Widerruf der Flüchtlingseigenschaft und Ablehnung des subsidiären Schutzes wegen schwerer Straftaten:
1. Es stellt eine beachtliche Veränderung der Umstände dar und kann einen Widerruf im Sinne des § 73 Abs. 1 AsylG rechtfertigen, wenn eine Straftat durch eine veränderte Rechtslage nunmehr zum Ausschluss der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führt.
2. Das Anknüpfen an eine Straftat, die vor der Neufassung des § 60 Abs. 8 AufenthG begangen wurde, stellt keine unzulässige echte Rückwirkung dar.
3. Der Ausschlussgrund des § 60 Abs. 8a AufenthG erfordert eine konkrete Wiederholungsgefahr einer vergleichbaren besonders schweren Straftat. Liegt eine Verurteilung bereits eine beachtlich lange Zeit zurück, erscheint eine Wiederholungsgefahr unwahrscheinlich.
4. Die veränderte Lage in Syrien rechtfertigt den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 73 Abs. 1 Nr. 5 AsylG (Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung geführt haben). Es droht weder eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung wegen der Entziehung vom Wehrdienst noch wegen der kurdischen Volkszugehörigkeit.
5. Für den Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Nr. 2 AsylG (schwere Straftat) ist es nicht von Bedeutung, ob eine Wiederholungsgefahr besteht. Der Ausschlussgrund gilt dauerhaft und knüpft an die aus der Straftat resultierende Unwürdigkeit an.
(Leitsätze der Redaktion)
[…]
Mit Bescheid vom 14.04.2021, laut Aktenvermerk am 01.06.2021 zur Post gegeben, widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 08.04.2016 (Az. : …- 475) zuerkannte Flüchtlingseigenschaft (Ziff. 1 ), erkannte subsidiären Schutz nicht zu (Ziff. 2) und stellte fest, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Syrien vorliegt (Ziff. 3). […]
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der verfügte Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist im maßgeblichen Zeitpunkt rechtmäßig. Der Kläger hat darüber hinaus keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes. […]
2. Die materiellen Voraussetzungen des Widerrufs der dem Kläger mit Bescheid vom 08.04.2016 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft liegen vor.
a) Er konnte aber nicht, wie von der Beklagten im Bescheid angenommen, auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG a.F. gestützt werden. […]
Der den Kläger begünstigende Bescheid vom 08.04.2016 beruhte auf der damals im Jahr 2016 geltenden Erlasslage. Vom Vorliegen dieser Begünstigung konnten daher Antragsteller ausgenommen werden, auf die die Ausschlussgründe des § 60 Abs. 8 AufenthG a.F. zutrafen. Da die den Widerruf auslösende Strafe von § 60 Abs. 8 AufenthG a.F. noch nicht erfasst war, unterfiel der Kläger dieser Ausnahmeregelung im Jahr 2016 noch nicht, so dass die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde.
Dies änderte sich erst mit dem Inkrafttreten der neuen Fassung des § 60 Abs. 8 AufenthG zum 04.11.2016, wonach "von der Anwendung des Absatzes 1 abgesehen werden [kann], wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist."
Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung findet § 60 AufenthG in der Änderungsfassung durch das Gesetz zur Verbesserung der inneren Sicherheit und des Asylsystems Anwendung, gültig seit 30.10.2024.
Gemäß § 60 Abs. 8a Nr. 1 AufenthG n. F. soll von der Anwendung des Absatzes 1 abgesehen werden, wenn [der] Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrere vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist, sofern die Straftat eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
Diesem Anwendungsfall unterfällt der Kläger, da er mit Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 08.10.1997 wegen Vergewaltigung gemäß § 177 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wurde.
Entgegen der Ansicht des Klägervertreters begründet das Anknüpfen des Beklagten an eine Straftat, die vor der Neufassung des § 60 Abs. 8 AufenthG begangen wurde, keine unzulässige echte Rückwirkung.
Denn § 60 Abs. 8a AufenthG erfordert gerade, dass der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet. Die bloße rechtskräftige Verurteilung wegen einer Straftat genügt hierfür jedoch nicht. Damit ist aber auch klar, dass es bei Anwendung dieser Vorschrift auf eine im Einzelfall zu treffende Prognoseentscheidung ankommt und nicht auf die Gestaltung eines abgeschlossenen Sachverhalts, sodass sich § 60 Abs. 8a AufenthG n. F. keine (grundsätzlich unzulässige) echte Rückwirkung beimisst. Die Rechtsfolgen der Änderung der für das Absehen von der Anwendung des Flüchtlingsschutzes und damit für dessen Widerruf maßgeblichen Kriterien gelten erst nach dem Inkrafttreten des § 60 Abs. 8a AufenthG und knüpfen lediglich tatbestandlich auch an Ereignisse vor diesem Zeitpunkt an. Eine derartige unechte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Anderes kann aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit folgen. Das ist namentlich dann der Fall, wenn bei der gebotenen Abwägung zwischen dem enttäuschten Vertrauen des Betroffenen und der Bedeutung der Neuregelung für das Wohl der Allgemeinheit den Interessen des Betroffenen ein höheres Gewicht einzuräumen. Ein solches Übergewicht der Interessen des Betroffenen lässt sich hier jedoch nicht feststellen. Vielmehr überwiegt das Interesse der Allgemeinheit an der möglichst weitgehenden Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung sowie der weitest gehenden Minimierung der prognostizierten Gefahr durch den betreffenden Ausländer für die Allgemeinheit. Im Hinblick auf die zu prognostizierende hohe Gefährdung für das besondere Schutzgut des Art. 2 Abs. 2 GG hat das Interesse des Betroffenen an der Aufrechterhaltung seines Schutzstatus zurückzutreten [...].
