Frist zur freiwilligen Ausreise ist nicht als reine Durchführungsmodalität zu betrachten:
1. Gemäß Art. 7 Abs. 4 Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115) können die Mitgliedstaaten im Rahmen der Rückkehrentscheidung auf die Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise verzichten, wenn Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dagegen sprechen, Fluchtgefahr besteht oder ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet oder missbräuchlich abgelehnt wurde. Die Frist zur freiwilligen Ausreise hat Auswirkungen auf die Rechtsstellung von Ausreisepflichtigen. Während der Frist ist die Familieneinheit zu wahren, medizinische Notfallversorgung und der Zugang zu Bildung für Minderjährige sind zu gewährleisten. Aus diesen Gründen ist die Frist zur freiwilligen Ausreise keine reine Durchführungsmodalität.
2. Die Entscheidung, eine Frist zur freiwilligen Ausreise nicht zu gewähren, kann mit einer Klage angefochten werden.
3. Ein Einreiseverbot muss nicht gleichzeitig mit der Rückkehrentscheidung erlassen werden. Es kann auch noch nach einer erheblichen Zeitspanne nach Erlass der Rückkehrentscheidung verhängt werden.
4. Wird festgestellt, dass eine Frist zur freiwilligen Ausreise unrechtmäßig nicht eingeräumt oder zu kurz bestimmt wurde, ist die gesamte Rückkehrentscheidung für nichtig zu erklären.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
37 Mit seiner ersten Frage in der Rechtssache C-636/23 und dem ersten Teil seiner ersten Frage in der Rechtssache C-637/23, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 7 Abs. 4, Art. 8 Abs. 1 und 2 und Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass sie dem entgegenstehen, die Nichteinräumung einer Frist für die freiwillige Ausreise als bloße Durchführungsmodalität anzusehen, die an der Rechtsstellung des betreffenden Drittstaatsangehörigen nichts ändert, da es keinen Einfluss auf die Feststellung des illegalen Aufenthalts dieses Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats hat, ob eine solche Frist eingeräumt wird oder nicht. [...]
39 Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 bestimmt in erster Linie, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich verpflichtet sind, gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen. Im Rahmen dieses einleitenden Schritts des Rückkehrverfahrens hat, wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, von Ausnahmen abgesehen, die freiwillige Erfüllung der sich aus der Rückkehrentscheidung resultierenden Verpflichtung Vorrang. [...]
40 Die Mitgliedstaaten können jedoch unter den in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 ausdrücklich aufgeführten besonderen Umständen [...] davon absehen, eine solche Frist einzuräumen, oder eine Frist von weniger als sieben Tagen vorsehen [...].
41 Wenn ein Mitgliedstaat davon abgesehen hat, eine Frist für die freiwillige Ausreise einzuräumen, sowie für den Fall, dass die Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der für die freiwillige Ausreise eingeräumten Frist erfüllt wurde, verpflichtet Art. 8 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2008/115 den Mitgliedstaat, die Abschiebung vorzunehmen und dabei unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und der Grundrechte alle erforderlichen Maßnahmen, gegebenenfalls auch Zwangsmaßnahmen, zu treffen [...].
42 Demgegenüber ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115, dass, wenn ein Mitgliedstaat gemäß Art. 7 dieser Richtlinie eine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt hat, die Rückkehrentscheidung erst nach Ablauf dieser Frist vollstreckt werden kann, es sei denn, dass innerhalb dieser Frist eine der Gefahren im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie entsteht.
43 Somit entspricht die Reihenfolge der Schritte in dem durch die Richtlinie 2008/115 geschaffenen Rückführungsverfahren einer Abstufung der zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung zu treffenden Maßnahmen, die von der die Freiheit des Betroffenen am wenigsten beschränkenden Maßnahme – der Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise – bis zu den diese Freiheit am stärksten beschränkenden Maßnahmen – etwa der Inhaftnahme in einer speziellen Einrichtung – reichen, wobei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei all diesen Schritten gewahrt werden muss [...].
44 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass eine Rückkehrentscheidung außer in den in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 genannten Fällen nicht sofort vollstreckt werden kann, nur weil sich der Betroffene illegal in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhält.
45 Daher hat eine Entscheidung darüber, ob eine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wird oder nicht, unmittelbare Rechtswirkungen, die von den zuständigen nationalen Behörden zu befolgen sind.
46 Außerdem sieht Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/115 vor, dass gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen ein Einreiseverbot verhängt wird, falls keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde oder falls der Rückkehrverpflichtung nicht nachgekommen wurde.
47 Die Feststellung dieser Rechtswirkungen einer Entscheidung über die Einräumung oder Nichteinräumung einer Frist für eine freiwillige Ausreise steht im Einklang mit dem Zweck von Art. 7 der Richtlinie 2008/115, der, indem er vorsieht, dass die Mitgliedstaaten im Grundsatz gehalten sind, illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Frist für die freiwillige Ausreise einzuräumen [...].
