Daueraufenthaltsrecht bei voller Erwerbsminderung:
1. EU-Staatsangehörige können gemäß § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU ein Daueraufenthaltsrecht schon vor Ablauf von fünf Jahren erwerben, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung aufgeben, nachdem sie sich mindestens zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten haben.
2. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der mindestens zweijährigen Voraufenthaltsdauer ist der Zeitraum zwischen der Begründung des Aufenthaltes und der Aufgabe der Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung (und nicht der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung).
3. Die volle Erwerbsminderung muss für die Beendigung der Erwerbstätigkeit kausal gewesen sein. Ob eine Kausalität vorliegt, ist anhand der Umstände des Einzelfalles im Zeitpunkt der Beendigung der Tätigkeit zu beurteilen. Kausalität liegt jedenfalls nicht vor, wenn eine Tätigkeit unfreiwillig aufgegeben wird und erst später, während der Arbeitslosigkeit, die Minderung der Erwerbsfähigkeit eintritt.
4. Für die Annahme einer "vollen Erwerbsminderung" im Sinne des § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU ist eine dauernde Arbeitsunfähigkeit ausreichend. Arbeitsunfähigkeit liegt vor, wenn die Betroffenen infolge einer Krankheit die zuletzt ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen können und prognostisch nicht mit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in absehbarer Zeit zu rechnen ist. Die Arbeitsunfähigkeit ist arbeitsplatzbezogen zu beurteilen, nicht arbeitsmarktbezogen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
aa) Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Feststellung des Verlusts der Freizügigkeitsberechtigung und auch der Abschiebungsandrohung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts [...].
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz ist bei abweichender normativer Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts geboten [...].
Dies gilt [...] auch für die in § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU aufgeworfenen Fragen, ob die Unionsbürger ihre "Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung aufge(ge)ben" haben, "nachdem sie sich zuvor mindestens zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten haben". Die Frage der mindestens zweijährigen Voraufenthaltsdauer ist nach dem Normwortlaut anhand der Verhältnisse im Zeitraum zwischen (vermeintlicher) erstmaliger Begründung des ständigen Aufenthalts und der Aufgabe der Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung zu beantworten; die weitere Frage der Kausalität der vollen Erwerbsminderung für die Aufgabe der Erwerbstätigkeit ist anhand der Umstände im Zeitpunkt der Aufgabe der Erwerbstätigkeit zu beurteilen [...]
ββ) Der Kläger hat auch nach § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU kein Daueraufenthaltsrecht erworben.
Abweichend von § 4a Abs. 1 FreizügG/EU (siehe hierzu oben II.1.b)bb)(1)δ)αα)) haben gemäß § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU die in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FreizügG/EU genannten Unionsbürger vor Ablauf von fünf Jahren das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung aufgeben, nachdem sie sich zuvor mindestens zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten haben.
Der Begriff der "vollen Erwerbsminderung" im Sinne des § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU ist richtlinienkonform dahin auszulegen, dass auch eine dauernde Arbeitsunfähigkeit genügt [...]. § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU dient der Umsetzung von Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG, der in der deutschsprachigen Fassung lautet "infolge einer dauernden Arbeitsunfähigkeit aufgeben", in der englischsprachigen Fassung "as a result of permanent incapacity to work" und in der französischsprachigen Fassung "à la suite d’une incapacité permanente de travail". Das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit ist arbeitsplatzbezogen zu beurteilen und stimmt nicht mit der arbeitsmarktbezogen zu beurteilenden Erwerbsminderung im Sinne des § 43 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) überein [...]. Arbeitsunfähigkeit liegt schon dann vor, wenn der Betroffene auf Grund von Krankheit seine zuletzt vor der Arbeitsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen kann [...]. In Abgrenzung zur nur vorübergehenden Erwerbsminderung bzw. vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU bzw. Art. 7 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2004/38/EG [...] ist eine volle Erwerbsminderung bzw. dauernde Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU bzw. Art. 17 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG gegeben, wenn prognostisch mit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in absehbarer, angemessener Zeit nicht zu rechnen ist.
§ 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU fordert zudem, dass die Erwerbstätigkeit "infolge einer vollen Erwerbsminderung" aufgegeben wird. Die volle Erwerbsminderung bzw. dauernde Arbeitsunfähigkeit muss mithin kausal für die Aufgabe der Erwerbstätigkeit gewesen sein [...]. Das Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU entsteht daher nicht, wenn die Erwerbstätigkeit zunächst unfreiwillig endet und erst später während der Arbeitslosigkeit die Erwerbsminderung eintritt [...].
Hiernach erfüllt der Kläger die Voraussetzungen des § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU nicht. Bei Aufgabe der Erwerbstätigkeit mit Ablauf des 30. April 2021 hat sich der Kläger zwar zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten (siehe hierzu oben II.1.b)bb)(1)α)). Er hat seine Erwerbstätigkeit aber nicht "infolge einer vollen Erwerbsminderung" aufgegeben. Anhand der insoweit maßgeblichen Umstände im Zeitpunkt der Aufgabe Erwerbstätigkeit (siehe zum insoweit maßgeblichen Zeitpunkt oben II.1.b)aa)) vermag der Senat - entgegen dem erstinstanzlich entscheidenden Verwaltungsgericht - die notwendige Überzeugung vom Vorliegen einer vollen Erwerbsminderung bzw. dauernden Arbeitsunfähigkeit nicht zu gewinnen.
