Keine Leistungskürzung wegen Ausreisepflicht im Dublinverfahren:
1. § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG ist verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass ein Leistungsausschluss nur dann greift, wenn dem betroffenen Ausländer eine freiwillige Ausreise in den zuständigen Dublin-Staat tatsächlich und rechtlich möglich ist. Eine lediglich theoretische Ausreisemöglichkeit oder bloß die rechtliche Zulässigkeit einer Abschiebung genügt nicht.
2. Die Feststellung des BAMF über die tatsächliche und rechtliche Ausreisemöglichkeit ist keine bloße formale Voraussetzung, sondern materiell-rechtliche Tatbestandsvoraussetzung des Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG, deren Fehlen zur Unanwendbarkeit der Vorschrift führt.
3. Ein Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG ist bereits tatbestandlich nicht zulässig, wenn das BAMF keine Feststellung zur rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise getroffen hat und ein entsprechender Überstellungsprozess nicht vorbereitet oder ermöglicht worden ist.
4. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG gebietet eine verfassungskonforme Auslegung des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG: Der Ausschluss von existenzsichernden Leistungen darf nur erfolgen, wenn die Inanspruchnahme existenzsichernder Sozialleistungen in dem für die Aufnahme zuständigen Mitgliedstaat zumutbar und zugänglich ist.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Im Streit ist die vorläufige Gewährung von Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG für die Zeit ab Ende Januar 2025 bzw. die Rechtmäßigkeit eines Leistungsausschlusses nach §§ 1 Abs. 4 Satz 1 AsylbLG bei einem sog. Dublin-III-Fall. [...]
Gemessen an diesen Maßgaben ist der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig lebensunterhaltssichernde Leistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG zu gewähren. [...]
Der Antragsteller ist seit der Ablehnung des in Deutschland gestellten Asylantrags vollziehbar ausreisepflichtig und damit gem. § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG leistungsberechtigt. Zudem hat das BAMF den Asylantrag gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG als unzulässig abgelehnt (sog. Dublin-III-Fälle) und eine Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG erlassen. Diese asylrechtlichen Entscheidungen sind im Rahmen des § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG bindend, ohne dass sie leistungsrechtlich auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen sind (sog. Tatbestandswirkung [...]). Dies gilt jedoch nicht für das weitere Tatbestandsmerkmal, dass für die von dem Leistungsausschluss betroffene Person "nach der Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge die Ausreise rechtlich und tatsächlich möglich" sein muss. In Rechtsprechung und Literatur ist die Bedeutung dieses erst auf Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat [...] in das Gesetz aufgenommene Tatbestandsmerkmal noch weitgehend ungeklärt [...]. Da der juristische Begriff der Ausreise grundsätzlich sowohl die freiwillige Ausreise als auch die zwangsweise Abschiebung umfasst [...], sind unterschiedliche Auslegungen denkbar.
Einerseits könnte damit eine leistungsrechtliche Prüfung über das Vorliegen allein von tatsächlichen und rechtlichen Abschiebehindernissen gemeint sein, insbesondere ob aufgrund ernsthafter und durch Tatsachen bestätigter Gründe zu befürchten ist, dass das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in dem nach der Dublin-III-Verordnung an sich zuständigen Staat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Staat überstellten Asylbewerber i.S. von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) implizieren [...]. Für diese Auslegung sprechen der juristische Gebrauch des Wortes Ausreise (s.o.) und der Zusatz in § 1 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 AsylbLG, dass die Ausreise "nach der Feststellung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge" rechtlich und tatsächlich möglich sein muss. Insoweit ist in den Gesetzesmaterialien, also der Begründung der o.g. Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres und Heimat, ausgeführt, dass die Änderung des Gesetzentwurfs [...] klarstellenden Charakter habe und mit der Entscheidung des BAMF über die Unzulässigkeit bereits die Feststellung über die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit erfolge, "die im Rahmen dieser Regelung maßgeblich" sei, insbesondere bzgl. einer drohenden Verletzung von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) oder Art. 4 GRCh in dem anderen Mitgliedstaat [...]. Allerdings wäre eine solche leistungsrechtliche Prüfung in aller Regel bedeutungslos, weil sie sich an der asylrechtlichen Entscheidung des BAMF orientieren und damit in aller Regel nicht zu einem abweichenden Ergebnis führen würde.
