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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 30.04.2025 - 11 S 1157/24 - asyl.net: M33402
https://www.asyl.net/rsdb/m33402
Leitsatz:

Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung kann schriftlich erfolgen:

1. Das Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung, das Voraussetzung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG ist, muss aktiv abgegeben werden.  Dazu genügt eine schriftliche Erklärung gegenüber der zuständigen Behörde. 

2. Die in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Var. 2 AufenthG vorgesehene Bagatellgrenze von 90 Tagessätzen, die einer Erteilung der Aufenthaltserlaubnis noch nicht entgegensteht, findet auf Verurteilungen wegen Straftaten nach § 9 Abs. 1 FreizügG/EU keine Anwendung. Für Verurteilungen nach § 9 Abs. 1 FreizügG/EU gilt die Bagatellgrenze von 50 Tagessätzen. 

3. Die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 FreizügG/EU ist nicht als Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne des § 7 AufenthG zu qualifizieren, weil die Aufenthaltskarte in § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht zu den Aufenthaltstiteln gezählt wird. Die Aushändigung einer Aufenthaltskarte nach § 5 FreizügG/EU hat lediglich deklaratorischen Charakter.

4. Aufenthaltszeiten von Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, bei denen die Freizügigkeit nur vermutet wird, können nicht auf die notwendigen Voraufenthaltszeiten einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c oder § 25b AufenthG angerechnet werden. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Chancen-Aufenthaltsrecht, Straftat, Bagatellgrenze, Freizügigkeitsrecht, Aufenthaltszeit, Voraufenthalt, Analogie, Mindestaufenthaltszeit, Aufenthaltskarte, Freizügigkeitsvermutung, freiheitliche demokratische Grundordnung, Anrechnung, Anrechenbarkeit,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 1, AufenthG § 104c Abs. 1, FreizügG/EU § 9 Abs. 1, FreizügG/EU § 11 Abs. 15
Auszüge:

[...]

2 Der Antragsteller, ein indischer Staatsangehöriger, reiste ... 2014 gemeinsam mit seiner portugiesischen Ehefrau ins Bundesgebiet ein, die er ... 2014 in Dänemark geheiratet hatte. Der Antragsteller hatte sich bereits zuvor im Bundesgebiet aufgehalten, das er nach dem erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens im Jahr 2008 verlassen hatte.

3 Am 30.09.2014 händigte ihm die damals zuständige Stadt ... erstmals eine befristete und am 07.09.2015 eine bis 30.09.2019 gültige Aufenthaltskarte gem. § 5 Abs. 1 FreizügG/EU aus. Im Juli 2019 beantragte der Antragsteller gegenüber dem Landratsamt ... die Erteilung einer Daueraufenthaltsbescheinigung und legte hierbei insbesondere eine mit den Unterschriften des Antragstellers und seiner Ehefrau versehene Erklärung vor. In dieser bestätigten beide, dass ihre Ehe weiterhin Bestand habe und sie gemeinsam unter der angegebenen Anschrift in ... lebten. Im August 2019 teilt sein damaliger Prozessbevollmächtigter mit, der Antragsteller habe sich Ende 2018 von seiner Ehefrau getrennt und diese sei nach Portugal zurückgekehrt. Am 27.12.2019 erklärte der Antragsteller, er nehme seinen Antrag auf Erteilung einer Daueraufenthaltsbescheinigung zurück. Zugleich beantragte er die "Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 3 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz/EU". [...]

9 Mit Bescheid vom 15.12.2023, dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zugestellt am 27.12.2023, stellte das Landratsamt das Nichtbestehen des Rechts des Antragstellers auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 2 Abs. 4 FreizügG/EU unter Anordnung der sofortigen Vollziehung fest, forderte den Antragsteller zur Ausreise auf und drohte ihm die Abschiebung an. Zugleich ordnete es gemäß § 7 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU ein auf drei Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot an, dessen Frist mit der Ausreise des Antragstellers in Lauf gesetzt werde, sowie ein auf zwei Jahre befristetes, an die Abschiebung des Antragstellers anknüpfendes Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG.

