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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 05.06.2025 - 13 LC 234/23 - asyl.net: M33383
https://www.asyl.net/rsdb/m33383
Leitsatz:

Anspruch auf Aufenthaltstitel nach Verantwortungsübergang nach EATRR:

1. Eine Person hat in europarechtskonformer Auslegung einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG, wenn ihr in einem anderen EU Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde und die Verantwortung auf Deutschland nach dem Europäischen ÜBereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge des Europarats vom 16.10.1980 (EATRR) übergangen ist.

2. Sollte dieses Ergebnis die Grenzen richterlicher Normauslegung überschreiten, folgt das gleiche Ergebnis aus einem Anwendungsvorrang der unionsrechtlichen Regelung in Art. 24 Abs. 1 S. 1 Qualifikationsrichtlinie.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, Aufenthaltstitel, Verantwortungsübergang, internationaler Schutz in EU-Staat,
Normen: EATRR Art. 2, EATRR Art. 5, RL 2011/95/EU Art. 24, AsylG § 73c
Auszüge:

[...]

I. Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten zu Recht unter Aufhebung seines Bescheides vom 8. Juni 2020 verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG zu erteilen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dem Kläger steht ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis auf dieser Rechtsgrundlage zu.

1. Dieser Anspruch lässt sich allerdings nicht unmittelbar auf 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG stützen. Nach dem eindeutigen Wortlaut dieser Vorschrift ist einem Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder subsidiären Schutz im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG zuerkannt hat. Eine derartige Entscheidung des Bundesamtes ist hinsichtlich des Klägers nicht getroffen worden.

2. Jedoch ist dem Kläger in europarechtskonformer Auslegung des § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis im Hinblick auf dessen durch die italienischen Behörden erfolgte Flüchtlingsanerkennung und den zwischenzeitlichen Verantwortungsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland zu erteilen.

a) Der Verantwortungsübergang ist im vorliegenden Fall unstreitig nach Art. 2 Abs. 1 und 3 des Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge des Europarats vom 16. Oktober 1980 (EÜÜVF bzw. EATRR [European Agreement on Transfer of Responsibility for Refugees]) erfolgt, dem die Bundesrepublik Deutschland mit Gesetz vom 30. September 1994 (BGBl. II S. 2645) zugestimmt hat und das auch von Italien ratifiziert worden ist. Die Zweijahresfrist nach Art. 2 Abs. 1 und 3 EATRR ist nach der Mitteilung des Bundespolizeipräsidiums Koblenz vom 2. April 2019 (Blatt 136 f. VV) bereits am 27. Juli 2017 abgelaufen.

b) [...]

Mit dem Übergang der Verantwortung erlischt nach Art. 5 Abs. 1 EATRR die Verantwortung des Erststaats für die Verlängerung oder Erneuerung des Reiseausweises des Flüchtlings und wird der Zweitstaat für die Ausstellung eines neuen Reiseausweises für den Flüchtling zuständig. Allerdings wird im erläuternden Bericht zum EATRR zu Art. 5 des Übereinkommens [...] ausdrücklich darauf hingewiesen, aus dieser Vorschrift folge "implizit", dass der Zweitstaat dem Flüchtling nach dem Übergang die Rechte und Vorteile gewähren müsse, die sich aus der Genfer Konvention ergeben. Auch ist bei der Auslegung der in der Präambel des EATRR zum Ausdruck kommende Wille der unterzeichnenden Staaten zu berücksichtigen, die Lage der Flüchtlinge in den Mitgliedstaaten des Europarats zu verbessern. [...]

c) Zu diesen Rechten und Vorteilen der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Konvention, die die Bundesrepublik Deutschland als Zweitstaat und Mitglied der Europäischen Union zu gewähren verpflichtet ist, gehören unter den dortigen Voraussetzungen die nach Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (sog. Qualifikationsrichtlinie) folgenden Rechte. Dazu zählt nach Art. 24 Abs. 1 Satz 1 der Qualifikationsrichtlinie auch die Erteilung von Aufenthaltstiteln. Danach stellen die Mitgliedstaaten Personen, denen der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden ist, unbeschadet des Artikels 21 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie so bald wie möglich nach der Zuerkennung einen Aufenthaltstitel aus, der mindestens drei Jahre gültig ist und verlängerbar sein muss, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen. [...]

Davon, dass der Flüchtling nach dem Verantwortungsübergang die volle Rechtsstellung als Flüchtling in Deutschland und damit auch einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erlangt, geht der nationale Gesetzgeber in § 73c AsylG (bislang § 73a AsylG a.F.) offenbar selbst aus. Denn § 73c Abs. 1 Satz 1 AsylG regelt, dass bei einem Ausländer, der von einem ausländischen Staat als Flüchtling anerkannt worden ist und bei dem die Verantwortung für die Ausstellung des Reiseausweises auf die Bundesrepublik übergegangen ist, die Rechtsstellung als Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland erlischt, wenn einer der in § 72 Abs. 1 AsylG genannten Umstände eintritt. Nach § 73c Abs. 2 AsylG wird die Rechtsstellung als Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland zudem entzogen, wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht oder nicht mehr vorliegen. Durch die in § 73c AsylG ermöglichte Überprüfung ist gewährleistet, dass Deutschland nicht ohne die Möglichkeit einer eigenen rechtlichen Überprüfung an die Anerkennungsentscheidung eines anderen Vertragsstaates gebunden ist, sondern eine eigene Prüfungsbefugnis hat, ob die Voraussetzungen für die Ausübung der Rechte der Genfer Flüchtlingskonvention im Einzelfall (noch) gegeben sind [...]. Es wäre aber inkonsistent, einerseits das Recht zur Beendigung des Flüchtlingsstatus nach Übergang der Verantwortung dem Zweitstaat zu übertragen, andererseits aber die Verleihung der aus dem Status fließenden Rechte dem anerkennenden Erststaat zu belassen […].

3. Sollte die vom Senat favorisierte europarechtskonforme Auslegung des § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in dem Sinne, dass mit einem Verantwortungsübergang auf die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 5 EATTR die Flüchtlingszuerkennung eines anderen Vertragsstaats auch im Bundesgebiet Geltung beansprucht und der Flüchtling die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 AufenthG beanspruchen kann [...], etwa wegen einer Überschreitung der Grenzen richterlicher Normauslegung ausscheiden, folgt das gleiche Ergebnis aus einem Anwendungsvorrang der unionsrechtlichen Regelung in Art. 24 Abs. 1 Satz 1 der Qualifikationsrichtlinie. [...]