Verlustfeststellung des Freizügigkeitsrechts nach langjährigem Aufenthalt:
1. § 6 Abs. 5 FreizügG (Verlustfeststellung eines Aufenthaltsrecht nach 10 Jahren nur aus zwingenden Gründen) kommt nicht zur Anwendung, wenn ein bereits langjähriger, seit der Geburt bestehender Aufenthalt durch mehrere Haftstrafen unterbrochen wird und zum Zeitpunkt der Verlustfeststellung ein zusammenhängender 10-jähriger Aufenthalt nicht mehr besteht.
2. § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU (Ausreisepflicht) wurde durch das Rückführungsverbesserungsgesetzes vom 21.02.2024 in eine Soll - Vorschrift geändert. Von der Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots kann nur in Ausnahmefällen abgesehen werden (intendiertes Ermessen).
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
2 Der 1964 in Stuttgart geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. [...] Am … 1994 wurde ihm eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis-EG erteilt. [...]
4 Am 10.01.2013 wurde dem Kläger eine Freizügigkeitsbescheinigung ausgestellt.
5 Der Kläger ist seit dem Jahr 1979 wiederholt strafrechtlich in Erscheinung getreten. Ein Auszug aus dem Bundeszentralregister vom 09.04.2025 enthält (noch) 13 Eintragungen. Eintrag Nr. 10 - das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 17.01.2017 - ist die Anlasstat für die streitgegenständliche Verlustfeststellung. Das Landgericht … verurteilte den Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Mitsichführen einer Schusswaffe oder sonstiger Gegenstände, die ihrer Art nach zur Verletzung von Personen geeignet und bestimmt sind, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren. [...]
8 Mit Bescheid vom 19.01.2018 stellte das Regierungspräsidium Stuttgart [...] den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland fest [...].
11 Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 06.05.2020 hat das Regierungspräsidium Stuttgart zugesichert, den angegriffenen Bescheid vom 19.01.2018 aufzuheben, falls der Kläger bis zum Ablauf des 30.04.2023 nicht erneut strafrechtlich verurteilt werde und auch kein strafrechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet werde, aufgrund dessen nach dem genannten Zeitpunkt eine Verurteilung erfolge. Daraufhin hat das Verwaltungsgericht auf Antrag der Beteiligten das Ruhen des Verfahrens angeordnet.
12 Bereits von Dezember 2019 bis Juni 2020 hatte der Kläger jedoch wieder unerlaubt mit Betäubungsmitteln gehandelt und wurde in der Folge vom Amtsgericht ... mit Urteil vom … 2020 wegen vorsätzlichen unerlaubten gewerbsmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zwei Monaten verurteilt. [...]
30 II. Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Das Verwaltungsgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19.01.2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dies gilt sowohl für die gegen den Kläger verfügte Verlustfeststellung (1.) als auch für die Abschiebungsandrohung (2.) und das angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot (3.).
31 1. Die gegen den Kläger erlassene Verlustfeststellung ist rechtmäßig. [...]
34 a) Die Voraussetzungen einer Verlustfeststellung nach § 6 FreizügG/EU (Art. 28 RL 2004/38/EG) beruhen auf einem abgestuften System. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union stellt die mit der Richtlinie 2004/38/EG geschaffene Regelung zum Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen auf das Maß der Integration der betroffenen Person im Aufnahmemitgliedstaat ab, so dass dieser Schutz umso stärker ist, je besser der Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat integriert ist [...]. Dieser Intention folgend sehen § 6 FreizügG/EU und Art. 27 f. RL 2004/38/EG unterschiedlich hohe Eingriffsschwellen vor. Während eine Verlustfeststellung im Anwendungsbereich des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU (Art. 27 Abs. 1 Satz 1 RL 2004/38/EG) bereits aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit erfolgen kann, darf ein Unionsbürger mit einem Daueraufenthaltsrecht gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU (Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG) nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit das Freizügigkeitsrecht entzogen werden. Bei Unionsbürgern, die entweder ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten oder minderjährig sind, ist gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU (Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG) ein Einschreiten nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit zulässig.
