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OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 09.07.2025 - 4 LA 10/24 - asyl.net: M33441
https://www.asyl.net/rsdb/m33441
Leitsatz:

Gehörsrüge wegen (vermeintlich) unterbliebener Einführung von Erkenntnismitteln im Asylprozess

1. Die Feststellung im Sitzungsprotokoll, dass bestimmte Erkenntnismittel zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung in einem Asylklageverfahren gemacht worden sind, schließt nicht aus, dass noch weitere Erkenntnismittel Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren (unter Verweis auf BVerwG, Urt. v. 16.10.1984 - 9 C 67.83 -, juris Leitsatz und Rn. 8).

2. Weicht das Verwaltungsgericht von seiner schriftlich erfolgten Ankündigung, bestimmte Erkenntnismittel zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung in einem Asylklageverfahren zu machen, mit der von ihm in der Sitzungsniederschrift protokollierten Feststellung, dass die "mit der Ladung übersandten Erkenntnismittel" zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden, ohne erkennbaren Grund ab, ist einem anwaltlich vertretenen Asylkläger abzuverlangen, einen (etwaigen) Gehörsverstoß durch Nachfrage in der mündlichen Verhandlung abzuwenden. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs hat dienende Funktion für eine materiell richtige Entscheidung und erlaubt den Verfahrensbeteiligten ungeachtet der im Verfahrensrecht unentbehrlichen Formalisierung nicht, sich künstlich "unwissender" zu stellen als sie tatsächlich sind (Anschluss an Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 2.9.1996 - 12 L 2965/96 -, juris Rn. 6).

(Amtliche Leitsätze, bezugnehmend auf: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 29.01.2024 - 4 LA 2/24 - asyl.net: M32153)

Schlagwörter: Asylverfahren, Erkenntnismittel, rechtliches Gehör, Erkenntnismittelliste; Protokoll, Beweiskraft;
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3; VwGO § 138 Nr. 3; VwGO § 105; ZPO § 160; ZPO § 165 S 1
Auszüge:

[...]

Der Antrag der Kläger, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der Versagung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) ist von den Klägern nicht hinreichend dargelegt worden und liegt auch nicht vor. [...]

Der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht ferner, sein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweismittel zu stützen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Hieraus folgt im gerichtlichen Asylverfahren grundsätzlich die Pflicht des Gerichts, die Erkenntnismittel, auf die es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, in einer Weise zu bezeichnen und in das Verfahren einzuführen, die es den Verfahrensbeteiligten ermöglicht, diese zur Kenntnis zu nehmen und sich zu ihnen zu äußern [...].

Allerdings führt die unterbliebene Einführung von Erkenntnismitteln nicht automatisch zur Zulassung der Berufung wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs. Denn die Verletzung rechtlichen Gehörs setzt voraus, dass die angegriffene Entscheidung auf dem Fehlen des rechtlichen Gehörs beruht. Das ist aber nur dann der Fall, wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Anhörung des Beteiligten zu einer anderen und für ihn günstigeren Entscheidung geführt hätte. Der Anspruch auf rechtliches Gehör bezieht sich nämlich nur auf entscheidungserhebliches Vorbringen. Demzufolge muss vom Zulassungsantragsteller auch in Streitigkeiten nach dem Asylgesetz dargelegt werden, was er bei ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte, mithin weshalb der geltend gemachte Gehörsverstoß entscheidungserheblich ist. Bei nicht ordnungsgemäßer Einführung von Erkenntnismitteln ist daher auszuführen, in welchem Zusammenhang das Verwaltungsgericht das jeweilige Erkenntnismittel herangezogen hat, inwieweit die in dem Erkenntnismittel enthaltenen Tatsachen oder die hieraus von dem Verwaltungsgericht gezogenen Schlüsse unzutreffend sind und was - bei ordnungsgemäßer Einführung - in Bezug auf die in diesem Erkenntnismittel enthaltenen Tatsachen vorgetragen worden wäre. Denn nur auf dieser Grundlage kann geprüft und entschieden werden, ob auszuschließen ist, dass die Gewährung rechtlichen Gehörs zu einer anderen, für den Kläger günstigeren Entscheidung geführt hätte [...].

Die dem Prozessbevollmächtigten des Klägers zuvor am 12. Dezember 2022 mit der Ladung zu der auf den 25. Januar 2023 anberaumten mündlichen Verhandlung übersandte Erkenntnismittelliste führte diese drei Dokumente noch nicht auf [...]. Anlass der Übersendung einer aktualisierten Erkenntnismitteliste so kurz vor dem Termin war, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers erstmals mit Schriftsatz vom 23. Januar 2023 die von ihm im Juli 2020 erhobene Klage begründet und dabei (u.a.) im Hinblick auf den am 24. Februar 2022 begonnenen russischen Angriffskrieg auf die Ukraine als Nachfluchtgrund für den Kläger zu 1. geltend gemacht hatte, dass diesem im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, zumindest aber sofortige Einberufung zum Militärdienst und dort eine menschenrechtswidrige Behandlung drohe. Dazu war vorgetragen worden, dass der in Georgien geborene Kläger zu 1. bereits als Minderjähriger die russische Staatsangehörigkeit erhalten habe, sich jedoch zunächst von der russischen Wehrpflicht zeitweilig "freigekauft" habe und später wegen der Eheschließung mit der Klägerin zu 2. bzw. der Geburt der Klägerinnen zu 3. und 4. (vom Militärdienst) zurückgestellt worden sei; der Kläger zu 1. sehe derzeit aber entsprechende Möglichkeiten nicht mehr [...].

