Voraussetzungen für die Verlängerung der Frist zur Prüfung eines Asylantrages:
1. Die Frist zur Entscheidung über einen Asylantrag von 6 Monaten kann um höchstens neun weitere Monate verlängert werden, wenn eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist von sechs Monaten abzuschließen. Eine solche Situation liegt vor, wenn die Zahl der Asylanträge innerhalb eines kurzen Zeitraums im Vergleich zu den normalen und vorhersehbaren Entwicklungen erheblich gestiegen ist.
2. Ein allmählicher Anstieg der Zahl der Asylanträge über einen langen Zeitraum erfüllt den Tatbestand nicht.
3. Andere Umstände als die große Anzahl gleichzeitig gestellter Anträge wie z. B. das vorherige Vorliegen einer großen Menge nicht bearbeiteter Anträge oder die unzureichende Personalausstattung der Asylbehörde rechtfertigen keine Verlängerung der Bearbeitungsfrist.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
9 Am 10. April 2022 stellte X, ein türkischer Staatsangehöriger, einen Antrag auf internationalen Schutz in den Niederlanden.
10 Am 21. September 2022 erließ der Staatssekretär für Justiz und Sicherheit den WBV 2022/22, mit dem die gesetzliche Frist von sechs Monaten für die Prüfung von Anträgen auf Erteilung befristeter Aufenthaltstitel für Asylsuchende um neun Monate verlängert wurde.
11 Am 13. Oktober 2022 forderte X den Staatssekretär für Justiz und Sicherheit zum Handeln auf, da dieser innerhalb der Sechsmonatsfrist keine Entscheidung getroffen hatte.
12 Da der Staatssekretär für Justiz und Sicherheit in den darauffolgenden zwei Wochen nicht reagierte, erhob X Klage bei der Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande).
13 Mit Urteil vom 6. Januar 2023 entschied jenes Gericht, dass die von X erhobene Klage begründet sei und dass der Staatssekretär für Justiz und Sicherheit die Frist für die Prüfung von Anträgen auf Erteilung befristeter Aufenthaltstitel für Asylsuchende mit dem WBV 2022/22 nicht rechtmäßig verlängert habe. Das Gericht verpflichtete diese Behörde mit diesem Urteil ferner, innerhalb von acht Wochen ab dem Datum des Urteils eine erste Anhörung durchzuführen und innerhalb von acht Wochen ab dieser ersten Anhörung über den Antrag von X zu entscheiden, und setzte andernfalls ein Zwangsgeld von 100 Euro für jeden Tag des Verzugs fest. [...]
31 Mit der ersten und der zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Frist von sechs Monaten für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz von der Asylbehörde um neun Monate verlängert werden kann, wenn die Zahl dieser Anträge über einen längeren Zeitraum allmählich gestiegen ist, oder ob für die Zwecke der Anwendung dieser Bestimmung der Zeitraum, in dem der Anstieg dieser Zahl erfolgen muss, zeitlich begrenzt ist.
32 Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die Sechsmonatsfrist für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz verlängern können, wenn eine große Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gleichzeitig internationalen Schutz beantragt, so dass es in der Praxis sehr schwierig ist, das Verfahren innerhalb dieser Frist abzuschließen.
33 Somit hängt die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, die Sechsmonatsfrist für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz nach dieser Bestimmung zu verlängern, davon ab, dass drei eng miteinander verknüpfte Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind, nämlich erstens, dass Anträge auf solchen Schutz "gleichzeitig" gestellt werden, zweitens, dass diese Anträge von "einer großen Anzahl" von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellt werden, und drittens, dass es dann für die Behörden des Mitgliedstaats "in der Praxis sehr schwierig ist, das Verfahren innerhalb der Frist von sechs Monaten abzuschließen". Diese miteinander verbundenen Voraussetzungen sind zusammen auszulegen.