48 Dass die Einräumung einer Frist für eine freiwillige Ausreise nichts an der Illegalität des Aufenthalts im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats ändert, steht dieser Auslegung nicht entgegen. Zwar bleibt der Drittstaatsangehörige während der ihm für seine freiwillige Rückkehr eingeräumten Frist illegal aufhältig, doch hat, wie der Generalanwalt in Nr. 53 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, die Nichteinräumung einer Frist für die freiwillige Ausreise, wie oben in Rn. 45 festgestellt, erhebliche Auswirkungen auf die Rechtsstellung dieses Drittstaatsangehörigen.
49 Schließlich stellen nach dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 die Mitgliedstaaten außer in den in deren Art. 16 und 17 genannten Fällen sicher, dass innerhalb der für die freiwillige Ausreise gewährten Frist in Bezug auf Drittstaatsangehörige soweit wie möglich die Grundsätze beachtet werden, wonach die Familieneinheit mit den in demselben Hoheitsgebiet aufhältigen Familienangehörigen aufrechterhalten wird, die medizinische Notfallversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten gewährt werden, Minderjährigen der Zugang zum Grundbildungssystem je nach Länge ihres Aufenthalts gewährt wird und die spezifischen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen berücksichtigt werden.
50 Folglich kann eine Entscheidung über die Einräumung einer Frist für eine freiwillige Ausreise nicht als bloße Durchführungsmodalität angesehen werden, die an der Rechtsstellung des betreffenden Drittstaatsangehörigen nichts ändert. [...]
52 Mit dem dritten Teil seiner zweiten Frage in der Rechtssache C-636/23 und dem zweiten Teil seiner ersten Frage in der Rechtssache C-637/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Entscheidung, keine Frist zur freiwilligen Ausreise einzuräumen, im Rahmen einer Klage angefochten werden können muss.
53 Insoweit garantiert Art. 13 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dem betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht, [...] einen wirksamen Rechtsbehelf gegen Rückkehrentscheidungen und Entscheidungen über ein Verbot der Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder eine Abschiebung einzulegen. [...]
55 Insbesondere muss die zuständige nationale Behörde, wenn sie beabsichtigt, eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, den Betroffenen hierzu anhören. Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör vor Erlass einer Rückkehrentscheidung ergibt sich für die zuständigen nationalen Behörden die Verpflichtung, dem Betroffenen zu ermöglichen, seinen Standpunkt zu den Modalitäten seiner Rückkehr vorzutragen, d. h. zur Ausreisefrist und dazu, ob die Rückkehr freiwillig erfolgen oder zwangsweise durchgesetzt werden soll. Auf diese Weise erhält der betreffende illegal aufhältige Drittstaatsangehörige die Gelegenheit, die Beurteilung seiner Situation durch die Verwaltung im Rahmen einer Klage anzufechten, sofern er dies wünscht [...].
56 Vor diesem Hintergrund ist sowohl hinsichtlich der Entscheidung, ob eine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wird, als auch hinsichtlich der Länge dieser Frist ein wirksamer Rechtsbehelf zu gewährleisten. Der betreffende Drittstaatsangehörige muss nämlich eine nach Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 erlassene Entscheidung, mit der ihm keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wird, vor einem Gericht oder einem ähnlichen unparteiischen Gremium anfechten können sowie geltend machen können, dass die ihm nach Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie eingeräumte Ausreisefrist nicht angemessen sei.
57 Auf den dritten Teil der zweiten Frage in der Rechtssache C-636/23 und den zweiten Teil der ersten Frage in der Rechtssache C-637/23 ist zu antworten, dass Art. 13 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Entscheidung, keine Frist für die freiwillige Ausreise einzuräumen, im Rahmen einer Klage angefochten werden können muss. [...]
58 Mit dem ersten und dem zweiten Teil seiner zweiten Frage in der Rechtssache C-636/23 und für den Fall, dass die erste Frage in dieser Rechtssache bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 3 Nr. 6 bzw. in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 enthaltenen Wendungen "mit der … einhergeht" bzw. "gehen mit … einher" dahin auszulegen sind, dass sie die zuständige nationale Behörde nicht daran hindern, auch nach einer erheblichen Zeitspanne ein Einreiseverbot zu verhängen, das auf einer Rückkehrentscheidung beruht, mit der keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wird.
59 In Art. 3 Nr. 6 der Richtlinie 2008/115 wird der Begriff "Einreiseverbot" definiert als "die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme, mit der die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und der dortige Aufenthalt für einen bestimmten Zeitraum untersagt wird und die mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht". [...]