35 Demzufolge ist abgestuft zu prüfen, ob ein erhöhter Ausweisungsschutz nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU besteht ((1)). Falls dieser Schutz nicht besteht, ist in den Blick zu nehmen, ob für den Betroffenen der besondere Ausweisungsschutz nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU gilt. Ist auch dies zu verneinen, verbleibt es bei der Prüfung des § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Der Erlass einer Verlustfeststellung setzt im Anwendungsbereich des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU, aber auch in demjenigen des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, weiterhin gemäß § 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU (Art. 27 Abs. 2 UA 2 RL 2004/38/EG) voraus, dass das persönliche Verhalten des Unionsbürgers eine gegenwärtige, tatsächliche und schwere Gefährdung für die öffentliche Sicherheit begründet ((2)). [...]
38 Erforderlich ist in der ersten Variante des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU (Art. 28 Abs. 3 Buchst. a RL 2004/38/EG) darüber hinaus ein - ununterbrochener - zehnjähriger Aufenthalt des Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen im Bundesgebiet. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist hierbei auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die ursprüngliche Verfügung der Verlustfeststellung ergangen ist [...]. Der Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren ist mithin von dem Zeitpunkt an zurückzurechnen, zu dem die Verfügung der Verlustfeststellung ergangen ist [...]. Ein Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe ist grundsätzlich geeignet, die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich diese Person vor dem Freiheitsentzug zehn Jahre lang im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat [...].
39 (2) Nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU darf eine Feststellung nach Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Diese Norm dient der Umsetzung von Art. 28 Abs. 2 RL 2004/38/EG, der bestimmt, dass eine Ausweisung gegen Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, eine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit verfügt werden darf.
40 Schwerwiegende Gründe im Sinne des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU liegen vor, wenn die Gründe für eine Verlustfeststellung zwar einerseits gewichtiger als bei einem Einschreiten im "Normalfall" des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU sind, andererseits jedoch nicht "zwingend" im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU. [...]
42 (3) Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt setzt ferner voraus, dass das persönliche Verhalten des Unionsbürgers zum maßgeblichen Zeitpunkt eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU (Art. 27 Abs. 2 UA 2 Satz 1 RL 2004/38/EG).
43 Erforderlich ist eine zum maßgeblichen Zeitpunkt aktuelle Gefahrenprognose [...].
44 Ausländerbehörde, Verwaltungsgericht und Verwaltungsgerichtshof haben jeweils eine eigenständige Gefahrenprognose zu treffen. Maßgeblich hierfür ist allein das persönliche Verhalten des Unionsbürgers (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig (Art. 27 Abs. 2 UA 2 Satz 2 RL 2004/38/EG). Ausgeschlossen ist damit eine Verlustfeststellung, die als automatische Folge einer strafrechtlichen Verurteilung (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU) oder einer sonstigen Sanktion verfügt wird, ohne das persönliche Verhalten des Betroffenen oder die von ihm ausgehende Gefahr zu berücksichtigen [...].
45 Hinsichtlich der vorzunehmenden Gefahrenprognose besteht insbesondere auch keine Bindungswirkung mit Blick auf strafvollstreckungsrechtliche Entscheidungen über die Aussetzung des Vollzugs der Reststrafe und der Maßregel. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB bzw. § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar. Die aufenthaltsrechtliche Prognose, ob von dem Ausländer eine besondere Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgeht, bestimmt sich jedoch nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung [...].
46 § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU erfordert eine hinreichend schwere Gefährdung (vgl. auch Art. 27 Abs. 2 UA 2 Satz 1 RL 2004/38/EG: "erhebliche Gefahr"). Die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts muss so erheblich sein, dass ihre Abwehr die Beschränkung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV zu rechtfertigen vermag. Dies schließt Fälle einer nur entfernten Möglichkeit eines Schadenseintritts aus. [...]
