Anspruch auf vollständiges Dublin-Verfahren bei Asylgesuch an der Grenze:
1. Personen, die im Rahmen einer Grenzkontrolle um internationalen Schutz nachsuchen, haben einen Anspruch auf Durchführung des vollständigen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für die Prüfung dieses Antrags nach der Dublin-III-Verordnung. Dies steht einer unmittelbaren Zurückweisung an der Grenze entgegen. Ein Anspruch auf Gestattung der Einreise kann nicht mit Erfolg gerichtlich geltend gemacht werden.
2. Eine Zurückweisung an der Grenze nicht auf § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG (Verweigerung der Einreise bei Einreise aus Sicherem Drittstaat) gestützt werden. § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG wird durch die Dublin-III-Verordnung verdrängt. Die Dublin-III-Verordnung erlaubt keine Zurückweisung ohne Durchführung eines vollständigen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Es ist hier jedoch nicht erkennbar, dass überhaupt ein Dublin-Verfahren eingeleitet wurde, das mit der positiven Feststellung endete, welcher Staat für die Prüfung zuständig ist.
3. Die Verweigerung der Einreise kann auch nicht auf Art. 72 AEUV gestützt werden. Dies wäre nur der Fall, wenn hinreichende Gründe für eine nicht anders abzuwendende Gefahr für die öffentliche Ordnung und innere Sicherheit des Mitgliedstaats dargelegt werden. Diese Darlegung setzt eine Gesamtbetrachtung voraus, die sich nicht auf numerische Werte etwa zu Asylantragszahlen oder Grenzübertritte beschränkt, ohne auszuführen, welche Auswirkungen dies für die Grundinteressen der Gesellschaft des Mitgliedstaats oder das Funktionieren seiner staatlichen Einrichtungen hat. Die geplanten Maßnahmen müssen verhältnismäßig und insbesondere konkret geeignet und erforderlich sein, der bestehenden Gefahr abzuhelfen. Vorrangig sind diejenigen Schutzmechanismen zu nutzen, die das Sekundärrecht selbst bereithält. Zu diesen vorrangig anzuwendenden sekundärrechtlichen Maßnahmen gehört der in der Dublin-III-Verordnung enthaltene Frühwarnmechanismus (Art. 33 der Dublin-III-Verordnung), wonach Präventivmaßnahmen vorgesehen werden können, die verhindern sollen, dass die Anwendung der Veordnung infolge der Ausübung besonderen Drucks auf das Asylsystem eines Mitgliedstaats beeinträchtigt wird. Auch das nach der Asylverfahrensrichtlinie vorgesehene Grenzverfahren, welches die Zuständigkeitsprüfung vor der Einreise erlaubt, zählt dazu.
4. Das Dublin-Verfahren kann auch vor Gestattung der Einreise an der Grenze durchgeführt werden (siehe Art. 43 i.V.m. Art. 33 Abs. 1 der Asylverfahrensrichtlinie).
(Leitsätze der Redaktion; siehe auch die Entscheidungen 6 L 192/25 und 6 L 193/25 vom selben Tag - gesetze.berlin.de)
[...]
282. Die Antragsgegnerin ist im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Antragstellerin den Grenzübertritt in die Bundesrepublik Deutschland zu gestatten und das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach der Verordnung (EU) 604/2013 – Dublin-III-Verordnung – durchzuführen. Die Antragstellerin hat im vorliegenden Fall nach den Maßstäben des § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung – ZPO – sowohl die tatsächlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs (Anordnungsanspruch) sowie die Gründe, die die Eilbedürftigkeit der gerichtlichen Entscheidung bedingen (Anordnungsgrund), auch nach den strengen Voraussetzungen für eine Vorwegnahme der Hauptsache glaubhaft gemacht. [...]
30a) Der Anordnungsanspruch ergibt sich aus dem öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch i.Vm. Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung. Die Zurückweisung der Antragstellerin an der Grenze und ihre Rückführung nach Polen wird sich in der Hauptsache mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit als rechtswidrig erweisen. Der hierdurch geschaffene rechtswidrige Zustand dauert im Übrigen an (siehe unter aa). Der Antragstellerin steht außerdem ein Anspruch zu, dass ein vollständiges Dublin-Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats durchgeführt wird (siehe unter bb). Demgegenüber kann sie einen darüberhinausgehenden Anspruch auf Gestattung der Einreise in die Bundesrepublik zu diesem Zeitpunkt nicht mit Erfolg gerichtlich geltend machen (siehe unter cc).