10 Am 30.12.2023 stellte der Antragsteller den streitgegenständlichen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 bzw. § 104c AufenthG, den das Landratsamt ... mit Bescheid vom 25.03.2024 ablehnte. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der Antragsteller habe nicht nachgewiesen, dass er über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik sowie über die erforderlichen Sprachkenntnisse verfüge. Auch begründe die Täuschung über den Fortbestand der ehelichen Lebensgemeinschaft einen Ausnahmefall von der Annahme einer nachhaltigen Integration (§ 25b AufenthG). Zudem bestehe aufgrund der strafgerichtlichen Verurteilung ein Ausweisungsinteresse mit der Folge, dass eine Regelerteilungsvoraussetzung fehle. Umstände, die in der  Gesamtschau eine nachhaltige Integration rechtfertigten, lägen beim Antragstellers nicht vor. Er habe weder familiäre Bande geknüpft noch besondere Integrationsleistungen erbracht, wie z.B. ehrenamtliches Engagement. Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c AufenthG stehe entgegen, dass mit der strafgerichtlichen Verurteilung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen wegen einer Straftat, die nicht ausschließlich von Ausländern begangen werden könne, ein Ausschlussgrund erfüllt sei. [...]

17 1. a) Das Verwaltungsgericht hat in der angegriffenen Entscheidung ausgeführt, es sei davon auszugehen, dass der Antragsteller sich zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekenne. Der Nachweis hierfür sei regelmäßig durch eine schriftliche Erklärung zu erbringen, die für den Antragsteller noch nicht vorliege. [...]

19 c) Bereits mit diesem Vorbringen ist eine wesentliche, die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu § 104c AufenthG tragende Erwägung, es sei davon auszugehen, dass sich Antragsteller zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekenne, das Bekenntnis zwar noch nicht abgegeben habe, dies aber nachholen könne, erfolgreich in Zweifel gezogen. Denn ein aus § 104c AufenthG abgeleiteter Anspruch auf eine Verfahrensduldung ist regelmäßig zu verneinen, wenn der Antragsteller im maßgeblichen Zeitpunkt für die Prüfung der Sach- und Rechtslage das nach § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG erforderliche Bekenntnis noch nicht abgegeben hat.

20 Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG setzt voraus, dass sich der Ausländer zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt. Dabei hat der Ausländer das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung aktiv bzw. positiv abzugeben [...]. Aus einem Vergleich mit § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG folgt, dass es nicht genügt, wenn lediglich keine konkreten Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Ausländer sich nicht im vorgenannten Sinn bekennt [...].

21 Das - an das Staatsangehörigkeitsrecht angelehnte - Bekenntnis soll sicherstellen, dass nur Personen ein verfestigungsoffenes Aufenthaltsrecht erhalten oder - weitergehend - in den deutschen Staatsverband eingebürgert werden, welche die Konstruktionsprinzipien einer freiheitlichen Staatsordnung anerkennen, die auf demokratischen Grundsätzen beruht und die Menschenwürde und Freiheit ihrer Bürger wahrt und achtet. Es handelt sich hierbei um eine höchstpersönliche Erklärung, die im Titelerteilungsverfahren nach § 104c AufenthG von Ausländern zu verlangen ist, die das 16. Lebensjahr bereits vollendet haben [...].

22 Ein solches höchstpersönlich abzugebendes, aktives bzw. positives Bekenntnis des Antragstellers liegt - trotz des ausdrücklichen Hinweises des Verwaltungsgerichts, der Antragsteller könne das Bekenntnis schriftlich abgeben - auch im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung des Beschwerdegerichts [...] nicht vor.

23 Fehl geht der Antragsteller mit seiner Annahme, er könne das Bekenntnis ausschließlich gegenüber einem Mitarbeiter des Antragsgegners im Rahmen einer Vorsprache abgeben, was erfordere, dass der Antragsgegner den Antragsteller einlade. Denn das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung gemäß § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG kann gegenüber der zuständigen Ausländerbehörde ohne Weiteres auch schriftlich abgegeben werden [...]. Mit der Vorlage eines schriftlichen Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung genügt der Ausländer seiner Obliegenheit, das Bekenntnis aktiv abzugeben [...]. Dies schließt natürlich nicht aus, dass er auch gehalten ist, nach Aufforderung und Einladung durch die Ausländerbehörde in einem Termin zu seiner persönlichen Anhörung zur Klärung der Frage beizutragen, ob er nur ein - unzureichendes - Formalbekenntnis abgegeben hat oder ob er sich auch inhaltlich zu den unabänderlichen Strukturprinzipien der Bundesrepublik Deutschland bekennt. [...]

