§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG ist mit Unionsrecht unvereinbar:
1. Die Regelung des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG (Aufenthaltserlaubnis für ausländischen Elternteil zur Ausübung der Personensorge eines deutschen minderjährigen Kindes) ist nicht mit Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 (Gleichbehandlung von Unionsbürger*innen) vereinbar. Die nationale Regelung führt zu einer unmittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit des Kindes. Der Elternteil eines Unionsbürgerkindes kann eine Aufenthaltserlaubnis zur Personensorge des in Deutschland lebenden Kindes nicht beanspruchen, während einem Elternteil eines deutschen Kindes eine Aufenthaltserlaubnis zur Personensorge erteilt werden kann.
2. Hält sich ein Elternteil eines Unionsbürgerkindes zur Arbeitssuche im Bundesgebiet auf, kann die Gewährung von Sozialleistungen durch den Mitgliedstaat verweigert werden. Bei Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG besteht hingegen ein Anspruch auf Sozialleistungen für den sorgeberechtigten Elternteil.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
32 Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob Art. 18 AEUV und/oder die Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach einem Unionsbürger, der das Sorgerecht für sein minderjähriges Kind hat, nach dem nationalen Recht allein deshalb keine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge erteilt werden darf, weil dieses Kind zwar ebenfalls Unionsbürger ist und sich gemäß dieser Richtlinie in dem Mitgliedstaat aufhält, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt.
33 Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergibt, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Aufenthaltserlaubnis bei sich in Deutschland aufhaltenden minderjährigen Kindern zu einer Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit führen. Insbesondere kann nach der deutschen Regelung einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats eine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge nur erteilt werden, wenn er dieses Sorgerecht für ein minderjähriges lediges Kind ausübt, das seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland und die deutsche Staatsangehörigkeit hat. Folglich kann dem Elternteil, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, eine solche nationale Aufenthaltserlaubnis im Fall eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist, aber nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat, selbst dann nicht erteilt werden, wenn das betroffene Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat.
34 Art. 20 Abs. 1 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers. Dieser ist dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, im sachlichen Anwendungsbereich des AEU-Vertrags unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen [...].
35 Deshalb kann sich jeder Unionsbürger in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV berufen. Zu diesen Situationen gehören diejenigen, die die Ausübung der durch Art. 20 Abs. 2 Buchst. A AEUV und Art. 21 AEUV verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten [...].
36 Da das Kind des Klägers des Ausgangsverfahrens Unionsbürger ist und sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem aufhält, dessen Staatsangehörigkeit es besitzt, fällt seine Situation in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts, so dass es sich grundsätzlich auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gemäß Art. 18 AEUV berufen kann [...].
40 Unter diesen Umständen bedarf es einer Auslegung von Art. 24 der Richtlinie 2004/38.
41 Was erstens diesen Art. 24 Abs. 1 angeht, genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des AEU-Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats.
42 Zum einen handelt es sich im vorliegenden Fall, wie Rn. 39 des vorliegenden Urteils zu entnehmen ist, beim Kind des Klägers des Ausgangsverfahrens um einen Unionsbürger, der sich im Sinne von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 "aufgrund dieser Richtlinie" in Deutschland aufhält.
43 Zum anderen fällt die Erteilung einer nationalen Aufenthaltserlaubnis für den Elternteil eines minderjährigen Kindes, das Unionsbürger ist und von seiner Freizügigkeit im Sinne dieses Art. 24 Abs. 1 Gebrauch gemacht hat, in den "Anwendungsbereich des Vertrags", da die Erteilung einer solchen Erlaubnis der Ausübung des Rechts des betroffenen minderjährigen Kindes, sich im Aufnahmemitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, förderlich sein kann.
44 Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, geht aus den Erwägungsgründen 3 und 4 der Richtlinie 2004/38 hervor, dass diese die Ausübung des elementaren und persönlichen Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, das den Unionsbürgern unmittelbar aus Art. 21 Abs. 1 AEUV erwächst, erleichtern und dieses Recht stärken soll. Der Schutz des Familienlebens der Unionsbürger und insbesondere der Erlass von Maßnahmen zur Integration ihrer Familie im Aufnahmemitgliedstaat tragen zur Erreichung dieses Ziel bei [...]. Die Erteilung einer nationalen Aufenthaltserlaubnis für den Elternteil eines Kindes, das Unionsbürger ist und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hat, wird diesen Zielen gerecht, da dadurch das Familienleben dieses Kindes in diesem Mitgliedstaat geachtet und die Integration seiner Familie in diesem Staat gefördert werden kann, zumal die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis die Ausübung der elterlichen Sorge für dieses Kind grundsätzlich so lange ermöglicht, wie es dieser Sorge untersteht.