34 Was erstens die Voraussetzung betrifft, dass Anträge auf internationalen Schutz gleichzeitig gestellt werden, ist festzustellen, dass keine Bestimmung der Richtlinie 2013/32 Sinn und Tragweite des Begriffs "gleichzeitig" definiert. Er ist daher entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auszulegen, wobei der Kontext, in dem er verwendet wird, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der er gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen sind (vgl. entsprechend Urteil vom 6. Juli 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Besonders schwere Straftat], C-402/22, EU:C:2023:543, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).
35 Entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch ist dieser Begriff ein Synonym für "zugleich", was grundsätzlich bedeutet, dass die große Anzahl von Anträgen auf internationalen Schutz, auf die in Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 Bezug genommen wird, zum selben Zeitpunkt gestellt werden muss.
36 Da jedoch, wie die Generalanwältin in Nr. 45 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, Anträge auf internationalen Schutz in der Praxis selten tatsächlich genau zur selben Zeit gestellt werden, ist der Begriff "gleichzeitig" – damit dieser Bestimmung nicht jede praktische Wirksamkeit genommen wird – im Sinne von "innerhalb eines kurzen Zeitraums" zu verstehen, was darauf hindeutet, dass diese Bestimmung nicht den Fall erfasst, in dem die Zahl dieser Anträge über einen längeren Zeitraum allmählich steigt.
37 Was zweitens die Voraussetzung betrifft, dass Anträge auf internationalen Schutz von einer "großen" Anzahl von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellt werden müssen, verweist der Begriff "groß" entsprechend seinem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch auf eine "hohe" Anzahl von Personen, die internationalen Schutz beantragen.
38 Da die Richtlinie 2013/32, wie die Generalanwältin in den Nrn. 46 und 48 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, keine Kriterien enthält, anhand deren sich eine solche Zahl, und sei es auch nur relativ, quantifizieren ließe, ist die Beurteilung des Vorliegens einer "großen Anzahl" von Antragstellern unter Berücksichtigung des normalen und vorhersehbaren Zustroms von Anträgen auf internationalen Schutz in dem betreffenden Mitgliedstaat auf der Grundlage aktueller und historischer statistischer Entwicklungen vorzunehmen. Damit es sich um eine "große Anzahl" von Anträgen auf internationalen Schutz handelt, die "gleichzeitig" im Sinne von Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 gestellt wurden, muss die Asylbehörde somit auf der Grundlage einer vergleichenden Analyse von Zahlen feststellen, dass die Zahl dieser Anträge innerhalb eines kurzen Zeitraums im Vergleich zu den normalen und vorhersehbaren Entwicklungen im betreffenden Mitgliedstaat erheblich zugenommen hat.
39 Was drittens die Voraussetzung des Vorliegens praktischer Schwierigkeiten betrifft, innerhalb der Frist von sechs Monaten die Bearbeitung einer großen Anzahl gleichzeitig gestellter Anträge auf internationalen Schutz abzuschließen, ist die Beurteilung der Frage, ob solche Schwierigkeiten vorliegen, insbesondere im Hinblick auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 vorzunehmen.
40 Diese Bestimmung sieht vor, dass die Mitgliedstaaten zum einen für alle Verfahren eine Asylbehörde benennen, die für eine angemessene Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz gemäß dieser Richtlinie zuständig ist, und zum anderen sicherstellen, dass diese Behörde zur Erfüllung ihrer Aufgaben nach Maßgabe dieser Richtlinie angemessen ausgestattet ist und über kompetentes Personal in ausreichender Zahl verfügt.
41 Da die Asylbehörde aber über die erforderlichen Mittel verfügen muss, um in der Lage zu sein, den normalen und vorhersehbaren Zustrom der Anträge auf internationalen Schutz innerhalb der Sechsmonatsfrist zu bearbeiten, kann die Asylbehörde nur dann, wenn innerhalb eines kurzen Zeitraums ein erheblicher Anstieg solcher Anträge im Vergleich zu den normalen und vorhersehbaren Entwicklungen in diesem Mitgliedstaat eintritt, mit Kapazitätsproblemen bei der angemessenen und vollständigen Bearbeitung dieser Anträge innerhalb der Frist konfrontiert sein.
