Weiterhin prekäre Lage in Afghanistan spricht gegen Widerruf eines Abschiebungsverbotes:
1. Für den Widerruf eines Abschiebungsverbotes (§ 73 Abs. 6 S. 1 AsylG) bedarf es einer nachhaltigen und beachtlichen Änderung der dem ursprünglichen Bescheid zugrundeliegenden Tatsachen. Wurde die Feststellung eines Abschiebungsverbotes darauf gestützt, dass eine prekäre wirtschaftliche Lage, Minderjährigkeit, Fehlen eines sozialen Netzwerks, Geburt außerhalb des Herkunftslandes vorliegt, erfodert ein Widerruf die Auseinandersetzung mit all diesen zugrundeliegenden Umständen. Allein der Wegfall der Minderjährigkeit reicht für einen Widerruf nicht aus.
2. Die Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg zu Afghanistan findet weiterhin Anwendung, wonach die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes bei leistungsfähigen, erwachsenen Männern regelmäßig erfüllt sind, wenn nicht besonders begünstigende Umstände, wie ein tragfähiges soziales Netzwerk oder nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte vorliegen.
3. Es bedarf tatsächlicher Anhaltspunkte für die Unterstützungsfähigkeit von Familienmitgliedern und Verwandten. Diesen muss es möglich sein, den Zurückkehrenden ohne Einbußen bei der eigenen Versorgung zu unterstützen.
(Leitsätze der Redaktion, bezugnehmend auf: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 (Asylmagazin 3/2021, S. 78 ff.) - asyl.net: M29309)
[...]
Gemessen an diesem Maßstab ist zum Zeitpunkt der vorliegenden Entscheidung nicht absehbar, ob der Bescheid vom 22.04.2025 auch materiell rechtmäßig erfolgt ist.
aa. Es dürften bereits Anhaltspunkte dafür gegeben sein, dass es bereits an einer beachtlichen und nachhaltigen Änderung der der ursprünglichen Entscheidung zugrundeliegenden wesentlichen Tatsachen fehlt. Der Antragsgegner hat seinen Widerrufsbescheid vom 22.04.2025 ausweislich dessen Begründung im Kern darauf gestützt, dass eine besondere Schutzbedürftigkeit des Antragstellers aufgrund seines Alters nicht mehr bestehe. Als lediger, kinderloser, arbeitsfähiger Mann sei er nunmehr auf eine eigenständige Existenzsicherung zu verweisen. Zwar ist es zweifellos zutreffend, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt des ursprünglichen Bescheids vom 13.11.2012, mit dem ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bezüglich Afghanistan festgestellt wurde, erst 16 Jahre alt war, während er nunmehr zum nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt 29 Jahre alt ist. Der Antragsgegner hat seinen Bescheid vom 13.11.2012 jedoch seinerzeit nicht allein auf die damalige Minderjährigkeit des Antragsgegners als solche gestützt. Vielmehr hat er ausgeführt:
"Im Hinblick auf die besondere Lebenssituation des Antragstellers als unbegleiteter Minderjähriger, der mit den Lebensverhältnissen in Afghanistan, wo er selbst nie gelebt hat, nicht vertraut ist, muss im konkreten Fall allerdings eine andere Bewertung erfolgen. Angesichts der selbst in Kabul schon allgemein angespannten Sicherheits- und Versorgungssituation würde er dort ohne ein funktionierendes und tragfähiges soziales Netz alsbald in eine ausweglose Lage geraten, umso mehr, als er nicht über eine adäquate Schulbildung und berufliche Qualifikation verfügt. Der Ausländer gehört damit zu einem Personenkreis, der aufgrund seiner individuellen Situation als überdurchschnittlich verletzlich anzusehen und deshalb besonders schutzbedürftig ist [...]. Er hat mithin Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i. S. v. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG."
Der Antragsgegner hat somit die seinerzeitige Feststellung eines Abschiebungsverbotes nicht allein auf die damalige Minderjährigkeit des Antragstellers als solche, sondern ganz wesentlich auch darauf gestützt, dass der Antragsteller selbst nie in Afghanistan gelebt hat und deshalb mit den dortigen Lebensverhältnissen nicht vertraut ist. Daran hat sich indes nichts geändert: Denn auch heute noch ist der Antragsteller mit den Lebensverhältnissen in Afghanistan nicht vertraut, nachdem er im Iran geboren und dort aufgewachsen ist.
