BlueSky

EuGH

Merkliste
Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 01.08.2025 - C-758/24 und C-759/24 - LC und CP gg. Italien [Alace] und [Canpelli]K - asyl.net: M33501
https://www.asyl.net/rsdb/m33501
Leitsatz:

Kein sicheres Herkunftsland, wenn bestimmte Personengruppen ausgenommen sind: 

1. Ein Drittstaat kann nicht als sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden, wenn für bestimmte Gruppen der Bevölkerung dieses Staates ein ausreichender Schutz vor Verfolgung nicht gewährleistet ist. Die in Anhang I der Richtlinie 2013/32 genannten Kriterien zur Bestimmung eines sicheren Herkunftsstaates müssen im Hinblick auf die gesamte Bevölkerung des betreffenden Drittstaats erfüllt sein, damit dieser Staat als sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden kann. 

2. Die Bestimmung eines Drittstaates als sicherer Herkunftsstaat erfordert, dass in dem Land "generell" und "durchgängig" weder Verfolgung noch Folter, weder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe noch Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten sind. 

3. Mit der Verordnung 2024/1348 zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens für internationalen Schutz in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU zum 12.06.2026 wird in Art. 61 Verordnung 2024/1348 die Möglichkeit geschaffen, einen Drittstaat als sicheren Herkunftsstaat einzustufen und dabei eindeutig identifizierbare Personengruppen auszunehmen. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: sichere Herkunftsstaaten,
Normen: RL 2013/32/EU Art. 37, RL 2013/32/EU Anhang I, RL 2013/32 Art. 36 Abs. 1, VO 2024/1348 Art. 61
Auszüge:

[...]

90 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seiner jeweils vierten Frage im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 37 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit deren Anhang I dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, einen Drittstaat als sicheren Herkunftsstaat zu bestimmen, der für bestimmte Personengruppen die in Anhang I dieser Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für eine solche Bestimmung nicht erfüllt. [...]

92 Was als Erstes den Wortlaut von Art. 37 der Richtlinie 2013/32 anbelangt, der nach seiner Überschrift die nationale Bestimmung von Drittstaaten als sichere Herkunftsstaaten betrifft, wird dort mehrfach auf die Begriffe "Staat" und "Drittstaat" Bezug genommen. Im Wortlaut dieser Vorschrift deutet nichts darauf hin, dass diese Begriffe für die Zwecke einer solchen Bestimmung so verstanden werden könnten, dass sie nur einen Teil – gegebenenfalls den Großteil – der Bevölkerung des betreffenden Drittstaats erfassen, unter Ausschluss eines anderen Teils dieser Bevölkerung oder bestimmter Personengruppen.

93 Was als Zweites den Zusammenhang betrifft, in den sich Art. 37 der Richtlinie 2013/32 einfügt, geht erstens aus diesem Artikel hervor, dass die Mitgliedstaaten sichere Herkunftsstaaten im Einklang mit Anhang I der Richtlinie bestimmen können. Ebenso wie der Wortlaut dieses Artikels enthalten die in diesem Anhang genannten Kriterien jedoch keinen Anhaltspunkt dafür, dass es den Mitgliedstaaten freistünde, einen Drittstaat als sicheren Herkunftsstaat zu bestimmen, obgleich für bestimmte Personengruppen innerhalb der Bevölkerung dieses Staates die in Anhang I vorgesehenen materiellen Kriterien nicht erfüllt sind.

94 Vielmehr hängt nach dem Wortlaut von Anhang I die Bestimmung eines Drittstaats als sicherer Herkunftsstaat von der Möglichkeit des Nachweises ab, dass dort "generell" und "durchgängig" weder eine Verfolgung noch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe noch Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts zu befürchten sind.

95 Insoweit trifft es zu, dass die Sprachfassungen von Anhang I der Richtlinie 2013/32 voneinander abweichen. So ist nur in der französischen Sprachfassung dieses Anhangs von dem Adverb "uniformément" die Rede. Die anderen Sprachfassungen dieses Anhangs [...] entsprechen Ausdrücken wie "konstant", "systematisch", "dauerhaft", "fortwährend" oder "kohärent".