Andererseits könnte sich das Erfordernis der nach der Feststellung des BAMF rechtlich und tatsächlich möglichen Ausreise jedenfalls bzw. auch – also nicht alternativ zu einer möglichen Abschiebung, sondern kumulativ – auf die freiwillige Ausreise der leistungsberechtigen Person in den für das Asylverfahren an sich zuständigen Staat beziehen. Diese Auslegung ist vorzuziehen. Hierfür spricht etwa der umgangssprachliche Gebrauch des Wortes Ausreise, mit dem am ehesten das selbstbestimmte Verlassen eines Staatsgebietes verbunden wird. Ungeachtet dieses eher schwachen Wortlautarguments wird das Erfordernis einer möglichen freiwilligen Ausreise sogar in der o.g. Beschlussempfehlung aufgegriffen, indem darauf abgestellt wird, dass die selbstinitiierte Ausreise in der Regel mit der Unzulässigkeitsentscheidung des BAMF innerhalb von zwei Wochen möglich sei, wenn der Transfer gewährleistet ist. Zu diesem Zweck werde dem Ausländer ein Laissez-passer ausgestellt [...]. Diese Einschränkungen auf den (angeblichen) Regelfall der möglichen freiwilligen Ausreise im Dublin-III-Verfahren (dazu auch gleich) und die Gewährleistung des Transfers machen deutlich, dass bei der Bejahung eines Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG auch und gerade die mögliche freiwillige Ausreise in den Blick genommen werden muss. Jedenfalls spricht hierfür aber eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift zur Wahrung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG [...]. Ein systemübergreifender Ausschluss von existenzsichernden Leistungen kann nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nämlich allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Inanspruchnahme von Sozialleistungen im Heimatstaat – übertragen auf die sog. Dublin-III-Fälle also in dem für die Durchführung des Asylverfahrens an sich zuständigen Staat – als Ausprägung der eigenverantwortlichen Selbsthilfe zuzumuten ist [...].
Da das BAMF im Rahmen der asylrechtlichen Entscheidung über den Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG bzw. die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG keine Feststellung über diese Ausreisemöglichkeit trifft, sondern nur über das Vorliegen von Abschiebungshindernissen, bezieht sich der Zusatz "nach der Feststellung" des BAMF entweder allein auf eine entsprechende leistungsrechtliche Prüfung von vorliegenden Abschiebehindernissen (s.o.) und nicht auf die zusätzlich notwendige Prüfung der möglichen freiwilligen Ausreise. Oder der Zusatz betrifft die Feststellung des BAMF über die Überstellung im Wege der selbstinitiierten Ausreise nach den einschlägigen Verwaltungsvorschriften, der Dienstanweisung Dublin des BAMF, S. 163 ff. [...]. Danach steht die konkrete Ausreisemöglichkeit erst nach der Organisation des Überstellungsprozesses in Zusammenarbeit des BAMF, der Ausländerbehörde bzw. der Bundespolizei und des zuständigen Mitgliedstaates fest, u.a. nach Abstimmung der Möglichkeit einer freiwilligen Überstellung, der Prüfung eines Terminvorschlages der Ausländerbehörde, der Benachrichtigung des Mitgliedsstaates, der Übermittlung eines Laissez-passer an die Ausländerbehörde zur Aushändigung an die antragstellende Person und der Organisation der Ausreise. Aufgrund dieses Prozederes ist eine freiwillige Überstellung grundsätzlich vier Wochen vor Ablauf der Überstellungsfrist nicht mehr möglich. Dann kann nur noch eine kontrollierte Überstellung erfolgen. Es besteht kein Rechtsanspruch auf eine freiwillige Ausreise. Das BAMF befürwortet freiwillige Ausreisen im Rahmen des Dublin-III-Verfahren nur in Ausnahmefällen (zum Vorstehenden vgl. die Dienstanweisung Dublin, a.a.O.). Dem Überstellungsverfahren ist damit das reguläre Institut der freiwilligen Ausreise unbekannt und die Überstellung erfolgt stets im Rahmen eines behördlich überwachten Verfahrens, selbst bei einer Initiative der betreffenden Person [...].
Übertragen auf den vorliegenden Fall mangelt es hier an einer Feststellung des BAMF zu einer Überstellung des Antragstellers durch freiwillige Ausreise insgesamt. Eine solche Überstellung ist auch tatsächlich nicht vorbereitet worden. Dem Antragsteller ist es damit aus rechtlichen Gründen nicht möglich bzw. nicht gestattet, derzeit freiwillig nach Polen auszureisen, so dass der Leistungsausschluss nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG bereits tatbestandlich nicht vorliegt. Auf dieser Grundlage hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch auf Gewährung von Grundleistungen nach §§ 3, 3a AsylbLG glaubhaft gemacht. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung spricht aber auch der Umstand, dass die Auslegungsfragen zu § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG fachgerichtlich und in der Literatur zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ansatzweise geklärt sind, und eine im gerichtlichen Eilverfahren zugunsten des Antragstellers zu treffende Folgenabwägung, die seine grundrechtlichen Belange in besonderer Weise in den Blick nimmt. Es geht um die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG).
Bei einer Bejahung der Tatbestandsvoraussetzungen eines Leistungsausschlusses nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 AsylbLG kann eine solche Folgenabwägung auch deshalb geboten sein, weil sich (spätestens) in einem gerichtlichen Hauptsacheverfahren die Frage der Vereinbarkeit der Regelung sowohl mit der bisherigen Aufnahmerichtlinie (EURL 2013/32) als auch mit deren Neufassung vom 14.5.2024 (EURL 2024/1346), insb. mit den dort geregelten Mindeststandards zur Sicherung des Lebensunterhalts im Asylverfahren stellt. [...]