Alleinstehenden Personen droht in Frankreich Obdachlosigkeit:
"1. Nicht vulnerablen Asylantragstellern droht in Frankreich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Obdachlosigkeit.
2. Alleinstehende männliche Asylbewerber machen den größten Anteil der Asylsuchenden in Frankreich aus, werden jedoch gegenüber Familien mit Kindern und anderen vulnerablen Personengruppen bei der Vergabe von staatlichen Unterkünften als nachrangig behandelt.
3. Im Jahr 2023 waren nur 73,2 % der Asylbewerber mit Anspruch auf die Gewährung materieller Aufnahmebedingungen kostenlos in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber oder allgemeinen Notunterkünften untergebracht.
4. Die Höhe der monatlich gewährten Beihilfe für Asylbewerber reicht nicht aus, um eine Wohnung auf dem privaten Markt zu finanzieren. Aufgrund des Arbeitsverbots sind Asylbewerber innerhalb der ersten sechs Monate ihres Asylverfahren auch nicht in der Lage, eigene Einkünfte zu erzielen.
5. Die französische Regierung ist bemüht, die materiellen Aufnahmebedingungen für nicht vulnerable Asylbewerber weiter einzuschränken, insb. durch den Entzug des Leistungsanspruchs bei Verstoß der Antragsteller gegen gesetzliche Obliegenheiten."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Nach der Überzeugung der Einzelrichterin weist das französische Asylsystem systemische Mängel auf im Hinblick auf die Personengruppe Asylsuchender, die keine äußeren Kennzeichen von Vulnerabilität wie etwa körperliche Behinderungen oder hohes Alter und Gebrechlichkeit aufweisen oder die - wie die Eltern minderjähriger Kinder - mit vulnerablen Personen als Einheit zu betrachten sind. Der Kläger ist als alleinstehender Mann Teil dieser Personengruppe und als solcher droht ihm im Falle einer Rückführung nach Frankreich eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung in Form von Verelendung.
Alleinstehende männliche Asylbewerber machen den größten Anteil der Asylsuchenden in Frankreich aus, werden jedoch gegenüber Familien mit Kindern und anderen vulnerablen Personengruppen bei der Vergabe von staatlichen Unterkünften als nachrangig behandelt [...]. Wegen des eingeschränkten Zugangs zum Arbeitsmarkt, der begrenzten Höhe der finanziellen Asylbewerberleistungen und der verbreiteten Diskriminierung gegenüber migrantifizierten und muslimischen Menschen haben sie in Frankreich zudem regelmäßig nicht die Möglichkeit, eine Unterkunft auf dem privaten Wohnungsmarkt zu finden.
Asylbewerbern stehen im Rahmen des französischen nationalen Aufnahmesystems (dispositif national d'accueil, DNA) Aufnahmezentren (centre d'accueil pour demandeurs d'asile, CADA), Notunterkünfte (L'hébergement d'urgence pour demandeurs d'asile (HUDA), accueil temporaire - service asile (AT-SA), programme d'accueil et d'hébergement des demandeurs d'asile (PRAHDA)), Aufnahme- und Orientierungszentren (Centre d'accueil et d'orientation (CAO)) sowie Aufnahme- und Verwaltungszentren für die Prüfung der Situation (centre d'accueil et d'examen des situations (CAES)) zur Verfügung. Ende 2023 finanzierte der französische Staat 49.242 Plätze in CADA, 52.950 in HUDA und 6.622 in CAES. Die Entscheidung über die Aufnahme in Unterkünften für Asylbewerber sowie über den Auszug oder über die Änderung des Wohnorts trifft das französische Amt für Einwanderung und Integration (l'Office Français de l'Immigration et de l'Intégration (OFII)) nach Rücksprache mit dem Leiter der Unterkunft. Die Kosten für die Unterbringung von Asylbewerbern in den Aufnahmeeinrichtungen werden vom Staat getragen [...]. Unterbringungszentren für Asylsuchende bieten Schlaf- und Kochräume sowie Unterstützung durch Sozialarbeiter bei rechtlichen und sozialen Fragen. Die Bandbreite reicht von großen Gebäuden mit Büros und Schlafzimmern bis hin zu Wohnungen an verschiedenen Standorten [...].