31aa) Nach dem in den Grundrechten und dem rechtsstaatlichen Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung wurzelnden öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch kann jemand, der durch öffentlich-rechtliches Handeln der Verwaltung in seinen Rechten verletzt wird, verlangen, dass diese die andauernden unmittelbaren Folgen ihres rechtswidrigen Vorgehens rückgängig macht (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juni 2022 – 6 C 11.20 – juris Rn. 16 st. Rspr.). Dies gilt auch im Fall von rechtswidrigen Zurückweisungen oder Abschiebungen von Ausländern (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 15. August 2018 – 17 B 1029/18 – juris Rn. 11; VG München, Beschluss vom 8. August 2019 – M 18 E 19.32238 – juris Rn. 27). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
32 Die Antragsgegnerin kann die vorgenommene Zurückweisung der Antragstellerin an der Grenze weder auf § 18 Abs. 2 AsylG noch auf die Ausnahmevorschrift des Art. 72 AEUV stützen.
33 (1) Die Vorschrift des § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG, auf welche die Antragsgegnerin die am 9. Mai 2025 verfügte Einreiseverweigerung gestützt hat, kommt als Rechtsgrundlage für die Zurückweisung aufgrund vorrangigen Unionsrechts nicht in Betracht. Danach ist einem Ausländer, der entsprechend Absatz 1 der Vorschrift bei einer mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörde (Grenzbehörde) um Asyl nachsucht, die Einreise zu verweigern, wenn er aus einem sicheren Drittstaat nach § 26a AsylG einreist.
34 (a) Zwar ist der Anwendungsbereich des § 18 AsylG hier eröffnet, weil die Antragstellerin nach ihrem Bekunden und nach dem Inhalt des Bescheids vom 9. Mai 2025 bzw. den vorgelegten Unterlagen der Bundespolizei im Rahmen der Einreisekontrolle am 9. Mai 2025 im Bahnhof Frankfurt (Oder), d.h. auf deutschem Staatsgebiet, ein Asylgesuch geäußert hat (vgl. § 13 Abs. 1 AsylG). Auf den von der Verfahrensbevollmächtigten schriftlich gegenüber dem Bundesamt ebenfalls am 9. Mai 2025 gestellten Asylantrag kommt es in diesem Zusammenhang nicht an. Nach dem im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens festgestellten Sachverhalt ist die Antragstellerin außerdem noch vor vollendeter Einreise aufgegriffen worden, so dass nicht § 18 Abs. 3 AsylG, der die Zurückschiebung beim Antreffen im grenznahen Raum in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit einer unerlaubten Einreise betrifft, zur Anwendung kommt. Im Rechtssinne ist die Antragstellerin damit trotz Überquerens der Grenze noch nicht in das Bundesgebiet eingereist (§ 13 Abs. 2 Satz 2 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG –). Im Übrigen kam die Antragstellerin bei ihrer versuchten Einreise unstreitig aus Polen, das nach § 26a Abs. 1 AsylG i.V.m. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG als Mitgliedstaat der Europäischen Union einen sicheren Drittstaat darstellt.
35 Es kann im vorliegenden Verfahren im Ergebnis dahinstehen, ob § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG bereits deshalb – wie von der Antragstellerin angeführt – unanwendbar ist, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteile vom 17. Juni 2020 – 1 C 35.19 – juris Rn. 12; vom 4. Mai 2020 – 1 C 7.19 – juris Rn. 19; vom 21. April 2020 – 1 C 4.19 – juris Rn. 19; und Beschluss vom 23. März 2017 – 1 C 20.16 – juris Rn. 13) ein sicherer Drittstaat bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung nur ein Staat sein kann, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist. [...]
37 (b) Jedenfalls wird § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylG nach Überzeugung der Kammer im vorliegenden Fall durch die aufgrund ihres Anwendungsvorrangs vorgehenden unionsrechtlichen Regelungen der Dublin-III-Verordnung verdrängt, welche die Durchführung des vollständigen in dieser Verordnung geregelten Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz vorsehen, bevor eine Rückführungsentscheidung getroffen werden kann.