96 Abgesehen von diesen Bedeutungsunterschieden liegt all diesen Wörtern jedoch eine Vorstellung der "Unveränderlichkeit" zugrunde. Mangels einer Bezugnahme in Art. 37 der Richtlinie 2013/32 oder in deren Anhang I auf einen Teil der Bevölkerung des betreffenden Drittstaats ist folglich festzustellen, dass diese Bedeutungsunterschiede darauf hindeuten, dass die in Anhang I genannten Bedingungen im Hinblick auf die gesamte Bevölkerung des betreffenden Drittstaats erfüllt sein müssen, damit dieser Staat als sicherer Herkunftsstaat eingestuft werden kann. Sie bringen somit die Entscheidung des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, die Bestimmung eines sicheren Herkunftsstaats von der Voraussetzung abhängig zu machen, dass der Drittstaat im Allgemeinen für seine gesamte Bevölkerung sicher ist, nicht nur für einen Teil von ihr.

97 Im Übrigen gibt es selbst in einem Staat, der im Allgemeinen für seine gesamte Bevölkerung sicher ist, keine absolute Garantie für die Sicherheit jedes Einzelnen. Aus diesem Grund hat der Unionsgesetzgeber in Art. 36 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 – im Licht der Erwägungsgründe 40 und 42 der Richtlinie gelesen – für jede Person, die internationalen Schutz beantragt und aus einem als sicheren Herkunftsstaat eingestuften Staat stammt, die Möglichkeit vorgesehen, die widerlegbare Vermutung eines ausreichenden Schutzes dadurch zu entkräften, dass sie schwerwiegende Gründe darlegt, die ihren speziellen Fall betreffen. [...]

100 Eine Auslegung von Art. 37 der Richtlinie 2013/32 dahin, dass ein Drittstaat als sicherer Herkunftsstaat bestimmt werden kann, obwohl dieser Staat für bestimmte Personengruppen die materiellen Voraussetzungen des Anhangs I dieser Richtlinie nicht erfüllt, würde den Geltungsbereich dieser besonderen Prüfungsregelung erweitern. Da eine solche Auslegung weder im Wortlaut von Art. 37 noch im Weiteren in der Richtlinie eine Stütze findet, würde bei Bejahung einer solchen Möglichkeit verkannt, dass Bestimmungen mit Ausnahmecharakter eng ausgelegt werden müssen [...].

106 Zwar führt Art. 61 Abs. 2 der Verordnung 2024/1348, mit deren Art. 78 die Richtlinie 2013/32 mit Wirkung ab dem 12. Juni 2026 aufgehoben wird, eine solche Möglichkeit ein, indem er festlegt, dass ein Drittstaat sowohl auf Unionsebene als auch auf nationaler Ebene unter Ausnahme eindeutig identifizierbarer Personengruppen als sicheres Herkunftsland bestimmt werden kann. Dabei handelt es sich aber um das Vorrecht des Unionsgesetzgebers, diese Entscheidung im Zuge einer neuen Abwägung zu revidieren.

107 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass es Sache des Unionsgesetzgebers ist, den Zeitpunkt zu wählen, ab dem eine neue Bestimmung wie Art. 61 Abs. 2 der Verordnung 2024/1348 anwendbar wird; diese Wahl hat er in Art. 79 Abs. 2 und 3 der Verordnung getroffen. Außerdem steht es ihm frei, diese Entscheidung durch Änderung der zuletzt genannten Vorschrift rückgängig zu machen, was im Übrigen von der Kommission vorgeschlagen worden ist. So sieht ihr Vorschlag vom 16. April 2025 für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung 2024/1348 (COM[2025] 186 final) in Art. 1 Abs. 2 vor, Art. 79 Abs. 2 und 3 der Verordnung 2024/1348 zu ändern, um die Anwendung von u. a. Art. 61 Abs. 2 der Verordnung vorzuziehen. [...]

109 Nach alledem ist auf die jeweils vierte Frage zu antworten, dass Art. 37 der Richtlinie 2013/32 in Verbindung mit Anhang I der Richtlinie dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, einen Drittstaat als sicheren Herkunftsstaat zu bestimmen, der für bestimmte Personengruppen die in Anhang I der Richtlinie genannten materiellen Voraussetzungen für eine solche Bestimmung nicht erfüllt. [...]