Kein Anspruch auf Aufnahme nach § 22 S. 2 AufenthG für ehemalige afghanische Ortskraft:
"Die von einer ehemaligen afghanischen Ortskraft gegenüber ihrem früheren deutschen Arbeitgeber abgegebene sogenannte Gefährdungsanzeige ist kein Visumantrag, sondern stellt lediglich eine informelle Möglichkeit für Ausländer dar, die Bundesregierung auf ihre Lage aufmerksam zu machen.
§ 22 Satz 2 AufenthG soll keine inzidente Prüfung der Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes schon während des Aufenthalts im Herkunftsland oder in einem Drittstaat ermöglichen.
Die Aufnahmeerklärung durch die Bundesregierung ist, wie sich aus dem Wortlaut des § 22 Satz 2 AufenthG - "Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland" - ergibt, Ausdruck staatlicher Souveränität, bei deren Prüfung die Bundesregierung eine rein innerdienstliche politische Willensbildung durchführt. Sie erfolgt nicht zugunsten des einzelnen Ausländers, sondern aus eigenem politischem Interesse der Bundesrepublik Deutschland.
Die dabei jeweils getroffenen Einzelfallentscheidungen stellen daher auch keine Außenwirkung entfaltende Verwaltungspraxis dar.
Ob der Ausländer nach § 22 Satz 2 AufenthG aufgenommen wird oder nicht, ist einer gerichtlichen Überprüfung damit grundsätzlich entzogen."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
1 Die Kläger zu 1. bis 5. afghanischer Staatsangehörigkeit begehren die Erteilung von Visa aus humanitären Gründen. Die Klägerin zu 6. hat ihre Klage im Laufe des erstinstanzlichen Verfahrens zurückgenommen. [...]
6 Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte durch Urteil vom 26. Februar 2024 verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über das Visumbegehren der Kläger zu entscheiden. Im Übrigen hat es die auf Verpflichtung der Beklagten zur Visumerteilung gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Verwaltungsgericht angeführt, die Klage sei als Untätigkeitsklage zulässig. Zwar hätten die Kläger keinen Visumantrag gestellt. Die Gefährdungsanzeige des Klägers zu 1. stelle jedoch ausnahmsweise eine ausreichende Vorbefassung der Beklagten dar. Das OKV führe bei positivem Ausgang zur Aufnahmezusage und Visumerteilung. Auf das negative Aufnahmevotum des Ressortbeauftragten des BMZ sei es der Beklagten möglich und zumutbar gewesen, einen ablehnenden Bescheid zu erlassen.
7 Die Klage sei auch in dem tenorierten Umfang begründet. Die Kläger hätten einen Anspruch auf Neubescheidung ihres Visumantrags, da die Entscheidung, ihnen keine Aufnahmezusage nach § 22 Satz 2 AufenthG und in der Folge kein nationales Visum zu erteilen, rechtswidrig sei. Die Beklagte habe sich durch ihre einheitliche Handhabung des OKV gebunden. Die Kläger könnten einen Verstoß sowohl gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz als auch gegen das Willkürverbot rügen. [...]
8 Mit ihrer von dem Senat zugelassenen Berufung macht die Beklagte geltend, die Klage sei unzulässig. Die Gefährdungsanzeige des Klägers zu 1. sei kein zu bescheidender Antrag. Die negative Entscheidung nach § 22 Satz 2 AufenthG begründe keine Bescheidungspflicht, sondern sei ein dem Visumverfahren vorgelagerter politischer Willensbildungsprozess. [...]
15 Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über ein Visumbegehren der Kläger zu entscheiden. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage abweisen müssen.
16 1. Die Klage ist bereits unzulässig. [...]
18 [...] Die Erteilung des in Rede stehenden nationalen Visums (vgl. § 6 Abs. 3 AufenthG) erfolgt zudem - ebenso wie die Erteilung eines Schengen-Visums [...] - ausschließlich auf einen entsprechenden Antrag [...]. Der Ausländer hat das Visumverfahren bei der zuständigen deutschen Auslandsvertretung zu betreiben [...]. Wie die Vertreterin der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bekundet hat, entspricht dies auch der Handhabung der Beklagten nach Abgabe einer Gefährdungsanzeige. Die Gefährdungsanzeige erübrigt nicht etwa die Stellung des Visumantrags. [...]