38 Gemäß Art. 20 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung wird das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats eingeleitet, sobald in einem Mitgliedstaat erstmals ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird. Dies ist, wie sich aus Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-Verordnung ergibt, dann der Fall, wenn ein Antrag im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen gestellt wird. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
39 (aa) Die Antragstellerin hat ihr Asylgesuch im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung geäußert. Zwar enthält die Dublin-III-Verordnung keine Legaldefinition des Begriffs des Hoheitsgebiets. Allerdings ergibt sich schon aus dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-Verordnung, der auf eine Antragstellung im Hoheitsgebiet "einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen" verweist, dass es nicht auf die rechtliche Bewertung des Einreisevorgangs, sondern auf das tatsächliche Betreten des Staatsgebiets ankommt. Dies entspricht im Übrigen auch den Regelungen in Art. 2 Buchst. p) und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32/EU – Asylverfahrensrichtlinie –, die jeweils in das Hoheitsgebiet ausdrücklich die Grenzen mit einbeziehen.
40 Dieses Ergebnis wird auch durch Art. 21 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung gestützt, wonach ein Mitgliedstaat, der einen anderen um Aufnahme eines Antragstellers ersucht, in dem Fall, dass der Antrag auf internationalen Schutz nach Verweigerung der Einreise gestellt wurde, eine dringende Antwort anfordern kann. Daraus geht hervor, dass die Dublin-III-Verordnung die hier vorliegende Konstellation einer Einreiseverweigerung durchaus regelt. Allerdings geht sie auch in diesem Fall selbstverständlich davon aus, dass der Mitgliedstaat, an dessen Grenze der Antrag gestellt wird, für das weitere Verfahren zuständig ist und lediglich eine beschleunigte Antwort von dem Nachbarstaat anfordern kann.
41 Nur dieses Verständnis ist außerdem systematisch mit der Regelung in Art. 4 Abs. 5 Asylverfahrensrichtlinie vereinbar, die nach ihrem 54. Erwägungsgrund auch im Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung ergänzend zur Anwendung kommt. Danach wird im Falle der Durchführung von Grenz- oder Einreisekontrollen auf dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ein gegenüber diesen Beamten geäußerter Asylantrag dennoch durch den Mitgliedstaat bearbeitet, in dessen Hoheitsgebiet er gestellt wurde, auch wenn dessen Beamten ihn gar nicht entgegengenommen haben. Dies unterstreicht den Befund, dass nach der Systematik des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Zuständigkeit für die erste Befassung grundsätzlich an dem tatsächlichen Ort der Antragsäußerung hängt.
42 Weiter gestützt wird dieses Verständnis durch Art. 43 Asylverfahrensrichtlinie, der die Möglichkeit eines Grenzverfahrens regelt, um über unzulässige oder offensichtlich unbegründete Anträge zu entscheiden. In Art. 43 Abs. 2 Asylverfahrensrichtlinie ist die Verpflichtung enthalten, nach Ablauf von vier Wochen die Einreise in das Hoheitsgebiet zu gestatten, um das Verfahren fortzusetzen. Hieraus geht hervor, dass dem Unionsrecht der Unterschied zwischen dem tatsächlichen physischen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats und der rechtlichen Bewertung in Form einer Einreiseerlaubnis durchaus geläufig ist. Dies zeigt auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union – Gerichtshof – zum Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG – Rückführungsrichtlinie –, wonach sich ein Drittstaatsangehöriger auch beim Aufgreifen an einer Grenzübergangsstelle im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats befindet, sofern sich diese ihrerseits im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats befindet (siehe EuGH, Urteil vom 21. September 2023 – C-143/22 – juris Rn. 32).
43 Vor diesem Hintergrund kommt es für die Begründung der Anwendbarkeit der Dublin-III-Verordnung nicht darauf an, dass nach bundesdeutschem Recht gemäß § 13 Abs. 2 Satz 2 AufenthG keine Einreise vorliegt, wenn die Grenzbehörden einen Ausländer vor der Entscheidung über die Zurückweisung oder während der Vorbereitung, Sicherung oder Durchführung dieser Maßnahme die Grenzübergangsstelle zu einem bestimmten vorübergehenden Zweck passieren lassen (sogenannte Nichteinreisefiktion), wenn – wie hier – der Antrag jedenfalls im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats gestellt worden ist (vgl. VG München, Beschluss vom 4. Mai 2021 – M 22 E 21.30294 – juris Rn. 73 f.).
