Keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung von Frauen in Syrien:
1. Atheist*innen drohte weder während des Assad-Regimes noch droht ihnen durch die Übergangsregierung in Syrien staatliche oder nichtstaatliche Verfolgung. Die Übergangsregierung hat den Schutz von Minderheiten zugesichert.
2. Frauen sind in Syrien nicht als soziale Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 S. 1 AsylG) einzustufen. Es gibt keine Anhaltspunkte für eine zielgerichtete Ausgrenzung von Frauen. Dies gilt auch bei sogenannter Verwestlichung.
3. Ehrenmorde knüpfen nicht gezielt an einen flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund an. Tatziel ist vielmehr die Wiederherstellung von Familienehre, ohne dabei an das Geschlecht anzuknüpfen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
II. Für die Klägerinnen ergibt sich - auch unter Berücksichtigung der Schriftsätze des Prozessbevollmächtigen der Klägerinnen vom 15. Mai 2025, die erst nach dem Ablauf der vom Gericht mit der Ladungsverfügung vom 16. April 2025 bis zum 6. Mai 2025 gesetzten Frist nach § 87b VwGO eingegangen sind - ebenfalls keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG wegen ihrer Abwendung vom Islam und der Hinwendung zum Atheismus (1.). Nichts Anderes folgt aus dem Umstand, dass die Klägerinnen - insbesondere hier in Deutschland - einen westlichen Lebensstil angenommen haben (2.).
1. Der Umstand, dass sich die Klägerin zu 1. im Jahre 2018 nach eigenem Bekunden und hier als gegeben unterstellt vom Islam abwendete und seither – wie ihre Kinder, die Klägerin zu 2. und 3., – atheistisch lebt, begründet keine beachtlich wahrscheinliche flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung.
a) Hinsichtlich der allgemeinen Situation von Atheisten in Syrien vor dem Sturz des Assad-Regimes bestanden keine beachtlichen Anhaltspunkte oder sind solche auch nur nachvollziehbar und auf Erkenntnisse gestützt vorgetragen, für eine unmittelbare staatliche oder – soweit hier relevant – eine mittelbare durch nichtstaatliche Akteure hervorgerufene bzw. drohende Gruppenverfolgung wegen der Glaubensüberzeugung der Klägerinnen [...].
Die in der damals geltenden syrischen Verfassung vorgesehene Religionsfreiheit im Rahmen der öffentlichen Ordnung - wozu auch das Bekenntnis, nicht an einen Gott zu glauben, gehört - wird in der Praxis weitgehend gewährleistet, solange keine politischen Aktivitäten verfolgt werden [...].
b) Eine Verfolgung durch staatliche Stellen zur Zeit des Assad-Regimes war vor diesem Hintergrund nicht beachtlich wahrscheinlich. Auch wenn (lediglich) die Konversion vom Islam zu anderen Religionen, insbesondere zum Christentum, grundsätzlich verboten war, sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Assad-Regime gezielt gegen die - zahlenmäßig nicht erfasste - "Gruppe der Atheisten" vorgegangen ist und diese bestraft hat [...].
d) Eine andere Bewertung aufgrund der Abwendung vom Islam und der Hinwendung der Klägerin zu 1. und ihrer Kinder, die Klägerin zu 2. und 3., zum Atheismus sowie der Nichtbefolgung von islamischen Glaubensregeln ergibt sich auch nicht aus der Machtübernahme der HTS nach dem Sturz des syrischen Assad-Regimes Ende 2024. [...]
Die neue syrische Führung hat zugesichert, dass die Rechte von Minderheiten gewahrt werden würden [...].
Dass es sich hierbei nicht lediglich um Aussagen ohne Substanz handelt, wird auch dadurch deutlich, dass in der am 29. März 2025 vorgestellten syrischen Übergangsregierung mehrere Ministerposten an Personen, die einer entsprechenden Minderheit in Syrien angehören, vergeben wurden. Neben HTS-nahen Personen wurden auch Vertreter der drusischen, kurdischen und alawitischen Minderheit sowie eine politische Aktivistin und eine Christin in die Regierung aufgenommen [...]
2. Eine andere Bewertung folgt auch nicht aus der erstmalig mit Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen vom 15. Mai 2025 geltend gemachten Verfolgung aufgrund der Annahme eines vermeintlich westlichen Lebensstiles [...].
b) Denn dass Frauen - ungeachtet ihres Grades einer "Verwestlichung" - im Hinblick auf die Situation im Herkunftsland Syrien vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs [...] als soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Satz 1 AsylG einzustufen sind, ist zumindest im Hinblick auf die kumulativ zu erfüllende Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Satz 1 lit. b) AsylG [...] derzeit nicht erkennbar.
Letztgenannte Voraussetzung ist nämlich nur dann erfüllt, wenn die in dem Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen dazu führen, dass diese Frauen aufgrund dieses gemeinsamen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Es ist Sache des betreffenden Mitgliedstaates zu bestimmen, welche umgebende Gesellschaft für die Beurteilung des Vorliegens dieser sozialen Gruppe relevant ist [...].
Im Gebiet unter der von der HTS-geführten Übergangsregierung bzw. Interimsregierung gibt es bisher keine Anhaltspunkte für eine zielgerichtete Ausgrenzung von Frauen wegen ihres Geschlechts. Vielmehr erklärte der neue Außenminister, dass die Behörden vollständig die Frauenrechte unterstützten. Der Übergangspräsident Al-Sharaa versprach, dass die Ausbildung für Frauen fortgeführt werde [...].
