Familiennachzug aus gesundheitlichen Gründen:
1. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug wegen Pflegebedürftigkeit gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt die spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe voraus. Dies ist der Fall, wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückzuziehen, auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint.
2. Es kann offen bleiben, ob ärztliche Nachweise auch im Rahmen von § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG entsprechen müssen. Jedenfalls ergeben sich aus der prozessualen Mitwirkungspflicht gewisse Anforderungen, die an den Nachweis gesundheitlicher Gründe zu stellen sind. Danach muss sich aus ärztlichen Attesten nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage die fachärztliche Diagnose gestellt wurde und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich Patient*innen in ärztlicher Behandlung befunden haben und ob die geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Das Attest muss Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf geben.
(Leitsätze der Redaktion)
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14 Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug wegen Pflegebedürftigkeit gemäß § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG setzt demgemäß die spezifische Angewiesenheit auf familiäre Hilfe voraus. Das ist nicht bei jedem Betreuungsbedarf der Fall, sondern kann nur dann in Betracht kommen, wenn die geleistete Nachbarschaftshilfe oder im Herkunftsland angebotener professioneller pflegerischer Beistand den Bedürfnissen des Nachzugswilligen qualitativ nicht gerecht werden können. Wenn der alters- oder krankheitsbedingte Autonomieverlust einer Person so weit fortgeschritten ist, dass ihr Wunsch, sich in die familiäre Geborgenheit der ihr vertrauten persönlichen Umgebung engster Familienangehöriger zurückziehen zu wollen, auch nach objektiven Maßstäben verständlich und nachvollziehbar erscheint, spricht dies dagegen, sie auf die Hilfeleistungen Dritter verweisen zu können. Denn das humanitäre Anliegen des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG respektiert den in den unterschiedlichen Kulturen verschieden stark ausgeprägten Wunsch nach Pflege vorrangig durch enge Familienangehörige, zu denen typischerweise eine besondere Vertrauensbeziehung besteht. Pflege durch enge Verwandte in einem gewachsenen familiären Vertrauensverhältnis, das geeignet ist, den Verlust der Autonomie als Person infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen in Würde kompensieren zu können, erweist sich auch mit Blick auf die in Art. 6 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm als aufenthaltsrechtlich schutzwürdig. Dabei ist grundsätzlich eine umfassende Betrachtung aller Umstände des Einzelfalles geboten, bei der sowohl der Grad des Autonomieverlusts des nachzugswilligen Ausländers als auch das Gewicht der familiären Bindungen zu den in Deutschland lebenden Familienangehörigen und deren Bereitschaft und Fähigkeit zur Übernahme der familiären Pflege zu berücksichtigen sind [...].
16 Der Senat kommt - anders als das Verwaltungsgericht - nach dem derzeitigen Verfahrensstand insbesondere unter Berücksichtigung des im Beschwerdeverfahren vorgelegten Befundberichts und der gutachterlichen Stellungnahme des Facharztes für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Prof. Dr. med. J. vom 24. April 2025 zu der Einschätzung, dass hinreichende Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegen, weil die Antragstellerin aufgrund ihrer Erkrankungen, insbesondere solcher psychischer Art, auf familiäre Hilfe angewiesen ist und diese Hilfe in zumutbarer Weise nur durch die in Deutschland lebende Tochter erbracht werden kann.