Dies gilt auch hinsichtlich des Umstandes, dass der Beklagten die strafrechtliche Verurteilung des Klägers im Zeitpunkt der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bereits bekannt war. Durch die (erneute) Prüfung eines Absehens von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG, die nach dem Inkrafttreten des Satzes 3 in § 60 Abs. 8 AufenthG a. F. vorzunehmen war ‒ und hier zu einem ungünstigen Ergebnis für den Kläger führte ‒, wurde kein schutzwürdiges Vertrauen enttäuscht. Ein schutzwürdiges Vertrauen kann unter solchen Umständen ‒ und damit auch im Falle des Klägers ‒ schon im Ansatz nicht entstehen, weil nach damaliger Rechtslage keine Gefahrenprognose vorgesehen war, wie sie nun § 60 Abs. 8a AufenthG ausdrücklich geregelt ist [...].
Nach der Überzeugung der Berichterstatterin stellt der Kläger jedoch keine Gefahr für die Allgemeinheit i. S. d. § 60 Abs. 8a AufenthG n. F. dar.
Hierfür ist erforderlich, dass eine konkrete Wiederholungsgefahr in Bezug auf eine entsprechend schwere Straftat vorliegt, wie in § 60 Abs. 8a AufenthG normiert. Die Begründung einer konkreten Gefahr bedarf in diesem Zusammenhang der Darlegung, dass eine neue vergleichbare Tat von dem Ausländer ernsthaft droht, wobei die lediglich entfernte Möglichkeit weiterer Taten nicht genügt. Es genügt also nicht die Gefahr irgendeiner künftigen Tat, sondern es muss gerade die erneute Begehung einer vergleichbaren besonders schweren Straftat zu befürchten sein. Bei der Prognose sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Liegt eine Verurteilung bereits eine beachtlich lange Zeit zurück, so erscheint eine Wiederholungsgefahr eher unwahrscheinlich […].
b. Der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist jedoch gemäß § 73 Abs. 1 Satz 2 Nr. 5 AsylG möglich.
aa. Ein entsprechender Austausch des Widerrufsgrundes ist vorliegend möglich. […]
Gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist gerichtlich zu prüfen, ob (und ggf. in welchem Umfang) der Bescheid mit Blick auf eine andere Rechtsgrundlage aufrechterhalten werden kann, sofern er durch die Berücksichtigung der anderen Rechtsnorm und die dadurch geänderte Begründung nicht in seinem Wesen verändert wird. […]
(b) Dem Kläger droht auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei einer Rückkehr flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
(aa) Dies ergibt sich insbesondere nicht aus seinem Vortrag, er befürchte bei einer Rückkehr Wehrdienst leisten zu müssen.
Eine Verfolgung aufgrund unterstellter oppositioneller Überzeugung im Zusammenhang mit einem Wehrdienstentzug während der Zeit des Assad-Regimes ist gegenwärtig nach dem Sturz des Regimes im Dezember 2024 erst recht nicht mehr beachtlich wahrscheinlich [...]. Die nunmehr führenden Oppositionskräfte haben für alle Wehrpflichtigen, die in der Syrischen Armee gedient haben, eine Generalamnestie erlassen und Übergriffe auf selbige untersagt [...]. Dass Männer, die sich dem Wehrdienst in der syrischen Armee in Zeiten des Assad-Regimes durch Flucht entzogen haben, von den nunmehr Syrien anführenden Kräften, die ihrerseits das Assad-Regime bekämpft und letztlich gestürzt haben, verfolgt würden, ist nicht beachtlich wahrscheinlich. Eine erhebliche und ‒ angesichts der bereits seit mehreren Jahren nicht mehr anzunehmenden Verfolgung aus politischen Gründen wegen (einfachen) Wehrdienstentzugs ‒ auch nicht nur vorübergehende Änderung der Umstände ist damit gegeben [...].
(bb) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus seiner kurdischen Volkszugehörigkeit. […]
Auch nach dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 und der Bildung einer von dem Bündnis Hai'at Tahrir asch-Scham (HTS) geführten Übergangsregierung lassen sich den vorliegenden Erkenntnismitteln keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass Kurden zum gegenwärtigen maßgeblichen Zeitpunkt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer staatlichen Verfolgung ausgesetzt wären […].
II. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG, da dieser vorliegend gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ausgeschlossen ist.
Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat. Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben. […]
Der Ausschlussgrund ist nicht gefahren- oder präventionsabhängig konzipiert, sondern als dauerhaft wirkender Ausschlusstatbestand. Die aus der Begehung einer schweren Straftat folgende Unwürdigkeit besteht auch dann fort, wenn keine Wiederholungsgefahr (mehr) besteht und von dem Ausländer auch sonst keine aktuellen Gefahren für den Aufenthaltsstaat ausgehen […].
Es ist daher - wie oben dargestellt - nicht von rechtlicher Bedeutung, ob vom Kläger eine Wiederholungsgefahr ausgeht. [...]