Grundbedürfnisse sind unter allen Umständen zu decken:
Die Pflicht der Mitgliedstaaten, die Grundbedürfnisse von Schutzsuchenden unter allen Umständen zu decken, entfällt auch dann nicht, wenn eine vorübergehende Erschöpfung der Unterbringungskapazitäten aufgrund eines unvorhersehbaren und unabwendbaren Zustroms von Drittstaatsangehörigen eingetreten ist.
(Leitsatz der Redaktion)
[...]
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Voraussetzungen für die Haftung eines Mitgliedstaats wegen Verstoßes gegen die Richtlinie 2013/33/EU [...] und von Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
2 Es ergeht im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten [...] wegen Anträgen auf Ersatz der Schäden, die dadurch entstanden sein sollen, dass S. A. und R. J. nach Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in Irland weder Unterkunft, Verpflegung und Wasser noch andere im Rahmen der Aufnahme vorgesehene materielle Leistungen zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zur Verfügung gestellt worden seien. [...]
10 S. A., ein afghanischer Staatsangehöriger, und R. J., ein indischer Staatsangehöriger, beantragten am 15. Februar bzw. am 20. März 2023 internationalen Schutz in Irland.
11 Die irischen Behörden gaben ihnen jeweils einen Einzelgutschein über 25 Euro. Diese Behörden vertraten jedoch die Ansicht, dass sie ihnen keine Unterkunft zur Verfügung stellen könnten, da die Aufnahmezentren für Asylbewerber ungeachtet der Verfügbarkeit vorübergehender individueller Unterkünfte in Irland belegt seien. Mangels Unterbringung in einem solchen Aufnahmezentrum hatten S. A. und R. J. zum Zeitpunkt der Beantragung des internationalen Schutzes keinen Anspruch auf die im irischen Recht für Antragsteller auf internationalen Schutz vorgesehenen Geldleistungen zur Deckung des täglichen Bedarfs. [...]
14 S. A. und R. J. wurde am 27. April bzw. 22. Mai 2023 eine Unterkunft zur Verfügung gestellt.
15 In der Folge erhoben S. A. und R. J. beim High Court (Hohes Gericht, Irland), dem vorlegenden Gericht, Klagen gegen den Minister und den Generalstaatsanwalt auf Ersatz des Schadens, der ihnen dadurch entstanden sein soll, dass ihnen weder Unterkunft, Verpflegung und Wasser noch andere im Rahmen der Aufnahme vorgesehene materielle Leistungen zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse zur Verfügung gestellt worden seien.
16 Vor diesem Gericht bestreiten der Minister und der Generalstaatsanwalt nicht, dass ein Verstoß gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Richtlinie 2013/33 und von Art. 1 der Charta festzustellen ist [...].
17 Sie machen jedoch geltend, dass dieser Verstoß, da er sich aus einem Fall höherer Gewalt ergebe, nicht als "hinreichend qualifiziert" [...] angesehen werden könne, um zu einer Entschädigung führen zu können.
18 Ohne sich auf fehlende finanzielle Mittel zu berufen, weisen der Minister und der Generalstaatsanwalt darauf hin, dass in Irland die Unterbringungskapazitäten für Antragsteller auf internationalen Schutz erschöpft gewesen seien, nachdem Irland mit der plötzlichen Ankunft einer noch nie dagewesenen Zahl von Drittstaatsangehörigen, die vorübergehenden oder internationalen Schutz beantragt hätten, konfrontiert gewesen sei. Daher seien alleinstehenden männlichen erwachsenen nicht schutzbedürftigen Antragstellern auf internationalen Schutz in Irland über einen Zeitraum von viereinhalb Monaten keine Unterkünfte angeboten worden. Die irischen Behörden hätten jedoch alle zumutbaren Anstrengungen unternommen, um die Unterbringung dieser Personen zu gewährleisten und ihren sonstigen Bedürfnissen im Rahmen der Aufnahme Rechnung zu tragen. Somit sei der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verstoß gegen das Unionsrecht nicht vorsätzlich begangen worden. [...]
26 In Anbetracht dessen ist davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen möchte, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der einem Antragsteller auf internationalen Schutz mehrere Wochen lang nicht den Zugang zu den nach der Richtlinie 2013/33 im Rahmen der Aufnahme vorgesehenen materiellen Leistungen gewährleistet hat, sich seiner unionsrechtlichen Haftung entziehen kann, indem er sich darauf beruft, dass die in seinem Hoheitsgebiet für Antragsteller auf internationalen Schutz üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft seien, da es einen Zustrom von Drittstaatsangehörigen, die vorübergehenden oder internationalen Schutz beantragt hätten, gegeben habe, der aufgrund seiner Größe und Plötzlichkeit unvorhersehbar und unabwendbar gewesen sei. [...]
34 Unabhängig davon, wie ein Mitgliedstaat diese materiellen Leistungen bereitstellt, verlangt Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33, dass diese einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern auf internationalen Schutz gewährleistet. Nach Art. 17 Abs. 3 der Richtlinie 2013/33 können die Mitgliedstaaten jedoch die Gewährung aller oder bestimmter dieser Leistungen sowie die medizinische Versorgung davon abhängig machen, dass die Antragsteller nicht über ausreichende Mittel für einen Lebensstandard verfügen, der ihre Gesundheit und ihren Lebensunterhalt gewährleistet.