Die von dem Kläger beigebrachten ärztliche Atteste vom 18. Juni 2021 [...] und vom 21. Oktober 2021 [...] dokumentieren zwar, dass er sich unter anderem wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F 43.1), einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD 10: F 32.3), einer andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD 10: F 62.0) sowie unklaren Gedächtnisstörungen und chronischem Alkoholabusus in kontinuierlicher ärztlicher Behandlung befunden hat. Auch wenn konkrete Angaben zum Erkrankungs- und Behandlungsbeginn fehlen, liegt die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der Kläger bereits vor Aufgabe seiner Erwerbstätigkeit mit Ablauf des 30. April 2021 erkrankt gewesen ist, nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht fern. Die Arbeitsunfähigkeit setzt aber weiter voraus, dass der Kläger auf Grund der Krankheiten seine ausgeübte Tätigkeit nicht mehr oder nur unter der Gefahr der Verschlimmerung der Erkrankung ausführen konnte. Dies muss prognostisch zudem ein andauernder Zustand gewesen sein. Dies ist für den Senat hier nicht belegt. Es fehlt an jedweden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen für den Zeitraum vor Aufgabe der Erwerbstätigkeit mit Ablauf des 30. April 2021. Dem Kläger ist erstmals ab dem 10. Mai 2021 [...] und nachfolgend unter dem 11. Februar 2022 [...], dem 7. Februar 2023 [...] und dem 24. April 2023 [...] eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt worden. Auch konkrete und verifizierbare Angaben dazu, ab welchem genauen Zeitpunkt die Erkrankungen des Klägers die Ausübung seiner Tätigkeit bei D. nicht nur beeinträchtigt, sondern ausgeschlossen haben sollen, fehlen. Dies steht im offenen Widerspruch zu dem Zeitraum nach Aufgabe der Erwerbstätigkeit mit Ablauf des 30. April 2021, für den vom Kläger Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, ärztliche Atteste sowie Unterlagen der Krankenkasse und der Bundesagentur Arbeit vorgelegt worden sind, anhand derer der gesamte Zeitraum nahezu lückenlos nachzuvollziehen ist. Vor diesem Hintergrund kann den nur vagen Ausführungen der Nichte des Klägers, Frau E., in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht kein entscheidendes Gewicht beigemessen werden und hat dies dem Senat auch keinem Anlass zur weiteren amtswegigen Sachaufklärung im Berufungsverfahren geboten. Die Nichte des Klägers hatte als dessen Terminsvertreterin lediglich ausgeführt: "Mein Onkel wollte eigentlich keine Kündigung, aber als wir ihn wegen des Krankengelds bei der Bundesagentur für Arbeit angemeldet hat, haben die Wert auf eine Kündigung gelegt, daher ist diese dann ausgesprochen worden. Der Hintergrund war, dass mein Onkel Gedächtnisprobleme hatte. Er hatte diese Probleme schon während seiner Arbeitszeit, aber er wollte arbeiten, bis ihm der Chef gesagt hat, dass es nicht mehr geht." [...]. Anhand dieser Ausführungen ist nicht ansatzweise nachzuvollziehen, ab welchem genauen Zeitpunkt die Erkrankungen des Klägers die Ausübung seiner Tätigkeit bei D. ausgeschlossen haben sollen. Soweit die Ausführungen auf eine Arbeitsunfähigkeit vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf des 30. April 2021, den Bezug von Krankengeld und die Einflussnahme von Krankenkasse bzw. Agentur für Arbeit auf den Ausspruch der Kündigung zum Zwecke der Vermeidung weiterer Krankengeldzahlungen hindeuten [...], ist dies in keiner Weise belegt. Die Ausführungen stehen zudem im offenen Widerspruch zu der von der Bundesagentur für Arbeit erteilten Bescheinigung vom 2. März 2022 [...], wonach der Kläger im Kalenderjahr 2021 in der Zeit vom 1. Mai 2021 bis zum 20. Juni 2021 nur Arbeitslosengeld I bezogen hat, und zu den von der Krankenkasse erteilten Bescheinigungen über den Bezug von Entgeltersatzleistungen vom 30. August 2022, vom 8. September 2022 und vom 7. November 2022 [...], wonach dem Kläger im Kalenderjahr 2021 nur für Zeiträume ab dem 21. Juni 2021 Krankengeld gezahlt worden ist. Eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vor dem Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit Ablauf des 30. April 2021, geschweige denn eine prognostisch dauernde Arbeitsunfähigkeit, ergibt sich hieraus nicht ansatzweise.
Der Kläger hat daher nicht nachgewiesen, dass er die Tatbestandsvoraussetzungen des § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FreizügG/EU für das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts erfüllt. Zwar gilt für alle Unionsbürger und ihre Familienangehörigen die Freizügigkeitsvermutung. Im Streitfall obliegt den Unionsbürgern und ihren Angehörigen allerdings die Nachweispflicht der die Freizügigkeit begründenden Voraussetzungen. Denn es handelt sich um Tatbestandsvoraussetzungen, die eine dem Ausländer günstige Rechtsfolge nach sich ziehen. Dies gilt auch dann, wenn sie - wie hier im Rahmen des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU - negative Voraussetzung einer Eingriffsnorm sind. [...]