Auch die angesprochene Sicherheits- und Versorgungssituation in Kabul hat sich seit dem ursprünglichen Bescheid vom 13.11.2012 nicht nachhaltig im Sinne des oben genannten Maßstabs zum Positiven geändert. Das von dem Antragsgegner angesprochene REAG-Programm besteht im Übrigen bereits seit 1979 und wurde bereits 1989 um das GARP-Programm ergänzt.
Sofern der Antragsteller somit auch weiterhin über kein funktionierendes und tragfähiges soziales Netz in Afghanistan und keine adäquate Schulbildung und berufliche Qualifikation verfügt, was im Rahmen des Hauptsacheverfahrens näher aufzuklären wäre, hätten sich die der ursprünglichen Entscheidung zugrundeliegenden wesentlichen Tatsachen schon nicht beachtlich und nachhaltig geändert. Die letzten diesbezüglichen Informationen stammen aus der Anhörung vor dem Bundesamt am 09.05.2012. [...]
Unter Berücksichtigung der landesweiten Lebensverhältnisse in Afghanistan ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 S. 1, 2. HS AsylG) nicht absehbar, ob die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK in Bezug auf den Antragsteller nicht erfüllt sind. [...]
Nach der daraufhin folgenden Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg, der sich die überwiegende Rechtsprechung und auch die Kammer sodann angeschlossen haben, sind angesichts der gravierenden Verschlechterung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Afghanistan infolge der COVID-19-Pandemie auch im Falle eines leistungsfähigen, erwachsenen Mannes ohne Unterhaltsverpflichtungen bei Rückkehr aus dem westlichen Ausland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK regelmäßig erfüllt, wenn in seiner Person keine besonderen begünstigenden Umstände vorliegen. Derartige Umstände können insbesondere dann gegeben sein, wenn der Schutzsuchende in Afghanistan ein hinreichend tragfähiges und erreichbares familiäres oder soziales Netzwerk hat, er nachhaltige finanzielle oder materielle Unterstützung durch Dritte erfährt oder über ausreichendes Vermögen verfügt. Dabei geht der VGH Baden-Württemberg darüber hinaus nicht davon aus, dass eine besondere Belastbarkeit, Durchsetzungsfähigkeit oder fachliche Qualifikation des Betreffenden Umstände sind, die für sich allein bewirken, dass er im Falle einer Abschiebung nach Afghanistan in der Lage wäre, dort aus eigener Kraft seinen Lebensunterhalt zumindest am Rande des Existenzminimums nachhaltig zu sichern. Ein tragfähiges familiäres oder soziales Netzwerk ist dann gegeben, wenn bei Rückkehr des Betreffenden nach Afghanistan Verwandte oder sonstige Dritte bereit und tatsächlich in der Lage sind, ihn in einem solchen Umfang zu unterstützen, dass seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum befriedigt werden können. Dies kann etwa dann der Fall sein, wenn der Betreffende über den genannten Personenkreis Zugang zu einer hinreichenden Verdienstmöglichkeit und/oder einer Unterkunft, Nahrung sowie einer Waschmöglichkeit erlangen kann.34 Anzumerken ist zudem, dass vor dem Hintergrund der skizzierten aktuellen Wirtschaftslage in Afghanistan von dort lebenden Familienmitgliedern und Verwandten eine Unterstützungsfähigkeit nicht mehr ohne Weiteres angenommen und erwartet werden kann. Erforderlich ist vielmehr, dass hierfür im Einzelfall ernsthafte tatsächliche Anhaltspunkte bestehen. Solche können sich vor allem daraus ergeben, dass die - für den Rückkehrer erreichbaren - Verwandten auch nach der Machtübernahme der Taliban in überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Verhältnissen leben oder ihre eigene Versorgung aus sonstigen Gründen dergestalt gesichert ist, dass die Möglichkeit besteht, den Rückkehrer ohne Einbußen bei der eigenen Versorgung zu unterstützen. Hingegen kann es gegen die Unterstützungsbereitschaft sprechen, wenn es sich bei den Verwandten nicht um Mitglieder des engen Familienkreises des Rückkehrers oder solche Personen handelt, zu denen jedenfalls bis zur Ausreise kein enges Verhältnis bestanden hat. [...]