25 a) Der Antragsteller erfüllt nicht alle Anspruchsvoraussetzungen von § 104c Abs. 1 AufenthG. Wie bereits ausführlich dargestellt, fehlt es an einem Bekenntnis des Antragstellers zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Darüber hinaus steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG der in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG normierte gesetzliche Ausschlussgrund entgegen.

26 Nach dieser Vorschrift kann eine Aufenthaltserlaubnis nur erteilt werden, wenn der Ausländer nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach dem Aufenthaltsgesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, oder Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht, die nicht auf Jugendstrafe lauten, grundsätzlich außer Betracht bleiben.

27 Bei Überschreitung des in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Strafmaßes besteht nach dem eindeutigen Wortlaut der Regelung ein zwingender Versagungsgrund [...]

28 Der Antragsteller wurde gemäß § 9 Abs. 1 FreizügG/EU, § 53 StGB wegen unrichtiger Angaben zur Beschaffung einer Daueraufenthaltskarte (EU) in zwei tatmehrheitlich begangenen Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen verurteilt. Er hat die Straftaten im Bundesgebiet und - da gemäß § 9 Abs. 1 FreizügG/EU ausschließlich vorsätzliches Handeln strafbewehrt ist [...] - vorsätzlich begangen. [...]

29 Im Fall des Antragstellers können lediglich Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen außer Betracht bleiben und stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG nicht entgegen. Denn die Verurteilung des Antragstellers ist, wie das Verwaltungsgericht zutreffend erkannt hat, "nicht nach dem Aufenthalts- oder Asylgesetz, sondern nach dem Freizügigkeitsgesetz erfolgt". Die Bagatellgrenze von 90 Tagessätzen in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Var. 2 AufenthG ist aber auf Verurteilungen wegen der Begehung von Straftaten nach § 9 Abs. 1 FreizügG/EU nicht anzuwenden.

30 Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts sind aber auch die Voraussetzungen für eine analoge Anwendung der Norm nicht gegeben. Eine Analogie setzt voraus, dass die betreffende Norm eine planwidrige Regelungslücke aufweist und dass eine vergleichbare Interessenlage zwischen dem vom Normgeber geregelten und dem ungeregelten Fall besteht (BVerwG, Urteil vom 13.11.2024 - 9 C 3.23 - juris Rn. 28 ff. mit weiteren Nachweisen). Beides ist nicht der Fall.

31 aa) Es fehlt bereits an einer planwidrigen Regelungslücke im Normsystem des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG, die im Wege der Analogie geschlossen werden muss.

32 [...] Ob eine Gesetzeslücke vorliegt, ist danach zu beurteilen, ob die vom Regelungsprogramm des Gesetzgebers erfassten Fälle in den gesetzlichen Vorschriften tatsächlich Berücksichtigung gefunden haben. [...]

33 Gemessen daran kann der Senat nicht feststellen, dass die hier zu entscheidende Konstellation, in der ein Ausländer wegen nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU begangener Straftaten verurteilt wurde, nach dem Sinn und Zweck von § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Var. 2 AufenthG von der Vorschrift erfasst werden sollte. [...]

35 Sowohl in der Gesetzesbegründung als auch in der während des Gesetzgebungsverfahrens abgegebenen Beschlussempfehlung und in dem Bericht des Ausschusses für Inneres und Heimat kommt in aller Deutlichkeit zum Ausdruck, dass der Straffreiheit des Ausländers, der ein Chancen-Aufenthaltsrecht begehrt, große Bedeutung zugemessen wird [...]. Dass der Gesetzgeber übersehen haben könnte, den in von § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Var. 2 AufenthG genannten Strafrahmen von 90 Tagessätzen auch für Verurteilungen nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU zu berücksichtigen, liegt fern. Der eindeutige Wortlaut und der Ausnahmecharakter der Norm lassen deutlich erkennen, dass es dem Gesetzgeber daran gelegen war, Ausnahmen vom Grundsatz der Straffreiheit nur in äußerst eng begrenzten Fällen zuzulassen. Der Ausnahmecharakter der Vorschrift in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG wird weiter dadurch unterstrichen, dass die darin genannten Straftaten nur "grundsätzlich außer Betracht bleiben", im Einzelfall also der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis entgegenstehen können. Hätte der Gesetzgeber im Rahmen des § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Var. 2 AufenthG auch Straftaten nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU einbeziehen wollen, hätte er dies bei einer der seit der Einführung des Chancen-Aufenthaltsrechts vorgenommenen, zahlreichen weiteren Änderungen des Aufenthaltsgesetzes regeln können. Dass er davon abgesehen hat, spricht ebenfalls gegen das Vorliegen einer planwidrigen Regelungslücke. Dieser Umstand gewinnt umso mehr an Gewicht, wenn man berücksichtigt, dass neben dem § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Var. 2 AufenthG wortgleiche, teilweise seit über einem Jahrzehnt nahezu unverändert geltende Regelungen existieren - § 19d Abs. 1 Nr. 7, Abs. 1b, § 25a Abs. 3 und § 104a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG - und der Gesetzgeber auch bei diesen Ausnahmevorschriften über einen sehr langen Zeitraum keinen Bedarf gesehen hat, ihren Anwendungsbereich auf das Freizügigkeitsgesetz/EU auszuweiten.