44 Auch aus Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung ergibt sich nichts anderes. Danach ist der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Antrag gestellt wird, auch dann zuständig, wenn dieser bei den zuständigen Behörden eines anderen Mitgliedstaats gestellt wird, während der Antragsteller sich im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats aufhält. Das kann etwa der Fall sein bei vorgelagerten Grenzkontrollen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats (vgl. Art. 4 Abs. 5 Asylverfahrensrichtlinie). Ein solcher Fall liegt hier jedoch nicht vor. Art. 20 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung ist aus den vorgenannten Gründen auch nicht dahingehend auszulegen, dass es für die Frage, in wessen Hoheitsgebiet sich ein Antragsteller aufhält, auf die rechtliche Bewertung des Einreisevorgangs ankommt, so dass bei Vorliegen einer Nichteinreisefiktion, wie sie sich aus § 13 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ergibt, davon auszugehen ist, dass Antragsteller sich trotz Überschreitens der Grenze noch im Hoheitsgebiet des Nachbarstaats befinden (anders wohl teilweise BeckOK AuslR/Haderlein, 44. Ed. 1.4.2025, AsylG § 18 Rn. 22; Heusch/Haderlein/ Fleuß/Barden AsylR Praxis/Fleuß, 2. Aufl. 2021, Rn. 176). [...]
46 (bb) Das Schutzgesuch der Antragstellerin stellt auch einen unionsrechtlich wirksamen Antrag auf internationalen Schutz dar, der das Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung auslöst. Zwar verweist Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-Verordnung für die Stellung des Antrags auf ein den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats vom Antragsteller eingereichtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll. Allerdings geht aus Satz 2 der Vorschrift bereits hervor, dass Anträge auch mündlich gestellt werden können. Der Gerichtshof hat hierzu festgestellt (vgl. Urteil vom 26. Juli 2017 – C-670/16 – juris Rn. 84), dass die Erstellung eines Protokolls im letzteren Fall "im Wesentlichen eine Formalität darstellt, mit der der Willen eines Drittstaatsangehörigen, um internationalen Schutz zu ersuchen, festgehalten werden soll". Die Dublin-Regeln werden überdies – wie bereits ausgeführt – durch die Asylverfahrensrichtlinie ergänzt, die nach deren 54. Erwägungsgrund ergänzend zur Anwendung kommt.
47 Nach Art. 2 Buchst. b) Asylverfahrensrichtlinie wird der Begriff des "Antrags auf internationalen Schutz" dahingehend definiert, dass es sich dabei um das Ersuchen eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen um Schutz durch einen Mitgliedstaat handelt, bei dem davon ausgegangen werden kann, dass er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder die Gewährung des subsidiären Schutzes anstrebt. Nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 Asylverfahrensrichtlinie können Schutzanträge auch bei anderen als den zuständigen Behörden gestellt werden. Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 Asylverfahrensrichtlinie nennt hierfür beispielhaft Polizei und Grenzschutz. Im Übrigen muss nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. Urteil vom 26. Juli 2017 – C-670/16 – juris Rn. 88) die für das Dublin-Verfahren zuständige Behörde nur zuverlässig darüber informiert werden, dass ein Drittstaatsangehöriger um internationalen Schutz ersucht hat, ohne dass hierfür eine bestimmte Form eingehalten oder bereits für die Anwendung der in der Dublin-III-Verordnung festgelegten Kriterien relevante Informationen übermittelt werden müssen.
48 Diesen Maßstäben genügt das von der Antragstellerin gegenüber der Bundespolizei nach den vorliegenden Erkenntnissen geäußerte Gesuch um internationalen Schutz. Unerheblich für die Anwendbarkeit der Dublin-III-Verordnung ist, inwiefern das Schutzgesucht an die für das Dublin-Verfahren zuständige Behörde weitergeleitet worden ist. Eine entsprechende Weiterleitungspflicht ergibt sich aus dem 5. Erwägungsgrund sowie Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-Verordnung in Verbindung mit den Grundsätzen des "effet utile" (vgl. VG München, Beschluss vom 8. August 2019 – M 18 E 19.32238 – juris Rn. 32), ohne dass deren etwaige Verletzung Auswirkungen auf die Verfahrenszuständigkeit hat. Die Befassung der zuständigen Behörde hat vor allem Bedeutung für den praktischen Beginn des Verfahrens und ist nicht geeignet ein Zuständigkeitsvakuum zu begründen (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 – C-670/16 – juris Rn. 96).