19 Die Kläger haben keinen Antrag auf Visumerteilung bei einer deutschen Auslandsvertretung gestellt. Dieser Umstand steht sowohl einer gerichtlichen Verpflichtung der Beklagten zur Visumerteilung als auch - als "Minus" hierzu - der erstinstanzlich ausgesprochenen Verpflichtung der Beklagten zur erneuten Bescheidung eines von dem Verwaltungsgericht so bezeichneten Visumbegehrens entgegen. [...]
21 Gemäß § 22 Satz 2 AufenthG ist eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn das BMI oder die von ihm bestimmte Stelle zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland die Aufnahme erklärt hat. Die Beklagte hat zu der in Zusammenhang mit afghanischen Ortskräften eingerichteten Verfahrensweise ausgeführt, im Rahmen des seit dem Jahr 2013 existierenden OKV biete sie den bei Auslandseinrichtungen ihrer Ministerien in Afghanistan tätigen Ortskräften an, im Fall einer aus dieser Tätigkeit erwachsenen individuellen Gefährdung eine Gefährdungsanzeige zu stellen. Für das Arbeitsverhältnis erfolge eine Einzelfallprüfung der Gefährdungslage durch den Ressortbeauftragten, der ein Aufnahmevotum gegenüber dem Auswärtigen Amt abgebe. Das Auswärtige Amt leite, sofern einem Aufnahmevorschlag keine außenpolitischen Aspekte entgegenstünden, den Vorgang an das BMI weiter. Dieses könne die Aufnahme erklären und setze hierüber das Auswärtige Amt in Kenntnis. Auf dieser Grundlage nehme das Auswärtige Amt durch die zuständige Auslandsvertretung einen gesondert zu stellenden Visumantrag entgegen, prüfe Sicherheitsbedenken nach § 73 Abs. 1 AufenthG und erteile, soweit keine Sicherheitsbedenken bestünden, ein Visum. Die Aufnahmeerklärung erstrecke sich auch auf Ehepartner sowie eigene, minderjährige, ledige, im selben Haushalt lebende Kinder, für die ggf. ebenfalls Visa zu beantragen seien.
22 Vor diesem Hintergrund leitete die von dem Kläger zu 1. abgegebene Gefährdungsanzeige eine politische Willensbildung zur Klärung der Frage ein, ob die Aufnahme erklärt werden soll. Diese politische Willensbildung war nicht Bestandteil eines Visumverfahrens, sondern ging ihm voraus. Dementsprechend stellt die Gefährdungsanzeige entgegen der erstinstanzlichen Auffassung kein Äquivalent zum Visumantrag dar. Sie ist vielmehr eine von der Beklagten (nur) anheimgestellte, informelle Möglichkeit für Ausländer, auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Sie stellt lediglich eine Selbsteinschätzung dar. [...]
30 2. Selbst wenn die Klage entgegen dem zu 1. Gesagten zulässig wäre, wäre sie unbegründet. Die Kläger haben keinen Anspruch auf "erneute" Bescheidung eines Visumbegehrens. Den gegenteiligen erstinstanzlichen Ausführungen ist nicht zu folgen.
31 2.1 Die Kläger können aus § 22 Satz 2 AufenthG keinen Anspruch herleiten.
32 § 22 Satz 2 AufenthG vermittelt kein subjektiv-öffentliches Recht. Die Vorschrift dient nicht dem Schutz und der Verwirklichung von Grundrechten der einzelnen Ausländer, sondern zielt auf eine politische Entscheidung, die Ausdruck autonomer Ausübung des außenpolitischen Spielraums des Bundes ist [...]. Der Begriff der "politischen Interessen der Bundesrepublik Deutschland" ist so weit, dass er auch solche Zwecke zu verfolgen gestattet, die mit humanitären oder völkerrechtlichen Gründen keinen Zusammenhang haben; zu denken ist etwa an außenpolitische, wirtschaftliche oder arbeitsmarktpolitische Interessen [...]. Die Entscheidung über die Aufnahme ist grundsätzlich nur Angelegenheit der Bundesregierung und einer gerichtlichen Überprüfung entzogen [...]. Es steht grundsätzlich allein im weiten Ermessen der Exekutive zu bestimmen, ob und unter welchen Voraussetzungen über die im AufenthG zum Schutz individueller Rechte normierten Zuwanderungsmöglichkeiten hinaus zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland bestimmte einzelne Ausländer aus dem Ausland aufgenommen werden [...].