36 bb) Überdies fehlt es hier an einer vergleichbaren Interessenlage im Verhältnis zu den von § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Var. 2 AufenthG erfassten Fällen.

37 Mit der Vorschrift in § 9 FreizügG/EU hat der Gesetzgeber Art. 36 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Abl. L 158 vom 30.04.2004, S. 77) - Freizügigkeitsrichtlinie -, in nationales Recht umgesetzt [...]. Diese unionsrechtliche Vorschrift bestimmt, dass die Mitgliedstaaten Bestimmungen und Sanktionen festlegen, die bei einem Verstoß gegen die einzelstaatlichen Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie zu verhängen sind. Diese Sanktionen müssen wirksam und verhältnismäßig sein. § 9 FreizügG/EU dient im Gegensatz zu den in § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Var. 2 AufenthG in Bezug genommenen Straftaten nach dem Ausländergesetz oder dem Asylgesetz, namentlich § 95 Abs. 1 Nrn. 1 bis 7, Abs. 2 Nrn. 1 und 1a AufenthG, § 85 AsylG, der Sicherung des Systems der europäischen Freizügigkeit durch Sanktionsandrohungen bei Verstößen [...]. Dies hat das Verwaltungsgericht unberücksichtigt gelassen, indem es bei der Prüfung der Vergleichbarkeit der Interessenlage lediglich auf die Sanktionierung der Verletzung einer spezifisch an Ausländer adressierten Verhaltenspflicht abgestellt hat.

38 In Ansehung der vorstehenden Ausführungen kann der Senat die umstrittene Frage unbeantwortet lassen, ob es sich bei einer nach § 9 Abs. 1 FreizügG/EU begangenen Straftat um eine solche handelt, die nur von Ausländern begangen werden kann [...].

39 b) Der Antragsteller erfüllt auch nicht sämtliche Anspruchsvoraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25b Abs. 1 AufenthG. [...]

41 Der Antragsteller erfüllt die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG weder im Hinblick auf Nr. 1 (aa)) noch Nr. 2 (bb)). [...]

42 aa) Der Antragsteller erfüllt nicht die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG, da er sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (BVerwG, Urteil vom 18.12.2019 - 1 C 34.18 - juris Rn. 34) nicht seit mindestens sechs Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat. Auch lebt er nicht seit mindestens vier Jahren mit einem minderjährigen ledigen Kind in häuslicher Gemeinschaft.

43 Der geduldete, gestattete oder von einer Aufenthaltserlaubnis gedeckte Voraufenthalt muss sich auf mindestens sechs bzw. vier Jahre belaufen und grundsätzlich ununterbrochen bis hin zum maßgeblichen Zeitpunkt fortdauern [...]. Hiernach sind insbesondere Zeiten anrechnungsfähig, in denen eine abgelaufene Aufenthaltserlaubnis nach rechtzeitiger Stellung eines Verlängerungsantrags für die Dauer des behördlichen Verfahrens gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG fiktiv fortgilt oder in denen der Ausländer - nach Beendigung der Fortgeltungsfiktion - beim Verwaltungsgericht um die Verlängerung einer zuvor innegehabten Aufenthaltserlaubnis streitet, soweit ihm vorläufiger Rechtsschutz gewährt worden ist [...].