17 In diesem Befundbericht wird die Diagnose nach ICD-10 gestellt, dass die Antragstellerin an einer aktuell schwergradig ausgeprägten depressiven Störung (F32.3), an episodisch paroxysmalen Ängsten/Panikstörung (F41.0), an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (F45.41) und einer komplexen Traumafolgestörung bei biografischer Mehrfachbelastung (6841 nach ICD-11) leide, die sich in Alpträumen, Schreckhaftigkeit, Flashbacks und dissoziativen Zuständen bzw. Panikattacken bei Trigger-Ereignissen zeige. Auslösend für die Traumafolgestörung seien hierbei einerseits die transgenerationale Belastung durch den Holocaust, in dem drei Onkel der Antragstellerin zu Tode gekommen seien. Sie selbst sei antisemitischen Anfeindungen in Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter ausgesetzt gewesen. Zudem sei sie mehrfach gewaltsamen Krisen- und Kriegshandlungen in Aserbaidschan und Israel u.a. auch durch ihre Tätigkeit im Krankenhaus und zuletzt durch Raketenbeschuss auf ihren Wohnort in Israel direkt exponiert gewesen. Sie zeige ein hoch akutes und komplexes psychosomatisches Störungsbild, das unmittelbare Gefahr für Leib und Leben bei zwangsweiser Abschiebung aus der stabilisierenden Situation bei der Tochter in A-Stadt dringend vermuten lasse. Hierbei seien einerseits die auf diese Situation bezogenen eindeutigen Suizidgedanken, als auch die Retraumatisierung durch die Zwangsmaßnahme mit massiver Verschlechterung und Aufrechterhaltung der Symptome maßgeblich. Eine Abschiebung und damit Trennung von der haltgebenden Tochter und der Sicherheit vermittelnden Situation in Deutschland sei aus fachärztlicher Sicht in keiner Weise vertretbar. Die Behandlung müsse in einem von der Antragstellerin als sicher erlebten und ihrer psychischen Stabilisierung zuträglichen Umfeld stattfinden. Der Staat Israel bzw. die dortige Krisenregion könne aufgrund der mit dem Kontext verknüpften Traumaerfahrung diese Sicherheit für die Antragstellerin auf absehbare Zeit nicht vermitteln. Eine Abschiebung nach Israel berge das sehr hohe Risiko des Suizides. Sie bedeute eine massive Retraumatisierung, was die weitere Verschlechterung der psychischen Gesundheit zur Folge hätte. Dabei seien insbesondere eine deutlich ungünstigere Prognose, sowie eine Lebenszeitverkürzung z.B. durch die kardiovaskulären und diabetologischen Folgen einer fortbestehenden schweren Depressivität zu nennen, die ein vorzeitiges Versterben der Patientin hoch wahrscheinlich machten. Die Patientin benötige dringend professionelle Behandlung im auf Traumafolgestörungen spezialisierten psychotherapeutischen Behandlungssetting.
18 Diese fachärztliche Stellungnahme entspricht den Mindestanforderungen, die an vorzulegende ärztliche Atteste bzw. gutachterliche Stellungnahmen zu stellen sind.
19 In § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG sind die Voraussetzungen normiert, denen eine ärztliche Bescheinigung entsprechen muss, mit denen ein Ausländer gemäß § 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG die einer Abschiebung entgegenstehenden gesundheitlichen Gründe glaubhaft zu machen hat. Sie soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD-10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Soweit das Vorliegen einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Ausländers begründet wird, ist allerdings zweifelhaft, ob auf die in § 60a Abs. 2c AufenthG normierten Voraussetzungen zurückgegriffen werden kann. Die Regelung bezieht sich nach ihrer systematischen Stellung zunächst nur auf Abschiebungshindernisse im Sinne von § 60a AufenthG. Durch die Einfügung der Verweisungsvorschrift in § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG hat der Gesetzgeber klargestellt, dass die Regelung auch für zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse gilt [...]. Auch dürfte davon auszugehen sein, dass § 60a Abs. 2c AufenthG auch auf andere in § 60 AufenthG normierte Abschiebungsverbote entsprechende Anwendung findet [...]. Die Anforderungen, die § 60a Abs. 2c AufenthG an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung stellt, sind auch auf die Substantiierung der Unmöglichkeit einer Ausreise im Sinne von § 25 Abs. 5 AufenthG zu übertragen [...]. In seiner Entscheidung vom 28. September 2017 [...] hat der Senat ferner die Auffassung vertreten, der Vorschrift des § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG komme allgemeine Bedeutung für die Frage zu, welche Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung zu stellen sind. Nach der Auffassung des Hessischen VGH [...] kann zur Beurteilung der Frage, ob es einem Ausländer gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen unzumutbar ist, das erforderliche Visumverfahren nachzuholen, auf die (erhöhten) Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG zurückgegriffen werden. Geht es - wie im vorliegenden Fall - um die Frage, ob ein Ausländer aufgrund seiner Erkrankungen auf familiäre Hilfe angewiesen ist, die in zumutbarer Weise nur durch in Deutschland lebende Familienangehörige erbracht werden kann, soll hingegen eine entsprechende Anwendung des § 60a Abs. 2c AufenthG ausscheiden, da es an einer planwidrigen Regelungslücke fehle [...]. Scheidet die Anwendung des § 60a Abs. 2c AufenthG aus, ergeben sich die konkreten Anforderungen, die an ärztliche Atteste bzw. gutachterliche Stellungnahmen zum Nachweis gesundheitlicher Gründe zu stellen sind, nach dem Maßstab, den das Bundesverwaltungsgericht aus der prozessualen Mitwirkungspflicht nach § 86 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 VwGO hergeleitet hat [...]. Danach muss sich aus ärztlichen Attesten bzw. Stellungnahmen nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren soll das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. [...]