42 Dagegen muss der betreffende Mitgliedstaat, wenn die Zahl der Anträge auf internationalen Schutz über einen längeren Zeitraum allmählich steigt, gemäß Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 Maßnahmen ergreifen, um seine Fähigkeit zur Bearbeitung dieser Anträge anzupassen. Somit darf die Dauer des Zeitraums, der bei der Auslegung von Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 zu berücksichtigen ist, nicht über die Zeit hinausgehen, die ein Mitgliedstaat benötigt, um die der Asylbehörde zur Verfügung gestellten Mittel aufzustocken und wieder über ausreichende Kapazitäten für die Bearbeitung dieser Anträge im Einklang mit dieser Richtlinie zu verfügen. [...]
44 Zwar wurden die in Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 genannten Möglichkeiten einer Verlängerung der Sechsmonatsfrist geschaffen, um auf besondere Situationen zu reagieren, die eine längere Prüfungsfrist rechtfertigen, um eine angemessene und vollständige Prüfung dieser Fälle gewährleisten zu können.
45 Wie sich aus den Rn. 41 und 42 des vorliegenden Urteils ergibt, kann die Asylbehörde jedoch nur dann, wenn die Zahl der Anträge auf internationalen Schutz erheblich und innerhalb eines kurzen Zeitraums gestiegen ist, mit Kapazitätsproblemen bei der Bearbeitung dieser Anträge innerhalb des sechsmonatigen Prüfungszeitraums konfrontiert sein, die eine Verlängerung dieser Frist nach Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 rechtfertigen würden. [...]
Zur dritten Frage
50 Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. b in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen ist, dass die praktische Schwierigkeit, das Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz innerhalb der Frist von sechs Monaten abzuschließen, auf andere Umstände als die große Anzahl gleichzeitig gestellter Anträge zurückzuführen sein kann, wie z. B. auf das vorherige Vorliegen einer großen Menge nicht bearbeiteter Anträge oder die unzureichende Zahl an Personal der Asylbehörde. [...]
52 Ließe man andere Umstände als die große Anzahl gleichzeitig gestellter Anträge auf internationalen Schutz zu, um eine Verlängerung der Prüfungsfrist nach dieser Bestimmung zu rechtfertigen, würde dies die in Rn. 40 des vorliegenden Urteils genannten Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie konterkarieren.
53 Da diese Bestimmung verlangt, dass sich der betreffende Mitgliedstaat vergewissert, ob die Asylbehörde in der Lage ist, Schwankungen bei der Zahl der Anträge auf internationalen Schutz zu begegnen, wenn die Zahl dieser Anträge den normalen und vorhersehbaren Entwicklungen entspricht, sollte dieser Mitgliedstaat Mittel vorgesehen haben, die dieser Behörde eine angemessene Bearbeitungskapazität verleihen. Treten hingegen unvorhersehbare Umstände wie eine starke Zunahme gleichzeitig gestellter Anträge auf internationalen Schutz auf, kann von einem Mitgliedstaat nicht erwartet werden, dass er seinen Verpflichtungen innerhalb der vorgeschriebenen Frist von sechs Monaten nachkommt, da die ursprünglich vorgesehenen Mittel möglicherweise nicht ausreichen und dieser Mitgliedstaat nicht unbedingt in der Lage ist, den zusätzlichen Bedarf, insbesondere an Personal, den diese Zunahme erforderlich macht, sofort zu decken. [...]
55 Daraus folgt, dass die Zahl der Anträge auf internationalen Schutz, die zum Zeitpunkt des erheblichen Anstiegs der Anzahl gleichzeitig gestellter Anträge noch nicht bearbeitet worden sind, für sich genommen keinen Umstand darstellen kann, der eine Verlängerung nach Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 rechtfertigt. Bleibt die Zahl dieser Anträge über einen langen Zeitraum beständig hoch, ist es gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie Sache des Mitgliedstaats, die Asylbehörde angemessen auszustatten, um für sie eine ausreichende Bearbeitungskapazität zu gewährleisten. [...]