Asylsuchende werden nur dann in den Aufnahmeeinrichtungen untergebracht, wenn genügend Kapazitäten vorhanden sind. Im Jahr 2023 waren nach den Zahlen von OFII 98,1 % der Plätze des nationalen Aufnahmesystems belegt [...]. Damit gibt es nicht genügend freie Plätze, sodass OFII die Fälle nach individuellen Umständen und Schutzbedürftigkeit priorisieren muss [...]. Die CADA-Aufnahmezentren nehmen dabei vorrangig Asylwerber mit sofort erkennbaren Merkmalen von Vulnerabilität auf, also Familien mit Kleinkindern, Schwangere und Alte [...]. In der Praxis besteht in Frankreich eine Diskrepanz zwischen der Art der verfügbaren Plätze und den Bedürfnissen der Asylbewerber. Viele Aufnahmezentren sind so organisiert, dass sie Familien oder Paare aufnehmen, was die Unterbringung alleinstehender Männer oder Frauen erschwert. Ein parlamentarischer Bericht stellt dem gegenüber, dass, zumindest im regionalen Kontext, 61,8 % der Asylbewerber alleinstehende Männer, 11,1 % alleinstehende Frauen und nur 27,1 % Familien sind, während von den 3.000 leeren Wohneinheiten (entsprechend 5.000 Personen), die im Juli 2021 zur Verfügung standen, 71 % der Plätze für Familien vorgesehen waren [...]. Von den im Jahr 2023 untergebrachten Personen waren 58,4 % Familien und nur 41,6 % alleinstehende Personen [...].
Im Jahr 2024 wurden 1.000 neue Plätze (500 in CADA und 500 in CAES) für Asylsuchende eröffnet [...]. Allerdings gibt es trotz der Schaffung Tausender neuer Unterkunftsplätze in den vergangenen Jahren eine gläserne Decke von 60.000 bis 70.000 Asylbewerbern, die seit 2018 in den dafür vorgesehenen Einrichtungen untergebracht sind. Die Anzahl und der Anteil der Personen mit internationalem Schutzstatus oder abgelehnten Asylbewerbern, die in den Unterkünften verbleiben, manchmal über die vorgeschriebenen Fristen von drei bis sechs Monaten bzw. einem Monat hinaus, ist erheblich [...]. Im Jahr 2023 waren nur 79 % der Plätze im DNA belegt von Asylbewerbern und anderen berechtigten Personen, während die übrigen Plätze genutzt wurden von abgelehnten Asylbewerbern und anerkannten Schutzberechtigten, die sich über die gesetzlich vorgeschriebene Frist hinaus noch in den Einrichtungen aufhielten [...].
Ende des Jahres 2023 waren nur 61 % der leistungsberechtigten Asylbewerber [...] in staatlichen Aufnahmeeinrichtungen des DNA untergebracht. Seit Anfang 2024 lag die Unterbringungsquote bei durchschnittlich 64,8 %. Für das Jahr 2025 strebt die französische Regierung eine Quote von 65 % an. Zwar berücksichtigen diese Zahlen nicht die Asylbewerber, die in einer allgemeinen - nicht nur für Asylbewerbern vorgesehenen - Notunterkunft im Rahmen des Programms 177 untergebracht waren [...]. Doch auch unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Notunterkünfte waren im Jahr 2023 nur 73,2 % der Asylbewerber mit Anspruch auf die Gewährung materieller Aufnahmebedingungen kostenlos untergebracht. [...] Hinzu kommt, dass die französischen Behörden Asylbewerbern in vielen Fällen die materiellen Aufnahmebedingungen entziehen, wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstoßen, etwa die ihnen zugewiesene Unterkunft nicht beziehen oder ihren Asylantrag zu spät stellen. [...]