Auch ist richtig, dass das Verwaltungsgericht trotz des in dem Begleitschreiben zur Übersendung der aktualisierten Erkenntnismittelliste vom 24. Januar 2023 ausdrücklich enthaltenen Hinweises, dass die darin aufgeführten Erkenntnismittel zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht werden würden [...], nach der Sitzungsniederschrift vom 25. Januar 2023 (nur) "die mit der Ladung als Anlage übersandten Erkenntnismittel" zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht hat (Sitzungsniederschrift, S. 2). Dabei dürfte es sich jedoch lediglich um ein durch Verwendung einer Standardformulierung verursachtes Versehen gehandelt haben. Jedenfalls folgt aus dieser Protokollierung nicht, dass die Anfragebeantwortung vom 21. Oktober 2022, das Länderinformationsblatt vom 9. November 2022 und das Urteil vom 11. Oktober 2022 in der mündlichen Verhandlung tatsächlich nicht zur Sprache gekommen sind. Denn die Feststellung, dass bestimmte Erkenntnisquellen in der mündlichen Verhandlung erörtert worden sind, zählt nicht zu den nach § 105 VwGO i.V.m.§ 160 ZPO für die mündliche Verhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten, deren Beachtung nach § 165 Satz 1 ZPO nur durch das Protokoll bewiesen werden kann. Die Einführung amtlicher Auskünfte in die mündliche Verhandlung muss daher nicht zwingend in die Sitzungsniederschrift aufgenommen werden [...]. Dafür, dass der für den Kläger zu 1. geltend gemachte Nachfluchtgrund mit den in dem angegriffenen Urteil zu seiner Würdigung vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismitteln Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, sprechen schon die zu Protokoll genommenen eigenen Ausführungen seines Prozessbevollmächtigten. In der ihm vom Verwaltungsgericht nach Erörterung der Sach- und Rechtslage eingeräumten Gelegenheit zur Stellungnahme vertrat der Prozessbevollmächtigte der Kläger die Auffassung, es sei beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 1. im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation festgenommen und sofort auf Wehrfähigkeit geprüft und zu einer Grundausbildung verpflichtet werde, wobei anschließend dann auch ein Militärdienst in der Ukraine in Betracht komme [...]. In diesem Zusammenhang stellte der Prozessbevollmächtigte der Kläger klar, dass er schriftsätzlich nicht vorgetragen habe, der Kläger zu 1. werde zum Militärdienst in die Ukraine eingezogen, und erklärte sodann, dass sich die Frage der drohenden Einziehung nach den vorliegenden Erkenntnismitteln richte [...]. Dass er damit nicht auch auf die unmittelbar einschlägigen Dokumente der Anfragebeantwortung vom 21. Oktober 2022, des Länderinformationsblatts vom 9. November 2022 und des Urteils vom 11. Oktober 2022 Bezug nahm, erscheint fernliegend. Denn weder haben die Kläger geltend gemacht, dass es ihrem Prozessbevollmächtigten in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen wäre, diese drei Erkenntnisquellen zur Kenntnis zu nehmen, noch ist vorgetragen oder ersichtlich, dass die Kläger zur Frage einer drohenden Einberufung des Klägers zu 1. mit Blick auf die im Zuge des russischen Überfalls auf die Ukraine erfolgte (Teil-)Mobilmachung von sich aus Erkenntnismittel benannt hätten.

Im Übrigen hätte es dem Prozessbevollmächtigten der Kläger angesichts des in dem Begleitschreiben vom 24. Januar 2023 enthaltenen ausdrücklichen Hinweises oblegen, durch Nachfrage in der mündlichen Verhandlung zu klären, ob das Verwaltungsgericht entgegen seiner Ankündigung die in der aktualisierten Erkenntnismittelliste gegenüber der mit der Ladung übersandten Erkenntnismittelliste zusätzlich aufgenommenen Dokumente vom Verwaltungsgericht nicht heranziehen wolle [...]. Das Vorbringen der Kläger, sie hätten angenommen, dass die aktualisierte Erkenntnismittelliste seitens des Verwaltungsgerichts bewusst nicht in das Verfahren eingeführt worden sei, da anderenfalls "ein entsprechender Hinweis erwartbar und mehr als naheliegend gewesen" wäre (Zulassungsantrag, S. 4), überzeugt nicht. Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs hat dienende Funktion für eine materiell richtige Entscheidung und erlaubt den Verfahrensbeteiligten ungeachtet der im Verfahrensrecht unentbehrlichen Formalisierung nicht, sich künstlich "unwissender" zu stellen als sie tatsächlich sind. [...]