49 (cc) Die Dublin-III-Verordnung erlaubt keine Zurückweisung ohne Durchführung des darin geregelten vollständigen Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats. Dieses Verfahren sieht sowohl bestimmte Kriterien für die Zuständigkeitsbestimmung (Art. 7 ff. Dublin-III-Verordnung) als auch Verfahrensrechte für die Antragsteller vor. Dazu gehören ein Recht auf Information (Art. 4 Dublin-III-Verordnung) sowie auf eine persönliche Anhörung (Art. 5 Dublin-III-Verordnung) und zusätzliche Garantien für Minderjährige (Art. 6 Dublin-III-Verordnung). Hält ein Mitgliedstaat danach einen anderen für zuständig, ist das Verfahren nach Art. 21 ff. Dublin-III-Verordnung einzuleiten, in dem der andere Mitgliedstaat um Aufnahme des Antragstellers ersucht wird. Erst nach dessen Zustimmung kann gemäß Art. 26 Dublin-III-Verordnung eine Überstellungsentscheidung erfolgen, gegen die den Betroffenen das Recht auf einen Rechtsbehelf zusteht. [...]
51 Ein Dublin-Verfahren ist im vorliegenden Fall nicht eingeleitet worden. Es ist auch nicht erkennbar, dass überhaupt eine Vorprüfung stattgefunden hat, wonach Polen nach den Vorschriften der Dublin-III-Verordnung der zuständige Mitgliedstaat ist. Eine solche Vorprüfung, ohne damit den Verfahrensschritten und Verfahrensgarantien der Dublin-III-Verordnung Genüge zu tun, wäre nach den vorstehenden Erwägungen im Übrigen nicht ausreichend. Eine Grundlage für eine Art Pre-Dublin-Verfahren ist in der Dublin-III-Verordnung nicht erkennbar. Ein solches Verfahren wäre zudem nicht geeignet, die vom Gerichtshof festgestellten Verfahrensrechte der Betroffenen einzuhalten (so auch VG München, Beschluss vom 8. August 2019 – M 18 E 19.32238 – juris Rn. 38).
52 (dd) Die Geltung der Dublin-III-Verordnung und die damit verbundenen Pflichten lassen sich nicht durch bilaterale Vereinbarungen abbedingen. Es handelt sich um eine vom europäischen Gesetzgeber in Kraft gesetzte Verordnung, die nicht zur Disposition einzelner Mitgliedstaaten steht. Aus diesem Grund können sich aus dem "Abkommen zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Republik Polen über die Zusammenarbeit der Polizei-, Grenz- und Zollbehörden" vom 15. Mai 2014 (BGBl 2015 II S. 234) – entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin – keine abweichenden Rechtsgrundsätze ergeben (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Januar 2010 – C-546/07 – juris Rn. 42; VG München, Beschluss vom 4. Mai 2021 – M 22 E 21.30294 – juris Rn. 85 ff.).
53-55 (ee) Schließlich kann – entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin – von der Anwendung der Dublin-III-Verordnung nicht deshalb abgesehen werden, weil "eine derzeitige Dysfunktionalität des europäischen Sekundärrechts im migrationsrelevanten Bereich der unerlaubten Einreisen über die Schengenaußengrenzen und der weitgehend ungesteuerten illegalen Sekundärmigration in anderen Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland, sowie einer derzeitige Dysfunktion sekundärrechtlicher Ausgleichsmaßnahmen nach den Eurodac- und Dublin-Verordnungen" festgestellt wird. Unabhängig von dem Befund, der im vorliegenden Verfahren nicht zu beurteilen ist, hat der Gerichtshof bereits vor längerer Zeit festgestellt (siehe Urteil vom 26. Juli 2017 – C-646/16 [Jafari] – juris Rn. 93), dass etwa auch ein Massenzustrom keine Suspendierung der Zuständigkeitsregeln der Dublin-III-Verordnung bewirkt. Überdies stellt der Hinweis auf Rechtsverstöße anderer Mitgliedstaaten nach der Rechtsprechung des Gerichthofs (vgl. etwa Urteil vom 19. November 2009 – C-118/07 – juris Rn. 48) keine Rechtfertigung für eigenes unionsrechtswidriges Verhalten dar.
56(c) Schließlich kann sich die Antragsgegnerin nicht auf Art. 72 AEUV berufen, um einen Verstoß gegen Vorgaben aus der Dublin-III-Verordnung zu rechtfertigen. [...]
