III-VO feststellen. [...]

4. Schließlich ist die Zuständigkeit der Italienischen Republik für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin auch nicht gemäß Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Weder hat die Beklagte eine Entscheidung zum Selbsteintritt getroffen, noch ist sie verpflichtet, dies zu tun. [...]

Dieses - weite - Ermessen ist nicht aufgrund der Ankündigung der Aussetzung von Überstellungen durch die Italienische Republik zu einer Pflicht zum Selbsteintritt reduziert (a. A. vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 2. Mai 2024 – 12 K 7152/23.A –, juris, Rn. 24; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2023 – 8 K 1679/20.A –, juris, Rn. 61; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 28. April 2025 - 1a K 3252/23.A - (n. v.)).

Angesichts des dargestellten weiten Ermessensspielraums kann eine Verdichtung auf eine Verpflichtung zum Selbsteintritt nämlich allenfalls unter außergewöhnlichen und schwerwiegenden Umständen eintreten (vgl. Bay. VGH, Urteil vom 11. Juli 2024 - 24 B 24.50010 -, juris, Rn. 37).

Derartige Umstände liegen nicht allein darin, dass eine Überstellung aufgrund einer Weigerung des zuständigen Mitgliedstaates voraussichtlich innerhalb der Überstellungsfrist nicht möglich sein wird (a. A. in einem anders gelagerten Fall OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2017 – 11 A 1966/15.A –, juris, Rn. 7; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 - A 11 S 974/16 -, juris, Rn. 44).

Eine solche Verzögerung begründet für sich genommen insbesondere keine Verletzung des Art. 4 GrCh (vgl. Bay. VGH, Urteil vom 11. Juli 2024 – 24 B 24.50010 –, juris, Rn. 25).

Die Dublin III-VO sieht selbst in Art. 29 Abs. 1 die Überstellungsfrist von sechs Monaten vor und bezieht sich hierbei ausdrücklich auf die praktische Möglichkeit der Überstellung. Erst wenn die Überstellung innerhalb dieser Frist nicht möglich ist, geht die Zuständigkeit nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Die Dublin III-VO selbst gesteht den Mitgliedstaaten somit - auch in Fällen praktischer Schwierigkeiten der Überstellung - einen Zeitraum von sechs Monaten zu, um die Überstellung vorzunehmen. Dieses System kann nicht durch die Annahme einer Verpflichtung zum Selbsteintritt bereits vor Ablauf dieser Zeit ausgehebelt werden. Es handelt sich insoweit auch nicht um die Situation eines "refugee in orbit". Die Dublin III-VO mutet vielmehr selbst dem Asylsuchenden mit der Überstellungsfrist eine - ggf. um die Dauer eines Rechtsbehelfsverfahrens verlängerte (vgl. Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO) - Phase der Ungewissheit zu, in der eine Überstellung in den zu diesem Zeitpunkt (noch) zuständigen Mitgliedstaat nicht erfolgt, gleichwohl der Asylantrag aber auch in dem Mitgliedstaat, in welchem der Asylsuchende sich aufhält, (noch) nicht geprüft wird.

Dies widerspricht auch nicht dem Ziel der Dublin III-VO, eine zügige Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz zu gewährleisten. Die zwingenden Fristen, die der Uniongesetzgeber für die Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren vorgesehen hat, tragen gerade entscheidend zur Verwirklichung dieses Ziels bei (vgl. EuGH, Urteil vom 30. März 2023 - C-338/21 -, juris, Rn. 65 ff.). [...]

III. Die Abschiebungsanordnung nach Italien (Ziffer 3. des Bescheids) beruht auf § 34a Abs. 1 AsylG und begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. [...]

Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Italienische Republik ist für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zuständig. Es steht auch im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG fest, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Daran ändern die beiden Schreiben der italienischen Dublin-Unit vom 5. und 7. Dezember 2022 nichts. Diese begründen kein grundsätzliches Abschiebungshindernis. Vielmehr sind diese Erklärungen dem Überstellungsverfahren (Abschnitt VI Dublin III-VO, Art. 29 ff.) zuzuordnen. Nach Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist. Insofern hat auch vor dem Hintergrund dieser Schreiben zunächst seitens der Beklagten eine Koordination möglicher Überstellungstermine zu erfolgen. Dass allein der Umstand, dass eine solche Koordination ggf. nicht zu einer Überstellung führt, nicht dazu führt, dass die Überstellung im Sinne von Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO und damit auch im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht als "praktisch möglich" anzusehen ist bzw. die Abschiebung nicht "durchgeführt werden kann" ergibt sich daraus, dass erst die die Nichtüberstellung innerhalb einer Frist von sechs Monaten zu einem Zuständigkeitsübergang führt, vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25. Januar 2024 – 4 LB 3/23 –, juris, Rn. 123; a. A. Bay. VGH, Urteil vom 11. Juli 2024 – 24 B 24.50010 –, juris, Rn. 45). [...]