47 Es gilt ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts [...]. Das entspricht der Rechtsprechung des Senats zu § 53 Abs. 1 AufenthG [...].
48 Dieser gleitende Wahrscheinlichkeitsmaßstab hat jedoch unionsrechtliche Grenzen. Wegen der grundlegenden Bedeutung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV und mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen, wie dargelegt, an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts keine zu geringen Anforderungen gestellt werden [...]. Auch bei hochrangigen Rechtsgütern begründet daher nicht schon jede nur entfernte Möglichkeit oder eine nur potentielle Gefahr eine hinreichend schwere bzw. erhebliche Gefahr [...].
49 (4) Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Verlustfeststellung erfüllt, hat die Ausländerbehörde gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU eine Ermessensentscheidung zu treffen [...]. Hierbei sind der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu wahren und insbesondere die in § 6 Abs. 3 FreizügG/EU (Art. 28 Abs. 1 RL 2004/38/EG) genannten Umstände zu berücksichtigen. Danach sind bei der Verlustfeststellung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Das Erfordernis einer Ermessensentscheidung setzt die unionsrechtliche Anforderung um, unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der Grundrechte die Gefahr, die das persönliche Verhalten des Unionsbürgers darstellt, gegen den Schutz der diesem nach der Richtlinie 2004/38/EG zustehenden Rechte abzuwägen [...].
50 b) Nach diesem Maßstab liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer Verlustfeststellung vor.
51 Im Fall des Klägers ist nicht das höchste Schutzniveau des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU, sondern dasjenige nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU zugrunde zu legen ((1)). Es liegen schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit vor, die den Erlass der Verlustfeststellung rechtfertigen ((2)). Zudem begründet das persönliche Verhalten des Klägers eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung für die öffentliche Sicherheit ((3)). Auch die Ermessensentscheidung des Beklagten ist rechtlich nicht zu beanstanden ((4)).
52 (1) Verwaltungsgericht und Regierungspräsidium haben zutreffend angenommen, das für das erhöhte Schutzniveau des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU bestehende Erfordernis eines zehnjährigen Voraufenthalts des Klägers im Bundesgebiet sei nicht gegeben. Die (weit) überwiegende Zeit der letzten zehn Jahre vor Erlass der Verlustfeststellung am 19.01.2018 war der Kläger inhaftiert. Dies hat vorliegend angesichts der Gesamtumstände des zu entscheidendes Falles dazu geführt, dass etwaige zuvor bestandene Integrationsbande durch die Haft abgerissen sind und zu einer Diskontinuität des Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet geführt haben [...]. Zwar ist der Kläger 1964 in Stuttgart geboren und lebt seitdem im Wesentlichen ununterbrochen im Bundesgebiet. Er ist hier zur Schule gegangen und hat einen Hauptschulabschluss erworben. Vor Begehung der seine Inhaftierung begründenden Straftaten war die Voraussetzung eines ununterbrochenen (rechtmäßigen) Aufenthalts von zehn Jahren im Bundesgebiet bereits seit längerem erfüllt. Allein daraus kann jedoch noch nicht auf eine echte Verwurzelung und Kontinuität seines Aufenthalts geschlossen werden. In wirtschaftlicher Hinsicht ist dem Kläger eine gewisse Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik gelungen. Der Kläger hat in Deutschland nicht nur die Schule besucht und einen Hauptschulabschluss erlangt, sondern auch Ausbildungen ... erfolgreich abgeschlossen. Anschließend ist er mehrere Jahre einer Erwerbstätigkeit nachgegangen, hat jedoch auch Leistungen nach dem SGB II bezogen. Der Kläger hat im Bundesgebiet familiäre Bindungen. Seine beiden erwachsenen Söhne, sein Enkelsohn und seine Partnerin, die die … Staatsangehörigkeit besitzt, leben in Deutschland. Mit Blick auf seine erhebliche und kontinuierliche Straffälligkeit hat er sich jedoch im Bundesgebiet nicht sozial integriert. Auch ein über familiäre Bindungen hinausgehendes soziales Umfeld hat er sich nicht geschaffen.