35 Außerdem bestimmt Art. 17 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33 für den Fall, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Form von Geldleistungen oder Gutscheinen gewähren, dass sich deren Umfang auf Grundlage des Leistungsniveaus, das der betreffende Mitgliedstaat anwendet, um eigenen Staatsangehörigen einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten, bemisst, wobei die Behandlung von Antragstellern auf internationalen Schutz weniger günstig sein kann als die Behandlung, die eigenen Staatsangehörigen zuteilwird. Insoweit geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass die Höhe solcher Geldleistungen oder Gutscheine für ein menschenwürdiges Leben ausreichen muss, bei dem die Gesundheit und der Lebensunterhalt der Antragsteller auf internationalen Schutz gewährleistet sind, indem sie in die Lage versetzt werden, eine Unterkunft zu finden, gegebenenfalls auf dem privaten Wohnungsmarkt [...].
36 Entscheidet sich ein Mitgliedstaat dafür, die Unterkunft als Sachleistung bereitzustellen, muss er grundsätzlich eine Reihe spezifischer Anforderungen erfüllen, die in Art. 18 Abs. 1 bis 8 der Richtlinie 2013/33 festgelegt sind. Nach Art. 18 Abs. 9 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 können die Mitgliedstaaten allerdings in begründeten Ausnahmefällen für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, andere Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen festlegen als in diesem Artikel vorgesehen, wenn die üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind. Nach Art. 18 Abs. 9 letzter Satz der Richtlinie 2013/33 müssen diese Modalitäten jedoch unter allen Umständen die Grundbedürfnisse der betroffenen Personen decken.
37 Unabhängig von der Wahl, die ein Mitgliedstaat zwischen den verschiedenen in den Art. 17 und 18 der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Möglichkeiten getroffen hat, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Richtlinie 2003/9/EG [...] insbesondere das Gebot nach Art. 1 der Charta, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, dem entgegenstehen, dass einem Antragsteller auf internationalen Schutz, und sei es auch nur vorübergehend, der mit den in diesen Richtlinien festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird [...].
38 Insbesondere kann die Vollauslastung der Netze für die Aufnahme von Antragstellern auf internationalen Schutz keinerlei Abweichung von den im Unionsrecht festgelegten Mindestnormen für die Aufnahme dieser Antragsteller rechtfertigen [...].
39 Aus der Zusammenschau der in den Art. 17 und 18 der Richtlinie 2013/33 enthaltenen Normen ergibt sich, dass ein Mitgliedstaat, wenn die in seinem Hoheitsgebiet für Antragsteller auf internationalen Schutz üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind, zwischen zwei Möglichkeiten wählen kann.
40 Erstens kann der betreffende Mitgliedstaat, sofern die in Art. 18 Abs. 9 der Richtlinie 2013/33 genannten Voraussetzungen erfüllt sind, beschließen, eine Unterkunft als Sachleistung bereitzustellen, wobei er nicht alle in diesem Art. 18 genannten Anforderungen erfüllen, jedoch unter allen Umständen die Grundbedürfnisse der betroffenen Personen decken muss.
41 Zweitens muss dieser Mitgliedstaat, wenn er die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen nicht mehr in Form von Sachleistungen gewähren möchte oder kann, diese Leistungen in Form von Geldleistungen oder Gutscheinen gewähren, die hoch genug sind, um die Grundbedürfnisse der Antragsteller auf internationalen Schutz zu decken und ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, bei dem ihre Gesundheit und ihr Lebensunterhalt gewährleistet sind [...].
42 Daraus folgt, dass die Mitgliedstaaten zwar über einen gewissen Spielraum bei der Festlegung der genauen Form und Höhe der von ihnen im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen verfügen, dass sie es aber, ohne diesen Spielraum offenkundig und erheblich zu überschreiten und ohne die Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig zu verkennen, nicht – und sei es auch nur vorübergehend – unterlassen dürfen, im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen zur Deckung der Grundbedürfnisse eines Antragstellers auf internationalen Schutz zu gewähren, der nicht über ausreichende Mittel für einen Lebensstandard verfügt, der seine Gesundheit und seinen Lebensunterhalt, einschließlich seines Zugangs zu Wohnraum, gewährleistet.
43 Eine solche Unterlassung kann daher einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Unionsrecht im Sinne der oben in Rn. 27 angeführten Rechtsprechung darstellen, selbst wenn sie in einer Situation erfolgt, in der die im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats für Antragsteller auf internationalen Schutz üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft sind. [...]
45 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass die vorübergehende Erschöpfung der für Antragsteller auf internationalen Schutz üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten unabhängig von ihrem Grund als solche nicht bedeutet, dass die Erbringung der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in Form von Geldleistungen oder Gutscheinen, die eine der Möglichkeiten der Mitgliedstaaten darstellt, ihren Verpflichtungen aus der Richtlinie 2013/33 nachzukommen, auf besondere Schwierigkeiten stößt oder sich gar als unmöglich erweist.