33 Dementsprechend hat die Erklärung über die Aufnahme bloßen innerdienstlichen Charakter [...]. Soweit Kluth/Boley [...] demgegenüber meinen, die Aufnahmeerklärung begründe einen Anspruch des Ausländers auf Visumerteilung, leiten sie dies daraus her, der Ausländer sei Adressat der Aufnahmeerklärung, ohne dass erkennbar würde, woher die Außenwirkung des behördlichen Vorgehens rühre. Die Einschätzung entspricht auch nicht der Praxis der Beklagten. Diese hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat bekundet, gegenüber Gefährdungsanzeigern seien keine Mitteilungen über das Ergebnis der Einzelfallprüfung erfolgt.
34 Die Auffassung, § 22 Satz 2 AufenthG könne einem Ausländer Ansprüche verschaffen, berücksichtigt nicht den Zweck der Vorschrift. Die Entscheidung über die Aufnahme ist, wie ausgeführt, Ausdruck staatlicher Souveränität. Ausländer, die die Beklagte im Bundesgebiet aufnimmt, haben hierfür keine bestimmten Voraussetzungen zu erfüllen. Sie haben weder Leistungen zu erbringen noch Eigenschaften nachzuweisen oder sich in anderer Weise in einen - insbesondere rechtlichen - Rahmen einzufügen. Die Beklagte erklärt die Aufnahme nicht zugunsten dieser einzelnen Ausländer, sondern aus eigener Souveränität und aus eigenem politischem Interesse. Dieses Interesse zu bestimmen, ist allein der Staat (selbst) berufen. Falls der Staat sich hierbei im Einzelfall von einer von ihm dafürgehaltenen Gefährdung im Herkunftsland leiten lässt, liegt dies im Rahmen seines freien politischen Ermessens. Die Formulierung von der "Wahrung" politischer Interessen lässt dabei erkennen, dass kein politisches Interesse der Bundesrepublik Deutschland an der Aufnahme vorausgesetzt wird, sondern deren politisches Interesse an der Verhinderung von Folgen der Nichtaufnahme. Auf die Verhinderung derartiger Folgen kann kein Anspruch des einzelnen Ausländers bestehen. Seine Aufnahme ist lediglich Reflex der Beurteilung politischer Interessen. Folgerichtig bildet § 22 Satz 2 AufenthG keinen Rahmen für das Ergehen der politischen Entscheidung ab, sondern sieht als Tatbestandsmerkmal lediglich eine Erklärung des BMI vor [...].
36 Ein weitergehender Pflichtenkreis erwächst der Beklagten auch nicht daraus, dass sie das OKV eingerichtet hat, in dessen Rahmen Ausländer eine Gefährdungsanzeige übermitteln können. Das OKV ermöglicht es der Beklagten, auf individuell gefährdete Personen aufmerksam zu werden, deren Aufnahme aus dem Ausland den politischen Interessen der Beklagten entsprechen könnte. Um an die für eine Entscheidung über das Bestehen derartiger Interessen erforderlichen Informationen zu gelangen, nehmen die Arbeitgeber der betroffenen Ausländer Gefährdungsanzeigen entgegen. [...]
37 2.2 Die Bedeutung der Vorschrift als Ausdruck staatlicher Souveränität, die nicht die Begünstigung einzelner Ausländer im Blick hat, und der deshalb rein behördeninterne politische Charakter des beschriebenen Meinungsbildungsprozesses verdeutlicht zugleich, dass die dabei jeweils getroffenen Einzelfallentscheidungen keine Außenwirkung entfaltende Verwaltungspraxis darstellen. Es ist daher verfehlt anzunehmen, der Meinungsbildungsprozess führe zu einer Selbstbindung der Verwaltung, die in Verbindung mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG Ansprüche betroffener (ehemaliger) Ortskräfte begründen könne. [...]
47 Angesichts des individuellen Charakters der Meinungsbildung nach § 22 Satz 2 AufenthG sowie im Lichte des oben dargestellten Umstands, dass eine Pflicht der Beklagten zur Offenbarung der einer Aufnahmeentscheidung vorausgehenden schutzbedürftigen Überlegungen mit dem Gesetzeszweck nicht vereinbar ist, können die Gründe für das behördliche Vorgehen grundsätzlich nicht verwaltungsgerichtlich überprüft werden. [...]