53 Diese nach alldem nicht besonders stark ausgeprägten Integrationsbande zur Bundesrepublik sind durch die Strafhaft abgerissen. Das Anlassdelikt war das durch das Landgericht Stuttgart am 17.01.2017 abgeurteilte Drogendelikt, mithin eine besonders schwerwiegende Straftat [...]. Die Art der die verhängte Haft begründenden Straftat und die von ihr ausgehende besonders hohe Gefahr für den Staat oder die Gesellschaft spricht bereits dafür, dass die Inhaftierung zu einem Abreißen der Integrationsbande zur Bundesrepublik geführt hat. Angesichts dessen fällt der Umstand, dass sich das Vollzugsverhalten des Klägers im Wesentlichen beanstandungsfrei gestaltet hat, nicht in entscheidender Weise ins Gewicht. Es ist umgekehrt nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger während der Haft Integrationsbande bewusst und wie vor der Inhaftierung aufrechterhalten hat. [...]
82 2. Keinen rechtlichen Bedenken begegnet auch die in Ziffer 3 des angegriffenen Bescheides des Regierungspräsidiums Stuttgart vom 19.01.2018 verfügte Androhung der Abschiebung des Klägers nach Italien oder in einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist, sowie die in Ziffer 2 gesetzte Ausreisefrist von einem Monat. Die entsprechende Rechtsgrundlage hierfür findet sich in § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU. Inhaltliche Einwände gegen diese Folgeentscheidungen hat weder der Kläger vorgebracht noch sind sie für den Senat aus sonstigen Umständen ersichtlich. [...]
84 Nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU vom 30.07.2004 in der Fassung vom 21.02.2024 (BGBl. 2024 I Nr. 54) soll Personen, die ihr Recht nach § 2 Abs. 1 oder ihr Recht nach § 3a Abs. 1 nach § 6 Abs. 1 verloren haben, untersagt werden, erneut in das Bundesgebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten. Das Verbot nach den Sätzen 1 bis 3 wird von Amts wegen befristet § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU). Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles auf Grund der auf Tatsachen gestützten Annahme der künftig von einem Aufenthalt der Person innerhalb der Europäischen Union und der Schengen-Staaten ausgehenden Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Absatz 1 überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU).
85 a) Seit der Neugestaltung der Bestimmung in § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU als Soll-Vorschrift durch Art. 4 Nr. 3 des Rückführungsverbesserungsgesetzes vom 21.02.2024 (BGBl. 2024 I Nr. 54) steht es im intendierten Ermessen des Beklagten, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anzuordnen [...].
86 Wird die Ermessensausübung - wie hier - durch eine Soll-Vorschrift gesteuert, hat die zuständige Behörde grundsätzlich so zu verfahren, wie es im Gesetz bestimmt ist. Liegen keine Umstände vor, die den Fall als atypisch erscheinen lassen, so bedeutet das "Soll" ein "Muss" [...]. Da § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU mithin die Ermessensausübung insofern steuert, als bei einer Verlustfeststellung im Regelfall auch ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anzuordnen ist, bedarf es bei Vorliegen eines Regelfalls keiner besonderen Ermessenserwägungen der Behörde. [...]
93 (1) Der Beklagte hat in einem ersten Schritt die äußerste Frist für das Einreise- und Aufenthaltsverbot zu Recht auf zehn Jahre festgesetzt.
94 Ausgehend von den begangenen Straftaten des Klägers sowie der bereits ausgeführten Einschätzung und Beurteilung der Wiederholungsgefahr erscheint ein an dem mit der Verlustfeststellung verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierter langfristiger, auch über fünf Jahre hinausgehender Zeitraum nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU sachgerecht. [...]
95 (2) Zu Recht hat der Beklagte angenommen, dass die Frist in einem zweiten Schritt unter Berücksichtigung unions- und völkervertragsrechtlicher Vorgaben sowie verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen um drei Jahre zu verkürzen ist. [...]