46 Zum anderen geht aus Rn. 36 des vorliegenden Urteils hervor, dass der Unionsgesetzgeber für den Fall, dass der betreffende Mitgliedstaat die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen als Sachleistungen bereitstellen möchte, in Art. 18 Abs. 9 Buchst. b dieser Richtlinie eine Ausnahmeregelung eingeführt hat, die unter bestimmten Voraussetzungen bei vorübergehender Erschöpfung der üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten gilt, wobei die Modalitäten dieser Ausnahme geregelt sind. Der Unionsgesetzgeber hat den Mitgliedstaaten u.a. eine Erfolgspflicht auferlegt, die darin besteht, den betroffenen Antragstellern auf internationalen Schutz "unter allen Umständen" die Deckung ihrer Grundbedürfnisse zu gewährleisten, und damit ausgeschlossen, dass die Mitgliedstaaten, die diese Ausnahmeregelung umsetzen, sich davon befreien können, die hierfür erforderlichen Garantien zu bieten. [...]
49 In Anbetracht der kumulativen Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 18 Abs. 9 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 ist davon auszugehen, dass die mit dieser Bestimmung eingeführte Ausnahmeregelung anwendbar ist, wenn die vorübergehende Erschöpfung der für Antragsteller auf internationalen Schutz üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten von einem angemessen sorgfältigen Mitgliedstaat objektiv nicht vermieden werden konnte. Daher ist diese Ausnahmeregelung, wie die Generalanwältin in Nr. 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, u. a. dann anwendbar, wenn die vorübergehende Erschöpfung der üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten auf einen großen und plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen, die vorübergehenden oder internationalen Schutz beantragt haben, zurückzuführen ist, der unvorhersehbar und unabwendbar war. [...]
51 Hat der Unionsgesetzgeber Vorschriften erlassen, mit denen eine Regelung festgelegt werden soll, die für den Fall des Eintritts unvorhersehbarer oder unabwendbarer Ereignisse oder anderer Unwägbarkeiten unabhängig von deren Ursachen bestimmte Erfolgspflichten auferlegt, so können diese Erfolgspflichten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht unter Berufung auf den Eintritt solcher von der fraglichen Regelung erfassten Ereignisse oder Unwägbarkeiten entfallen [...].
52 Daher ist es – sofern man nicht den Zweck der in Art. 18 Abs. 9 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Ausnahmeregelung verkennen und ihr die praktische Wirksamkeit nehmen möchte – nicht zulässig, dass ein Mitgliedstaat die Verletzung seiner sich aus dieser Ausnahmeregelung ergebenden Pflichten, insbesondere der Pflicht, "unter allen Umständen" die Grundbedürfnisse der betroffenen Personen zu decken, damit rechtfertigt, dass das als Voraussetzung für die Anwendung der Ausnahmeregelung geltende Ereignis eingetreten ist, nämlich die vorübergehende Erschöpfung der für Antragsteller auf internationalen Schutz üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten, auch wenn sie auf einen großen und plötzlichen Zustrom von Drittstaatsangehörigen, die vorübergehenden oder internationalen Schutz beantragt haben, zurückzuführen ist, der unvorhersehbar und unabwendbar war.[...]
54 Im vorliegenden Fall ist im Übrigen festzustellen, dass sich weder aus der Vorlageentscheidung noch aus dem Verfahren vor dem Gerichtshof ergibt, dass Irland nachgewiesen hätte, dass es infolge des von ihm angeführten großen Zustroms von Drittstaatsangehörigen, die vorübergehenden oder internationalen Schutz beantragt haben, nicht in der Lage gewesen wäre, ihnen eine Unterkunft außerhalb des üblicherweise für die Unterbringung solcher Drittstaatsangehörigen vorgesehenen Systems zur Verfügung zu stellen – gegebenenfalls in Anwendung der in Art. 18 Abs. 9 Buchst. b der Richtlinie 2013/33 vorgesehenen Ausnahme – oder ihnen andernfalls Geldleistungen oder Gutscheine in für menschenwürdige Lebensbedingungen ausreichender Höhe zu gewähren. [...]
57 Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat, der einem Antragsteller auf internationalen Schutz mehrere Wochen lang nicht den Zugang zu den nach der Richtlinie 2013/33 im Rahmen der Aufnahme vorgesehenen materiellen Leistungen gewährleistet hat, sich seiner unionsrechtlichen Haftung nicht entziehen kann, indem er sich darauf beruft, dass die in seinem Hoheitsgebiet für Antragsteller auf internationalen Schutz üblicherweise verfügbaren Unterbringungskapazitäten vorübergehend erschöpft seien, da es einen Zustrom von Drittstaatsangehörigen, die vorübergehenden oder internationalen Schutz beantragt hätten, gegeben habe, der aufgrund seiner Größe und Plötzlichkeit unvorhersehbar und unabwendbar gewesen sei. [...]