Mehrere Frauen bekleiden nunmehr offizielle (politische) Positionen in der neuen Regierung in Syrien, u.a. als Frauenbeauftragte, Leiterin der syrischen Zentralbank sowie als Ministerin für Arbeit und Soziales [...].
Geschlechtsbezogene Gewalt, die durchaus in Syrien vorkommt, ist primär auf den syrischen Bürgerkrieg zurückzuführen; die HTS wird im Jahresbericht des syrischen Netzwerkes für Menschenrechte (SNHR) von 2024 nur für zwei Fälle derartiger Gewalt verantwortlich gemacht [...].
Außerdem stellen allein von Frauen geführte Haushalte in Syrien eine tatsächliche Lebenswirklichkeit dar, weil aufgrund des viele Jahre andauernden Bürgerkrieges viele Männer bei militärischen Einsätzen gefallen oder auf sonstige Weise getötet wurden oder geflohen sind [...].
Durch den Krieg ist die Rolle der Frau in der Arbeitswelt grundlegend verändert worden; ihnen sind Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet worden, die zuvor Männern vorbehalten waren. Frauen wurden in einigen Haushalten zu den Hauptverdienern [...].
c) Unabhängig davon liegen hinsichtlich des Gesamtkomplexes "Frauen" – ungeachtet ihres Grades einer "Verwestlichung" – auch keine beachtlich wahrscheinlichen Anhaltspunkte für erhebliche Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG vor. [...]
Es mag einige gesellschaftliche Normen und Erwartungen geben, die für die Einschränkung der Eigenständigkeit der Frauen in Syrien verantwortlich sind, und sich auch innerhalb von Syrien erheblich unterscheiden [...].
Dennoch werden Frauen weder vom syrischen Staat noch von anderen nichtstaatlichen Akteuren im Gebiet der Interimsregierung in einem ausreichenden Maße durch derartige Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a AsylG bedroht.
Eine Kleiderordnung für syrische Frauen wurde durch die HTS nach ihrer Machtübernahme nicht angeordnet [...].
Eine andere Bewertung folgt auch nicht aus dem Umstand, dass die vor dem Sturz des Assad-Regimes in Idlib von der HTS-geführte sog. "Heilsregierung" insbesondere mit mehreren Sittenpolizeiapparaten, die öffentlichkeitswirksam ein nach ihrer Auslegung adäquates Frauenbild propagierten, die Rechte von Frauen nicht unerheblich einschränkte [...].
Denn aus diesem Umstand kann man – derzeit – keine negativen Schlüsse ziehen. Denn wie bereits zuvor dargelegt hat sich die Lage inzwischen geändert und mehrere Frauen bekleiden etwa hohe politische Ämter in der neuen Übergangsregierung für das gesamte Land. Die Übergangsregierung ist zudem in den Dialog mit Frauenrechtsaktivistinnen getreten. Im von der HTS bereits vor der Machtübernahme in Gesamtsyrien beherrschten Idlib wurden schon berufliche Weiterbildungsmaßnahmen für Frauen angeboten. Die Frauenministerin sieht eine Priorität in der Unterstützung von ehemals unter dem Assad-Regime inhaftierten Frauen, denen sie psychologische Unterstützung, aber auch Zugang zu Bildung, Gesundheitsleistungen und rechtliche Unterstützung zusagte [...].
Soweit der Prozessbevollmächtigte der Klägerinnen vereinzelte Berichte über Äußerungen der Direktorin für Frauenangelegenheiten sowie die Äußerung eines Regierungssprechers zur Geeignetheit von Frauen für bestimmte Berufe in Bezug nimmt, ergibt sich hieraus keine andere Bewertung. Diese Äußerungen wurden Ende 2024/Anfang 2025 getätigt. Es handelt sich hierbei um singuläre Äußerungen einzelner Personen, die nicht auf eine bestimmte Ausrichtung des (neuen) syrischen Staates hindeuten. Im Übrigen ist zum 29. März 2025 die (neue) Interimsregierung ernannt worden, der auch eine (weitere) weibliche Person angehört, die als Ministerin für den Bereich Arbeit und Soziales eingesetzt ist [...].
Die Veränderung des Lernplans mit einer stärkeren Fokussierung auf islamische Themen begründet ebenfalls keine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungshandlung und deutet (derzeit) nicht auf eine radikale islamistische Gesellschaftsordnung hin. [...]
Der ebenfalls vom Prozessbevollmächtigten der Klägerinnen mit Schriftsatz vom 15. Mai 2025 eingereichte Bericht zu Ehrenmorden in Syrien aus dem Jahre 2009 führt gleichsam zu keiner anderen Beurteilung. Derartige Vorfälle begründen keine Verfolgungshandlung, die gezielt an einen Verfolgungsgrund anknüpft. Es handelt sich insoweit um kriminelles Unrecht, welches auch in anderen Staaten - mitunter mittlerweile auch in Deutschland - auftritt [...].
Wesentliches Tatziel ist hierbei die - vom Täter angenommene - Wiederherstellung der Familienehre, ohne dabei aber zielgerichtet an das weibliche Geschlecht anzuknüpfen. [...]