Den leistungsberechtigten Asylbewerber, die keinen Zugang zu den staatlichen Aufnahmeeinrichtungen oder allgemeinen Notunterkünften erhalten, bleibt nur die Anmietung einer Unterkunft auf dem privaten Wohnungsmarkt. Eigenständig ein Einkommen zu erzielen, das es ihnen erlaubt, die durchschnittlichen Mieten zu finanzieren, ist für sie jedoch faktisch kaum möglich und im ersten halben Jahr des Asylverfahrens sogar rechtlich ausgeschlossen.
Seit März 2019 ist der Zugang zum französischen Arbeitsmarkt nur dann erlaubt, wenn das OFPRA (Office français de protection des réfugiés et apatrides, zu Deutsch: Französisches Amt für den Schutz von Flüchtlingen und Staatenlosen) nicht innerhalb von sechs Monaten nach Einreichung des Asylantrags über den Antrag entschieden hat und wenn diese Verzögerung nicht dem Antragsteller zugerechnet werden kann [...]. Andere Bestimmungen legen jedoch fest, dass, selbst wenn das OFPRA nach sechs Monaten noch keine Entscheidung getroffen hat, der Zugang zum Arbeitsmarkt nicht automatisch gegeben ist: Der Asylbewerber unterliegt nunmehr den für ausländische Arbeitnehmer geltenden allgemeinen Rechtsregeln für die Erteilung einer Arbeitserlaubnis. Er muss also bei den staatlichen Stellen im Departement seines Wohnsitzes einen Antrag stellen und insbesondere einen Arbeitsvertrag oder eine Einstellungszusage vorlegen. Bei ihrer Entscheidung prüft die Behörde insbesondere die Beschäftigungssituation in dem betreffenden Beruf und der betreffenden Arbeitsmarktregion. Der Asylbewerber hat also nach einer Frist von sechs Monaten ohne Antwort des OFPRA kein Recht auf Arbeit, sondern lediglich das Recht, eine Arbeitserlaubnis zu beantragen, die innerhalb von bis zu zwei Monaten bearbeitet werden kann und in der Praxis überwiegend verweigert wird [...].
Asylbewerbern wird in Frankreich eine monatliche Beihilfe [...] ausgezahlt, deren Höhe abhängig ist von der Anzahl der Familienmitglieder [...]. Die Höhe der Beihilfe betrug im Dezember 2023 für alleinstehende Asylsuchende, die aufgrund mangelnder Kapazitäten nicht über das nationale Aufnahmesystem untergebracht werden konnten, 426 Euro. [...]
Es ist somit davon auszugehen, dass die meisten der knapp 27 % leistungsberechtigten Asylbewerber, die nicht auf Staatskosten untergebracht werden können, obdachlos werden und auf der Straße schlafen müssen. Obdachlosigkeit ist in Frankreich ein strukturelles Problem, das auch französische Staatsbürger betrifft, Asylsuchende jedoch in besonders schwerwiegender Art und Weise. [...]
In der nicht vulnerablen Asylantragstellern drohenden Obdachlosigkeit liegt auch eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC. Soweit das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz und der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Hinblick auf drohende Obdachlosigkeit anerkannter Schutzberechtigter in Italien vertreten, "eine Obdachlosigkeit im Sinne einer (dauerhaften) Wohnungslosigkeit [sei] für sich genommen weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Annahme einer mit Art. 4 GRC unvereinbaren Aufnahmesituation im Sinne einer extremen materiellen Not" [...], so entbehrt diese Wertung jeder sachlichen Grundlage und widerspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. [...]
Die Wahrscheinlichkeit von Obdachlosigkeit und Verelendung im Falle einer Rückführung nach Frankreich ist für den Kläger zudem deswegen erhöht, weil er nicht innerhalb von 90 Tagen nach seiner Einreise am 29.01.2024 einen Asylantrag gestellt hat. Personen, die ihren Antrag zu spät einbringen (mehr als 90 Tage nach Einreise ohne legitimen Grund, franz. "sans motif légitime"), wird, wie ausgeführt unter Berücksichtigung von Art. 20 der Aufnahmerichtlinie, der Zugang zu Versorgung, also zu einer Unterbringung in einer staatlichen Aufnahmeeinrichtung und zur Gewährung der ADA, verwehrt. [...]