62 Dem Wortlaut von Art. 3 Nrn. 4 und 6 sowie von Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 ist zu entnehmen, dass ein "Einreiseverbot" eine Rückkehrentscheidung dadurch ergänzen soll, dass dem Betroffenen verboten wird, während eines bestimmten Zeitraums nach seiner "Rückkehr", wie sie in Art. 3 Nr. 3 dieser Richtlinie definiert wird, also nach seiner Ausreise aus dem Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, erneut in dieses Gebiet einzureisen und sich darin aufzuhalten. Ein Einreiseverbot entfaltet folglich seine Wirkungen erst ab dem Zeitpunkt, zu dem der Betreffende dieses Gebiet tatsächlich verlässt [...].
63 Daraus folgt, dass die in Art. 3 Nr. 6 bzw. in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 enthaltenen Wendungen "mit der … einhergeht" und "gehen mit … einher" dem Begriff "ergänzen" im Sinne der oben in Rn. 62 angeführten Rechtsprechung gleichgestellt werden können.
64 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 bis 68 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, hat der Gerichtshof jedoch das Verb "ergänzen" nicht in dem Sinne verwendet, dass ein Einreiseverbot nur dann an eine Rückkehrentscheidung, mit der keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wird, anknüpfen dürfte, wenn es gleichzeitig oder kurz danach erlassen wird, sondern im Sinne von "ergänzend", wonach es sich auf eine materielle Anknüpfung bezieht und diese Entscheidung grundsätzlich eine notwendige Vorbedingung für die Wirksamkeit des Einreiseverbots ist. [...]
66 Folglich ist die nationale Behörde, die für die Verhängung eines Einreiseverbots zuständig ist, das mit einer Rückkehrentscheidung einhergeht, mit der keine Frist für eine freiwillige Ausreise eingeräumt wurde, nicht verpflichtet, das Einreiseverbot gleichzeitig mit dieser Rückkehrentscheidung oder zumindest kurz nach Erlass der Rückkehrentscheidung zu erlassen.
67 Auf den ersten und den zweiten Teil der zweiten Frage in der Rechtssache C-636/23 ist zu antworten, dass Art. 3 Nr. 6 und Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass sie die zuständige nationale Behörde nicht daran hindern, auch nach einer erheblichen Zeitspanne ein Einreiseverbot zu verhängen, das auf einer Rückkehrentscheidung beruht, mit der keine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wird. [...]
68 Mit seiner dritten Frage in der Rechtssache C-636/23 und seiner zweiten Frage in der Rechtssache C-637/23 möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 3 Nr. 4 und Art. 7 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass die Rechtswidrigkeit der in einer Rückkehrentscheidung enthaltenen Bestimmung über die Frist für eine freiwillige Ausreise die Nichtigkeit dieser Rückkehrentscheidung insgesamt nach sich zieht. [...]
69 Nach Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 ist unter "Rückkehrentscheidung" die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme zu verstehen, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird. "Rückkehrverpflichtung" bedeutet nach Art. 3 Nr. 3 dieser Richtlinie, dass die betreffende Person in ihr Herkunftsland, in ein Transitland oder in ein anderes Drittland, in das sie freiwillig zurückkehren will und in dem sie aufgenommen wird, zurückkehren muss [...].
70 Somit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115, dass die Auferlegung oder Feststellung einer Rückkehrverpflichtung eines der beiden Tatbestandsmerkmale einer Rückkehrentscheidung darstellt, da eine solche Rückkehrverpflichtung nach Nr. 3 dieses Artikels ohne die Bestimmung eines Zielorts, der eines der in Nr. 3 genannten Länder sein muss, nicht vorstellbar ist [...].
71 Folglich ändert die zuständige nationale Behörde, wenn sie das in einer vorausgegangenen Rückkehrentscheidung genannte Zielland ändert, diese so wesentlich, dass sie als eine neue Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 3 Nr. 4 der Richtlinie 2008/115 anzusehen ist [...].
75 Daraus folgt, dass die betreffende Rückkehrentscheidung insgesamt für nichtig zu erklären ist, wenn hinsichtlich der Entscheidung, ob eine Frist für die freiwillige Ausreise eingeräumt wird, oder in Bezug auf die Dauer dieser Frist eine Rechtswidrigkeit festgestellt wird. [...]
8 Nach alledem ist auf die dritte Frage in der Rechtssache C-636/23 und auf die zweite Frage in der Rechtssache C-637/23 zu antworten, dass Art. 3 Nr. 4 und Art. 7 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen sind, dass die in einer Rückkehrentscheidung enthaltene Bestimmung über die Frist für die freiwillige Ausreise Bestandteil der mit dieser Rückkehrentscheidung auferlegten oder festgestellten Rückkehrverpflichtung ist, so dass eine Rechtswidrigkeit dieser Bestimmung zur Folge hätte, dass diese Entscheidung insgesamt nichtig würde. [...]