57Dabei ist zunächst zu beachten, dass sich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem Artikel kein allgemeiner, dem Vertrag immanenter Vorbehalt ableiten lässt, der jede Maßnahme, die im Interesse der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit getroffen wird, vom Anwendungsbereich des Unionsrechts ausnähme. Denn ein solches Verständnis, würde die Verbindlichkeit und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts beeinträchtigen (vgl. EuGH, Urteile vom 22. September 2022 – C-159/21 – juris Rn. 84; vom 30. Juni 2022 – C 72/22 – juris Rn. 70; vom 17. Dezember 2020 – C-808/18 – juris Rn. 21; und vom 2. April 2020 – C-715/17, C-718/17, C-719/17 – juris Rn. 143). Ferner ist Art. 72 AEUV danach grundsätzlich eng auszulegen. Daraus folgt, dass er nicht als eine Ermächtigung eines Mitgliedstaates dazu ausgelegt werden kann, durch bloße Berufung auf diese Zuständigkeiten von den Bestimmungen des Vertrags abzuweichen (vgl. EuGH, Urteile vom 30. Juni 2022 – C 72/22 – juris Rn. 71; vom 17. Dezember 2020 – C-808/18 – juris Rn. 214; und vom 2. April 2020 – C-715/17, C-718/17, C-719/17 – juris Rn. 144 f.). Der sich auf Art. 72 AEUV berufende Mitgliedstaat muss in solchen Fällen konkrete Gründe darlegen, warum eine Abweichung vom geltenden Sekundärrecht erforderlich ist (vgl. EuGH, Urteil vom 30. Juni 2022 – C 72/22 – juris Rn. 92). Überdies darf es keine anderen sekundärrechtlichen Instrumente geben, um die Situation zu bewältigen. Schließlich findet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anwendung. Diesen Maßstäben wird die Antragsgegnerin im vorliegenden Fall nicht gerecht.
58(aa) Es fehlt bereits an der hinreichenden Darlegung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinne des Art. 72 AEUV durch die Antragsgegnerin.
59Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung des migrationsrechtlichen Sekundärrechts (vgl. Urteil vom 30. Juni 2022 – C 72/22 – juris Rn. 87 f.) setzt der Begriff öffentliche Ordnung jedenfalls voraus, dass außer der Störung der sozialen Ordnung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und hinreichend erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Öffentliche Sicherheit umfasst wiederum sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats, so dass die Beeinträchtigung des Funktionierens der Einrichtungen des Staates und seiner wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung ebenso wie die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker oder eine Beeinträchtigung der militärischen Interessen die öffentliche Sicherheit berühren können.
60Der Gerichtshof hat keinen Schwellenwert bestimmt, der ab einer bestimmten Kennzahl eine Berufung auf Art. 72 AEUV ermöglicht. Vielmehr dürfte eine Gesamtbetrachtung anzustellen sein, in der alle relevanten Umstände sowie die dynamische Entwicklung der Sachlage berücksichtigt wird (vgl. Thym, Rechtsgutachten über die Anforderungen und Rechtsfolgen des Artikels 72 EU-Arbeitsweisevertrag für die ausnahmsweise Abweichung vom EU-Asylrecht, 25. November 2022, abrufbar unter papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm, zuletzt abgerufen am: 2. Juni 2025, S. 11). Nicht ausreichend ist jedenfalls ein Vortrag der lediglich numerische Werte etwa zu Asylantragszahlen oder
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Grenzübertritte angibt, ohne auszuführen, welche Auswirkungen dies für die Grundinteressen der Gesellschaft des Mitgliedstaats oder das Funktionieren seiner staatlichen Einrichtungen hat.
61Vor diesem Hintergrund führen die Angaben der Antragsgegnerin, wonach im Jahr 2024 in Deutschland 229.751 Asylerstanträge, davon 1.821 bei den deutschen Grenzbehörden, und damit knapp 25 Prozent aller in der Europäischen Union, Norwegen und der Schweiz registrierten Asylerstanträge in Deutschland gestellt wurden, während es nur fast 78.400 Eurodac-Treffer gab und in über 27.500 Fällen der Asylanträge in Deutschland die Einreise mit einem Visum erfolgte, sie nicht zum Erfolg. Es bleibt offen, was aus diesen Zahlen genau für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik folgt. Soweit die Antragsgegnerin damit eine Vernachlässigung der bestehenden Pflichten seitens der anderen Mitgliedstaaten belegen will, führt dies allein nicht zu einer Rechtfertigungsmöglichkeit aus Art. 72 AEUV. Es ist auch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass sich aus diesen Zahlen einerseits eine Situation ergibt, die für die deutschen Behörden nicht zu bewältigen wäre und auf Grund derer die Funktionsfähigkeit staatlicher Systeme und Einrichtungen akut gefährdet wäre, und wie sich andererseits gerade Zurückweisungen an der Grenze auf diese Situation auswirken würden (vgl. zu dem Erfordernis der Darlegung der konkreten Auswirkungen der Maßnahmen EuGH, Urteile 17. Dezember 2020 – C-808/18 – juris Rn. 218; und vom 30. Juni 2022 – C 72/22 – juris Rn. 73).
