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VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Beschluss vom 13.06.2025 - 22 L 841/25.A - asyl.net: M33445
https://www.asyl.net/rsdb/m33445
Leitsatz:

Keine qualifizierte Ablehnung des Asylantrags bei alleinerziehender, durch den Vater ihres Kindes bedrohter Mutter aus Türkei:

1. Ein bloßes Behaupten, dass der Asylantrag offensichtlich unbegründet sei, genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.

2. Alleinerziehende Mütter sind in der Türkei wenig akzeptiert, und zwar unabhängig von der sozialen Schicht. Ob der türkische Staat willens ist, ausreichend Schutz zu bieten, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, häusliche Gewalt, Frauen, nichteheliches Kind, alleinerziehend, offensichtlich unbegründet, Asylverfahren, geschlechtsspezifische Verfolgung,
Normen: AsylG § 30 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die schlichte Behauptung, der Asylantrag sei offensichtlich unbegründet, genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht [...].

Denn unter Würdigung des vorliegenden Akteninhalts und der sonstigen Erkenntnisse bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung und der ihr zugrundeliegenden Entscheidung der Antragsgegnerin hinsichtlich der Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet. [...]

Danach ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer einen Folgeantrag (§ 71 Abs. 1 AsylG) gestellt hat und ein weiteres Asylverfahren durchgeführt wurde. Diese Voraussetzungen sind hier zwar erfüllt. Es bestehen aber erhebliche Zweifel daran, dass die Ablehnung des Asylantrags der Antragstellerin rechtmäßig war. Das Bundesamt führt zur Begründung im Wesentlichen aus, dass die von der Antragstellerin geschilderten Bedrohungen durch den Kindsvater nicht aufgrund eines Verfolgungsmerkmals, das als Verfolgungsgrund im Sinne von § 3b AsylG angesehen werden könne, erfolgt seien, sondern wegen der von ihr gegen den Kindsvater geltend gemachten Ansprüche. Auch begründe der von der Antragstellerin geltend gemachte Umstand, dass sie als alleinerziehende Frau ohne Ehemann durch die türkische Gesellschaft diskriminiert werde, nicht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn die Antragstellerin habe insofern keine direkten Verfolgungshandlungen oder konkrete Ereignisse geschildert, die in der Gesamtwirkung die Intensität einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte begründen könnten.

Diese Begründung begegnet nicht zuletzt vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) erheblichen Bedenken. Nach § 3b AsylG ist bei der Prüfung der Verfolgungsgründe nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG Folgendes zu berücksichtigen: eine Gruppe gilt insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU dahin auszulegen ist, dass je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als "einer bestimmten sozialen Gruppe" zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines "Verfolgungsgrundes", der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann. Dabei ist es Sache des betreffenden Mitgliedstaats zu bestimmen, welche umgebende Gesellschaft für die Beurteilung des Vorliegens dieser sozialen Gruppe relevant ist [...].

Alleinerziehende Mütter sind nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen in der Türkei sozial wenig akzeptiert, und zwar unabhängig von der sozialen Schicht. Die vorherrschende patriarchalische Familienstruktur betont die entscheidende Rolle der Frau als Hüterin der Familie und macht sie für das Scheitern einer Ehe verantwortlich. Ein wichtiges Konzept, das in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist, ist namus (Ehre), das sich auf die "Keuschheit oder sexuelle Reinheit einer Frau" bezieht. Der Begriff der Ehre ist in der türkischen Kultur tief verwurzelt und weit verbreitet. Er dient als weiterer Kontrollmechanismus für das Verhalten der Frau. Dies zeugt von einem hohen Maß an gesellschaftlicher Kontrolle im türkischen Umfeld, da das Fehlverhalten einer Frau als Beleidigung der Familienehre angesehen wird. Der Begriff der Familie scheint im türkischen Umfeld institutionell zu sein, und eine Alternative für die soziale Reproduktion und die Bildung von Partnerschaften scheint es nicht zu geben. Unverheiratetes Leben wird in jeder Form als Anomalie angesehen und daher abgelehnt. Viele neigen dazu, eine unverheiratete Frau als herrenlose Frau zu betrachten. In der türkischen Kultur ist es für Frauen nicht akzeptabel, einen eigenen Haushalt zu gründen, insbesondere im Falle einer Scheidung. In der Regel wird von Frauen erwartet, dass sie "in andere Haushalte einsteigen, anstatt einen eigenen Haushalt zu gründen". Die Diskriminierung betrifft ebenso die Kinder von alleinerziehenden Müttern [...].

Hiervon ausgehend mag es zutreffend sein, dass, wie das Bundesamt ausführt, die vom Kindsvater gegen die Antragstellerin ausgesprochenen Drohungen wegen der von ihr (auch gerichtlich) geltend gemachten Ansprüche erfolgt sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass den Drohungen kein Verfolgungsgrund im Sinne von § 3b AsylG zugrunde läge. Nach dem Vortrag der Antragstellerin lehnt es der Kindsvater ab, Vater einer Tochter zu sein. Von der Antragstellerin hatte er verlangt, dass sie das Kind abtreibt. Da sie dem nicht nachgekommen ist, hat er ihr Gewalt angetan. Die vorgetragenen Drohungen richten sich demnach gegen die Antragstellerin in ihrer Eigenschaft als Frau, die gegen den Willen des Kindsvaters diesem eine (uneheliche) Tochter geboren hat. Damit knüpfen die vorgetragenen Drohungen, die unzweifelhaft Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG darstellen, an einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG an.

Da diese Drohungen von einem nichtstaatlichen Akteur ausgehen, ist hier zu prüfen, ob der türkische Staat willens und in der Lage ist, wirksamen Schutz zu bieten. Diese Prüfung, die einer eingehenden Auswertung der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel bedarf, kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nicht erfolgen und muss daher dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Denn die Frage, ob der türkische Staat willens und in der Lage ist, wirksamen Schutz zu bieten, lässt sich auf der Grundlage einer summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht beantworten. [...]