44 Nach diesen Maßstäben erfüllt der Antragsteller die qualifizierte Voraufenthaltszeit von sechs Jahren im hier maßgeblichen Zeitraum ab April 2019 nicht. In diesem Zeitraum war sein Aufenthalt weder gestattet noch von einer Aufenthaltserlaubnis gedeckt. Soweit dem Antragsteller eine Aufenthaltskarte gemäß § 5 FreizügG/EU ausgestellt worden war, kann diese keinen ununterbrochenen Voraufenthalt vermitteln, da ihre Gültigkeitsdauer am 30.09.2019 abgelaufen war [...]. Die Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 FreizügG/EU ist auch keine Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 7 AufenthG, da die Aufenthaltskarte in § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nicht als Aufenthaltstitel genannt ist [...]. Darüber hinaus hat die Aushändigung einer Aufenthaltskarte im Unterschied zur Aufenthaltserlaubnis keinen rechtsbegründenden oder auch nur feststellenden, sondern lediglich deklaratorischen Charakter [...]

45 Im Fall des Antragstellers bestehen auch keine anrechnungsfähigen Zeiträume, in denen er zwar keinen Aufenthaltstitel besessen, aber einen Rechtsanspruch auf einen Aufenthaltstitel gehabt hätte [...] Einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis im Sinne von § 81 Abs. 1 AufenthG hat der Antragsteller aber erstmals mit dem streitgegenständlichen Antrag vom 30.12.2023 gestellt. 46 Auch eine berücksichtigungsfähige Fiktionswirkung gemäß § 81 Abs. 4 AufenthG besteht nicht, da der Antragsteller - wie bereits ausgeführt - keinen Aufenthaltstitel besaß, was § 81 Abs. 4 AufenthG aber voraussetzt [...].

47 Zudem hält sich der Antragsteller erst ab dem 14.02.2024 geduldet im Bundesgebiet auf, nachdem er an diesem Tag erstmals eine Duldungsbescheinigung erhielt. Dass ihm zuvor ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung zugestanden hätte, kann der Senat nicht feststellen. Insbesondere war die Abschiebung des Antragstellers, der einen gültigen Reisepass besitzt, weder aus tatsächlich noch rechtlichen Gründen unmöglich.

48 Soweit der Antragsgegner dem Antragsteller am 14.02.2020 erstmals eine Fiktionsbescheinigung ausgestellt und im Folgenden im Wesentlichen lückenlos bis zum 11.11.2023 verlängert hat, kann der Senat offenlassen, ob die bloße Ausstellung von Fiktionsbescheinigungen die Anrechnungsfähigkeit des entsprechenden Zeitraums auch dann begründen kann, wenn - wie hier - eine Fiktionswirkung nicht eingetreten ist [...].

49 Schließlich erfüllt der Antragsteller die Voraussetzung des sechsjährigen qualifizierten Aufenthalts auch nicht - wie vom Verwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung von § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG angedeutet - in Ansehung von § 11 Abs. 15 FreizügG/EU. Nach dieser Vorschrift entsprechen Zeiten des rechtmäßigen Aufenthalts nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU unter fünf Jahren den Zeiten des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis.

50 Da - wie bereits ausgeführt - das von seiner Ehefrau abhängige Freizügigkeitsrecht des Antragstellers mit ihrem endgültigen Wegzug "vor dem 30.07.2019" aus dem Bundesgebiet erlosch, können Aufenthaltszeiten nach diesem Zeitpunkt nicht nach § 11 Abs. 15 FreizügG/EU angerechnet werden. Denn entgegen einer in einem Teil der Kommentarliteratur vertretenen Ansicht [...] sind Aufenthaltszeiten von Unionsbürgern und deren Familienangehörigen ohne Freizügigkeitsberechtigung nicht nach § 11 Abs. 15 FreizügG/EU anzurechnen. Es genügt für eine Anrechenbarkeit nicht, wenn eine "Freizügigkeitsvermutung" besteht, d.h. bei Zeiträumen, in denen der Unionsbürger und sein Familienangehöriger nicht freizügigkeitsberechtigt waren, die Ausländerbehörde aber noch keine Feststellung des Verlustes oder des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts ausgesprochen hat. [...]

53 bb) Weiterhin liegen derzeit auch nicht die Voraussetzungen des § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG vor. Danach setzt die nachhaltige Integration regelmäßig voraus, dass sich der Ausländer zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet verfügt. [...]