BlueSky

VG Düsseldorf

Merkliste
Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 18.06.2025 - 24 K 7223/24 - asyl.net: M33435
https://www.asyl.net/rsdb/m33435
Leitsatz:

Vertriebeneneigenschaft geht nicht durch Aufenthalt in Drittstaat verloren: 

Ukrainische Kriegsvertriebene sind nicht dadurch von der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum vorübergehenden Schutz gemäß § 24 AufenthG ausgeschlossen, dass sie nach der Ausreise aus der Ukraine infolge des Angriffskriegs der Russischen Föderation zunächst vorübergehend Schutz in der Republik Moldau gefunden haben. Ein Wegfall der Vertriebeneneigenschaft bei längerem Aufenthalt bzw. Schutzgewährung in einem Drittstaat ist weder in der Richtlinie noch im Durchführungsbeschluss oder nach deutschem Recht geregelt. 

(Leitsätze der Redaktion, siehe auch: VG Darmstadt: Beschluss vom 17.02.2025 – 6 L 2667/24.DA – asyl.net: M33193)

Schlagwörter: Ukraine, temporärer Schutz, Massenzustrom-Richtlinie, Drittstaat, Republik Moldau, Vertriebenenstatus,
Normen: AufenthG § 24 Abs. 1, RL 2001/55/EG Art. 1, RL 2001/55/EG Art. 2c, Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 Art. 2 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG. Nach dieser Vorschrift wird einem Ausländer, dem auf Grund eines Beschlusses des Rates der Europäischen Union gemäß der Richtlinie 2001/55/EG vorübergehender Schutz gewährt wird und der seine Bereitschaft erklärt hat, im Bundesgebiet aufgenommen zu werden, für die nach den Artikeln 4 und 6 der Richtlinie bemessene Dauer des vorübergehenden Schutzes eine Aufenthaltserlaubnis erteilt. Demnach ist zunächst erforderlich, dass gemäß Art. 5 Abs. 1 RL 2001/55/EG das Vorliegen eines Massenzustroms im Sinne von Art. 2 lit. d RL 2001/55/EG durch einen Beschluss des Rates der Europäischen Union festgestellt wurde und diese Feststellung auch noch weiterhin im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung gilt. [...]

Des Weiteren setzt die Schutzgewährung voraus, dass der Ausländer in den in dem Beschluss gemäß Art. 5 Abs. 3 RL 2001/55/EG festzulegenden persönlichen Schutzbereich fällt. [...]

c. Unschädlich ist auch, dass die Kläger ab Januar 2023 über ein Jahr in der Republik Moldau verbrachten und dort auch einen Schutzstatus erhielten.

aa. Zunächst ist festzustellen, dass ein Wegfall der Vertriebeneneigenschaft bei längerem Aufenthalt bzw. Schutzgewährung in einem Drittstaat weder in der Richtlinie noch im Durchführungsbeschluss noch nach deutschem Recht geregelt ist.

bb. Der Begriff der Vertreibung ist auch nicht dahingehend auszulegen, dass die Länge des Aufenthalts als auch eine eventuelle Schutzgewährung in einem Drittstaat eine Vertreibung ausschließen.

i. Hierfür spricht zunächst die am Wortlaut orientierte Auslegung.

Der Begriff der Vertreibung knüpft im Hinblick auf die Richtliniendefinition – Art. 2 lit. c Richtlinie 2001/55/EG – ausdrücklich nur daran an, dass das Heimatland verlassen wird. Es kommt nicht darauf an, in welche Richtung und über welchen Zeitraum hinweg das Heimatland verlassen wird. Die Vertriebeneneigenschaft bezieht sich auf den Herkunftsstaat, den der betroffene Ausländer hat verlassen müssen bzw. von wo er evakuiert worden ist und in den er nicht sicher und dauerhaft wieder zurückkehren kann. [...]

Dieses Begriffsverständnis des europäischen Rechts entspricht – in den hier maßgeblichen Aspekten – dem tradierten Begriffsverständnis im deutschen Recht. So ist gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 Bundesvertriebenengesetz Vertriebener, wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger seinen Wohnsitz in den ehemals unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten oder in den Gebieten außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstande vom 31. Dezember 1937 hatte und diesen im Zusammenhang mit den Ereignissen des zweiten Weltkrieges infolge Vertreibung, insbesondere durch Ausweisung oder Flucht, verloren hat. Auch hiernach ist es für die Qualifizierung als Vertriebener unerheblich, wenn die Betroffenen nach der Vertreibung (gegebenenfalls über lange Zeiträume) in einem Drittstaat sicher waren. Begriffsbestimmend ist auch insofern allein die ursprüngliche Vertreibungshandlung in der Vergangenheit.

ii. Etwas anderes ergibt sich auch nicht im Wege der systematischen Auslegung mit Blick auf die Definition des Begriffs des Massenzustroms. Zwar setzt der Begriff "Massenzustrom" nach der Definition in Art. 2 lit. d Richtlinie 2001/55/EG voraus, dass der Zustrom einer großen Zahl von Vertriebenen, die aus einem bestimmten Land oder einem bestimmten Gebiet kommen, in die Gemeinschaft erfolgt. Diese Definition führt jedoch nicht dazu, dass aus dem von dem Durchführungsbeschluss geschützten Personenkreis solche Personen ausgeschlossen sind, die nicht unmittelbar aus der Ukraine in die EU kommen, sondern sich erst noch – unter Umständen über einen längeren Zeitraum – in einem Drittland aufhalten.

Zunächst ist bereits die Wendung "aus einem bestimmten Land oder einem bestimmten Gebiet [in die Gemeinschaft] kommen" nicht so zu verstehen, dass der Vertriebene direkt und unmittelbar aus dem bestimmten Land oder bestimmten Gebiet in die EU kommt. Denn man wird auch einer Person, die den Weg aus der Ukraine in die EU über eine Route durch verschiedene Drittländer findet, nicht absprechen können, aus der Ukraine gekommen zu sein. [...]

iii. Auch aus dem mit dem Durchführungsbeschluss verfolgten Zweck lassen sich keine Anhaltspunkte für eine Auslegung der Vertriebeneneigenschaft herleiten, wonach diese im Falle der Weiterwanderung aus einem Drittstaat zu verneinen sei. Gemäß Erwägungsgrund 7 Satz 2 Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 besteht der Zweck darin, die Asylsysteme der Mitgliedstaaten vor Beeinträchtigungen zu bewahren, da zu befürchten ist, dass andernfalls solche Asylanträge nicht ohne Nachteile für die betroffenen Personen oder andere um Schutz nachsuchende Personen bearbeitet werden könnten. Es geht gerade darum, eine rasche Prüfung zu ermöglichen. [...]

In teleologischer Hinsicht mag zwar argumentiert werden, dass die Richtlinie und auch der Durchführungsbeschluss auf den Schutz von Personen abzielen, die sonst noch keinen Schutz erhalten haben. Im Falle des anderswo bereits zugewiesenen Schutzstatus könnte demgemäß am Schutzbedürfnis gezweifelt werden. Da dies jedoch keinerlei Niederschlag im Wortlaut gefunden hat, ist eine solche am Zweck orientierte Reduktion des Schutzbereichs abzulehnen. [...]