62-64 Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen zum Verhältnis der Übernahmeersuchen Deutschlands an andere Mitgliedstaaten im Jahr 2024 (insgesamt 74.583), der Zahl der Zustimmungen zu der Übernahme durch die anderen Mitgliedstaaten (44.431 Fälle) und der Zahl der tatsächlichen Überstellungen (5.827 Personen). Die Antragsgegnerin gibt an, dass limitierende Faktoren für Überstellungen von Deutschland an andere Mitgliedstaaten unter anderem "der offene Verstoß mancher Mitgliedstaaten gegen ihre aus der Dublin-VO bestehende Wiederaufnahmeverpflichtung, die mitgliedstaatsspezifischen Überstellungsmodalitäten wie u.a. "Sperrtage", die Kontingentierung von Übernahmen, die begrenzte Zulassung von Chartermaßnahmen oder Engpässe bei der Durchbeförderung im Transit durch andere Mitgliedstaaten oder auch die Missachtung von Mindeststandards bei der Unterbringung und Versorgung aus dem Sekundärrecht und der Europäischen Menschenrechtskonvention" darstellten. Es fehlen aber weitere Darlegungen dazu, inwiefern Zurückweisungen an der Grenze diesen Mängeln konkret abhelfen würden. Dies ist auch nicht ansonsten ohne weiteres ersichtlich.
65 Schließlich sind nach Überzeugung des Gerichts auch die Ausführungen zu einer Instrumentalisierung unter anderem der Antragstellerin durch Russland und Belarus im Rahmen einer hybriden Kriegsführung durch die Förderung massenhafter Migration nicht ohne weiteres geeignet, eine Anwendung des Art. 72 AEUV zu begründen. Soweit die Antragsgegnerin dazu auf die Mitteilung der Europäischen Kommission über die Abwehr hybrider Bedrohungen infolge des Einsatzes von Migration als Waffe und die Stärkung der Sicherheit an den EU-Außengrenzen (COM (2024) 570 final, Brüssel, 11.12.2024, S. 3), verweist, in der diese feststellt, dass sich Mitgliedstaaten angesichts der schwerwiegenden und anhaltenden Bedrohung für die Sicherheit der Europäischen Union und die territoriale Unversehrtheit der Mitgliedstaaten, die sich aus der hybriden Kriegsführung Russlands und Belarus ergeben, auf Bestimmungen der europäischen Verträge berufen können, um ausnahmsweise, unter strengen Bedingungen und unter Kontrolle des Gerichtshofs, über das derzeit im Sekundärrecht der Europäischen Union vorgesehene Maß hinauszugehen, geht daraus nichts anderes hervor. [...]
69 (bb) Es fehlen darüber hinaus Darlegungen der Antragsgegnerin dazu, warum eine Berufung auf die Ausnahmeklausel des Art. 72 AEUV erforderlich ist und nicht auf andere im Sekundärrecht vorgesehenen Möglichkeiten zur Bewältigung der Situation zurückgegriffen werden kann. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs beschränkt die Existenz sekundärrechtlicher Schutzklauseln, welche die legitimen Interessen der Mitgliedstaaten bereits berücksichtigen, eine Berufung auf Art. 72 AEUV (vgl. Urteile vom 17. Dezember 2020 – C-808/18 – juris Rn. 221 ff.; vom 26. April 2022 – C-368/20 – juris Rn. 89; und vom 2. April 2020 – C-715/17, C-718/17, C-719/17 – juris Rn. 143 ff.). Das gilt nach dem Gerichtshof ausdrücklich auch in Fällen der Ankunft einer außergewöhnlich hohen Zahl internationalen Schutz begehrender Drittstaatsangehöriger (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 – C-646/16 [Jafari] – juris Rn. 93 ff.). Zu den zunächst vorrangig anzuwendenden sekundärrechtlichen Maßnahmen gehört nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in diesen Fällen zum einen der Frühwarnmechanismus nach Art. 33 der Dublin-III-Verordnung, wonach Präventivmaßnahmen vorgesehen werden können, die unter anderem verhindern sollen, dass die Anwendung der Verordnung infolge der Ausübung besonderen Druckes auf das Asylsystem eines Mitgliedstaats beeinträchtigt wird (vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 – C-646/16 [Jafari] – juris Rn. 95).