45 Somit ist der in Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 konkretisierte Grundsatz der Gleichbehandlung, der verlangt, dass Personen, die sich in vergleichbaren Situationen befinden, rechtlich gleich zu behandeln sind, auf eine Situation wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende anwendbar.
46 Im Rahmen des Ausgangsverfahrens steht fest, dass FL die von ihm beantragte Aufenthaltserlaubnis allein deshalb nicht erteilt wurde, weil sein Kind nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat, da er im Übrigen alle sonstigen im deutschen Recht vorgesehenen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erfüllt. Folglich führt die in Rede stehende nationale Regelung zu einer unmittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit des Kindes und ist daher unvereinbar mit Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38, soweit sie dem Elternteil dieses Kindes, das die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats hat, kein Aufenthaltsrecht zur Ausübung seiner elterlichen Sorge für dieses Kind verleiht, während ein deutsches Kind in einer solchen Situation zum selben Zweck von der Anwesenheit seines Elternteils mit der Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats profitieren könnte. [...]
49 Bei einer Regelung wie der in Rn. 46 des vorliegenden Urteils genannten, steht dem Elternteil des Kindes, das nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat, auf der Grundlage von Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 ein Recht auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge für sein Kind unter denselben Voraussetzungen zu, die gemäß dieser Regelung für ausländische Eltern von Kindern mit deutscher Staatsangehörigkeit gelten.
50 Im vorliegenden Fall soll, wie aus den Rn. 43 und 44 des vorliegenden Urteils hervorgeht, die von FL beantragte Aufenthaltserlaubnis diesem letztlich als Elternteil ohne die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats die Ausübung des Sorgerechts für sein Kind, das dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, und damit – da auch das Kind nicht die deutsche Staatsangehörigkeit, sondern die eines anderen Mitgliedstaats besitzt – die Achtung des Familienlebens dieses Kindes in Deutschland sowie seine Freiheit, sich in Deutschland zu bewegen und aufzuhalten, ermöglichen. Könnte dem Elternteil eines Kindes nicht die nationale Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, die von den Eltern eines Inländers beantragt werden kann, wäre dieses Kind in seinem Recht auf Gleichbehandlung verletzt [...].
52 Zweitens wurde in Bezug auf die Folgen, die sich aus der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis allein nach dem nationalen Recht ergeben, in Rn. 28 des vorliegenden Urteils darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall nach dem deutschen Recht der Inhaber einer gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis aufgrund dieser Erlaubnis auch Sozialleistung nach dem SGB II beantragen kann. Diese Leistungen wurden FL jedoch mit der Begründung verweigert, dass er in Deutschland nur ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchender habe.
53 Zwar hält FL sich "aufgrund dieser Richtlinie" und insbesondere aufgrund von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 als Arbeitsuchender in diesem Mitgliedstaat auf. Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie erlaubt den Mitgliedstaaten aber ausdrücklich, eine Ausnahme vom Grundsatz der Gleichbehandlung zu machen und einem Antragsteller, dessen Aufenthaltsrecht sich auf Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie stützt, die Gewährung von Sozialleistungen zu verweigern.
54 Würde FL jedoch die von ihm nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG beantragte Aufenthaltserlaubnis erteilt, ließen die in der vorstehenden Randnummer dargestellten Ausführungen allerdings sein Recht auf Gewährung von Sozialleistungen nach dem SGB II unberührt. [...]
58 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 24 der Richtlinie 2004/38 dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach einem Unionsbürger, der das Sorgerecht für sein minderjähriges Kind hat, nach dem nationalen Recht allein deshalb keine Aufenthaltserlaubnis zur Ausübung der elterlichen Sorge erteilt werden darf, weil dieses Kind zwar ebenfalls Unionsbürger ist und sich gemäß dieser Richtlinie in dem Mitgliedstaat aufhält, aber nicht dessen Staatsangehörigkeit besitzt. [...]