Flüchtlingsanerkennung wegen Homosexualität:
Je stärker Homosexuelle in Kamerun mit ihrer sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit treten und je wichtiger dieses Verhalten für ihre Identität ist, desto mehr erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, verfolgt zu werden.
(Leitsätze der Redaktion, so auch VG Stuttgart, Urteil vom 26.11.2024 - A 17 K 6503/24 - asyl.net: M32957)
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Vorliegend greift der Verfolgungsgrund der Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Homosexuelle bilden in Kamerun eine "soziale Gruppe", weil sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Aus den vorliegenden Erkenntnisquellen wird unzweifelhaft deutlich, dass Homosexualität in Kamerun nicht für "normal" gehalten wird [...]. Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes stehen homosexuelle Handlungen auch in dem am 12. Juli 2016 verkündeten Strafgesetzbuch unter Strafandrohung [...]. Wohl auf Weisung von höchster Regierungsebene ist 2014 die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Delikte nahezu eingestellt worden, wenn auch die Diskriminierung auf verschiedenen staatlichen Ebenen anhält. Homosexuelle Handlungen sind strafbar und werden in Einzelfällen verfolgt. Artikel 347-1 des kamerunischen Strafgesetzbuches sieht für homosexuelle Handlungen Gefängnisstrafen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vor sowie Geldstrafen von umgerechnet zwischen 30 und 300 Euro. Menschenrechtsorganisationen weisen in zahlreichen Berichten auf die oftmals prekäre Lage für sexuelle Minderheiten hin [...]. Vor allem Homosexuelle erfahren demnach Festnahmen, strafrechtliche Verfolgungen und Verurteilungen aufgrund ihrer sexuellen Identität. Verurteilungen stehen oft in Verbindung mit anderen Straftaten wie etwa Bestechung oder – aus dem Bereich der "offenses sexuelles" – die Verletzung des Schamgefühls Dritter im privaten Bereich, was den Tatbestand der Nötigung mit einschließt [...]. Aufgrund der Rechtslage sind Homosexuelle gezwungen, ihre Beziehungen zu verbergen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird Homosexualität in Zusammenhang mit Gewaltverbrechen und Drogenmissbrauch gebracht, geächtet und verurteilt. Fast alle gesellschaftlichen Gruppen, auch zahlreiche Kirchen, an prominenter Stelle auch Vertreter der katholischen Kirche, setzen sich für ein strikteres staatliches Vorgehen gegen Homosexuelle ein. Die Freiheit der sexuellen Orientierung ist nicht als Menschenrecht anerkannt. Festnahmen und Verurteilungen aufgrund homosexueller Handlungen sind zwar selten, kommen jedoch vor. Zumeist führen Denunziationen oder üble Nachrede zu diesen Festnahmen. Menschen, denen Homosexualität unterstellt wird, müssen damit rechnen, im öffentlichen Raum von mit Mitmenschen angegriffen zu werden. Im familiären Umfeld erfahren diese Personen Ächtung und Misshandlung [...].
Allerdings findet nach derzeitigen Erkenntnissen keine Gruppenverfolgung statt. [...] Nach dem [...] Bericht des Auswärtigen Amtes kommen Festnahmen und Verurteilungen aufgrund homosexueller Handlungen, insbesondere aufgrund von Anzeigen vor, sind aber selten. [...]
Es bedarf daher der Prüfung einer individuellen Gefahrenprognose im Einzelfall. Auf der Grundlage der festgestellten Homosexualität bzw. eines homosexuellen Verhaltens ist hierbei zu prüfen, ob dem Schutzsuchenden deswegen die beachtliche Gefahr einer Verfolgungshandlung droht. [...] kein Mensch lebt völlig frei von gesellschaftlichen Beziehungen. Damit steht jeder mit seinem Verhalten mehr oder minder in der Öffentlichkeit. Auch kann die homosexuelle Veranlagung die Persönlichkeit eines Menschen so sehr prägen, dass sie sich nur begrenzt verheimlichen lässt. Daher bedarf es in jedem Einzelfall, in dem ein Schutzsuchender geltend macht, er werde wegen seiner sexuellen Ausrichtung verfolgt, einer Gesamtwürdigung seiner Person und seines gesellschaftlichen Lebens und darauf aufbauend einer individuellen Gefahrenprognose. Je mehr ein Schutzsuchender dabei mit seiner sexuellen Ausrichtung in die Öffentlichkeit tritt und je wichtiger dieses Verhalten für seine Identität ist, desto mehr erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende verfolgt werden wird. Bei der Würdigung sind das bisherige Leben des Schutzsuchenden in seinem Heimatland, sein Leben hier in Deutschland sowie sein zu erwartendes Leben bei einer Rückkehr in den Blick zu nehmen [...]
Letztlich kommt es auf die Frage der Vorverfolgung aber nicht entscheidungserheblich an, da nach Überzeugung der Einzelrichterin jedenfalls keine Zweifel an der Homosexualität des Klägers bestehen. Er berichtete glücklich über seine jetzige Beziehung. Dabei stimmen seine Ausführungen dazu, wie er sein Partner kennengelernt hat, mit dessen Zeugenaussage hierzu überein. Bei seinen Ausführungen war seine Zuneigung zu seinem jetzigen Partner auch klar zu erkennen. Es wurde deutlich, wie sehr er es genießt, mit diesem Zeit zu verbringen und wie glücklich er über die intime Beziehung zu seinem Partner ist. Wahrnehmbar war auch, dass beide es genießen, diese Beziehung auch auszuleben, wobei sie dies nicht nur im privaten Raum tun, sondern froh darüber sind, dass sie ihre Zuneigung auch nach außen hin zeigen können, indem sie etwa Hand in Hand auf der Straße gehen, sich umarmen oder berühren, was auch der Zeuge bestätigte. Die Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung zeigten deutlich, wie wichtig es für ihn ist, seine Homosexualität zu leben. [...] Ob der Kläger wegen seiner Homosexualität in Kamerun bereits verfolgt wurde, bedarf daher keiner abschließenden Entscheidung und somit bedarf es auch keiner weiteren Prüfung der von ihm hierzu vorgelegten Unterlagen (Haftbefehl und Suchanzeige), da zur Überzeugung des Gerichts jedenfalls feststeht, dass der Kläger homosexuell ist und dass das Ausleben seiner Homosexualität für ihn unverzichtbar ist.
Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Kamerun mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit repressiven Maßnahmen von Vertretern des Staates bzw. Verfolgung durch seine Familie oder Dritte zu rechnen hätte, sofern er seine Homosexualität und deren Ausleben nicht aus Angst vor Verfolgung unterdrücken und verheimlichen würde, wovon nach dem Eindruck der Einzelrichterin beim Kläger nicht auszugehen ist. Vor diesem Hintergrund ist es dem Kläger nicht zuzumuten angesichts der in Kamerun herrschenden Verhältnisse in sein Heimatland zurückzukehren. [...]