70 Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber auch mit dem Erlass der Asylverfahrensrichtlinie Konstellationen Rechnung getragen hat, in denen ein Mitgliedstaat einen ganz erheblichen Anstieg der Zahl von Personen, die internationalen Schutz beantragen, bewältigen muss (vgl. EuGH, Urteil vom 17. Dezember 2020 – C-808/18 – juris Rn. 222). Dazu zählt danach vor allem das in Art. 43 Abs. 1 Asylverfahrensrichtlinie vorgesehene Grenzverfahren, welches eine Prüfung unter anderem der Zuständigkeit nach der Dublin-III-Verordnung vor Gestattung der Einreise an der Grenze erlaubt (siehe auch EuGH, Urteil vom 30. Juni 2022 – C-72/22 – juris Rn. 74). Im Falle eines Massenzustroms von Personen, die internationalen Schutz beantragen, können diese Verfahren gemäß Art. 43 Abs. 3 Asylverfahrensrichtlinie zudem über die in Absatz 2 vorgesehene Frist von vier Wochen hinaus und unter Beschränkung der Bewegungsfreiheit der betroffenen Personen gemäß Art. 7 der Richtlinie 2013/33 auf ein Gebiet in der Nähe der Grenzen oder Transitzonen des Mitgliedstaats, fortgeführt werden (EuGH, Urteile vom 17. Dezember 2020 – C-808/18 – juris Rn. 222; und vom 14. Mai 2020 – C-924/19 PPU und C-925/19 PPU – juris Rn. 247). [...]
73 (2) Eine Zurückweisung der Antragstellerin kommt auch nicht nach § 18 Abs. 2 Nr. 2 AsylG in Betracht. Danach ist die Einreise zu verweigern, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und ein Auf- oder Wiederaufnahmeverfahren eingeleitet wird. Die Vorschrift soll es der Grenzbehörde ermöglichen, die Dublin-Regeln noch vor der Entscheidung über die Einreise anzuwenden (siehe BT-Drs. 16/5065, S. 215). Dies entspricht in der Sache dem in Art. 43 Asylverfahrensrichtlinie geregelten Grenzverfahren. Allerdings ist im vorliegenden Fall ein Dublin-Verfahren gerade nicht durchgeführt worden. [...]
75 (4) In der Rechtsfolge ist der Folgenbeseitigungsanspruch auf Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands vor dem Zeitpunkt des rechtswidrigen Eingriffs – hier der Zurückweisung an der Grenze nebst Rückführung nach Polen – gerichtet. Insofern ist die Antragstellerin, die sich nach dem Kenntnisstand des Gerichts derzeit unweit der deutsch-polnischen Grenze aufhält, der Grenzübertritt in die Bundesrepublik zu gestatten. Diese Wiederherstellung ist auch weder unmöglich noch der Antragsgegnerin unzumutbar. Eine von der Antragstellerin begehrte Gestattung der Einreise im Sinne von § 13 Abs. 1 AufenthG kann indes nicht aus dem Folgenbeseitigungsanspruch resultieren, weil sie vor der ihr gegenüber verfügten Einreiseverweigerung noch nicht in das Bundesgebiet eingereist war.
76 bb) Der Antragstellerin steht ein Anspruch aus der Dublin-III-Verordnung auf Durchführung eines Verfahrens zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zu. In diesem Rahmen hat sie die in Art. 4 ff. Dublin-III-Verordnung beschriebenen Verfahrensrechte – einschließlich der Prüfung ihrer Minderjährigkeit – sowie ein Recht auf volle gerichtliche Überprüfung der getroffenen Zuständigkeitsentscheidung (vgl. EuGH, Urteile vom 7. Juni 2016 – C-63/15 [Ghezelbash] – juris Rn. 61; und – C-155/15 [Karim] – juris Rn. 27; und vom 26. Juli 2017 – C-670/16 – juris Rn. 48). Sie hat demgegenüber weder einen Anspruch darauf, sich den Mitgliedstaat auszusuchen, der das Asylverfahren durchführt, noch sich für die Dauer des Zuständigkeitsbestimmungsverfahrens an einem bestimmten Ort aufzuhalten oder in das Bundesgebiet einzureisen. Wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt, kann nach Art. 43 Asylverfahrensrichtlinie das Verfahren nach der Dublin-III-Verordnung vielmehr auch an der Grenze durchgeführt werden (siehe nachstehend).
77 cc) Ein Anspruch auf Gestattung der Einreise im Sinne von § 13 AufenthG zur Durchführung des Dublin-Verfahrens über den Grenzübertritt hinaus ergibt sich weder aus Unionsrecht noch aus dem nationalen Recht. [...]