Infolge all dieser Umstände bleibt die humanitäre Lage weiterhin angespannt. Afghanistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt mit der weltweit höchsten Prävalenz von unzureichender Ernährung. Seit 2021 ist in Afghanistan zwar eine leichte Verbesserung der Ernährungssicherheit zu verzeichnen. Die Lebensmittelpreise sind seit der Machtübernahme durch die Taliban zunächst gestiegen, was die prekäre Lebensmittelversorgung für einen Großteil der Bevölkerung verstärkte. Ab Mitte 2022 begannen die Lebensmittelpreise aber wieder langsam zu sinken. Ein Trend, der sich auch im Januar 2024 fortsetzt. So lagen die Preise für Grundnahrungsmittel zu diesem Zeitpunkt etwa 1 bis 3% niedriger als im Dezember 2023 und 20 bis 35% niedriger als im Vorjahr. Nichtsdestotrotz können nach Angaben der Vereinigten Nationen jahreszeitenabhängig 62-70 % der Bevölkerung ihre Grundversorgung nicht gewährleisten, davon 33-37 % nicht einmal die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Dies deckt sich mit Schätzungen, wonach bis zu 14,2 Mio. Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit bedroht sind (FAO) und bis zu 23,7 Mio. Personen im Jahr 2024 auf humanitäre Hilfsleistungen angewiesen sein werden (UN OCHA).56 In der Periode September bis Oktober 2024 sind nach Schätzungen der IPC ca. 11,6 Millionen Menschen (25 % der Gesamtbevölkerung) von einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Im November 2024 führte ATR Consulting zudem eine Studie in Kabul durch, bei der 12% der Befragten angaben, dass sie grundlegende Konsumgüter wie Kleidung oder Schuhe für die Mitglieder ihrer Familie zur Verfügung stellen können, während dies 21 % der Befragten gerade noch möglich ist. 41 % schaffen es kaum diese Güter zur erwerben und 26% ist dies gar nicht möglich. 37 % der Befragten haben immer Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten, zu denen alle Produkte für die persönliche Hygiene wie Seife, Shampoo, Zahnpasta, Lotion, Desinfektionsmittel, Damenhygieneprodukte usw. gehören. 26 % der Befragten haben gerade noch Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten, während 28 % kaum Zugang und 9% keinen Zugang zu den notwendigen Hygieneprodukten haben. Infolgedessen nehmen lokalen Berichten zufolge Zwangsehen, Organ- und Menschenhandel, darunter der Verkauf von Mädchen durch ihre Familien, zu.
Auch die Rückkehr vieler afghanischer Staatsangehöriger aus den Nachbarländern verschärft die humanitäre Lage in Afghanistan weiter, insbesondere in den Grenzregionen. Sie belasten die Ressourcen und beeinträchtigen die Ernährungssicherheit. Rückkehrende verfügen aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern. Nach Angaben von UNHCR befinden sich Binnenvertriebene wie auch zurückgekehrte Personen aus dem Ausland in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an (Einsparung von Lebensmitteln, Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit, -verkauf). Ihnen kann Verelendung drohen. Internationale Organisationen (darunter UNHCR, IKRK, WFP) und NROs leisten in Afghanistan humanitäre Hilfe. Diese schließt auch die Versorgung zurückgekehrter Personen in humanitären Notlagen ein. Aufgrund sinkender internationaler Mittel und durch die hohen Rückkehrzahlen aus Pakistan und Iran äußern internationale Organisationen und NROs jedoch die Sorge, humanitäre Bedarfe in Afghanistan nicht ausreichend decken zu können. [...]
Angesichts dieser Feststellungen kann somit im Ergebnis nicht mehr davon ausgegangen werden, dass ein junger, gesunder und grundsätzlich erwerbsfähiger Mann ohne Unterhaltsverpflichtungen in der Lage sein wird, sich ohne hinzutretende begünstigende Umstände bei Rückkehr nach Afghanistan sein Existenzminimum zu sichern. [...]