Abschiebungsanordnung nach Italien derzeit rechtswidrig:
1. Eine Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG erfordert, dass die Überstellung rechtlich zulässig ist und mit großer Wahrscheinlichkeit in nächster Zeit tatsächlich möglich sein wird. Kann eine Überstellung nicht durchgeführt werden, so ist gemäß § 34a Abs. 1 S. 4 AsylG eine Abschiebungsandrohung (§ 34 AsylG) zu erlassen. Diese explizit vorgesehene Möglichkeit steht einer Rechtsfortbildung zur Schließung einer etwaigen planwidrigen Regelungslücke entgegen.
2. Von einer tatsächlichen Durchführbarkeit der Überstellung nach Italien kann nicht ausgegangen werden. Italien ist offensichtlich nicht zur Übernahme bereit.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der Kläger wendet sich gegen die mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) ausgesprochene Unzulässigkeit seines Asylantrags und die darauf beruhende angeordnete Abschiebung nach Italien. [...]
Zunächst ergeben sich nicht bereits auf Grundlage der mit Rundschreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 [...] erklärten Weigerung der italienischen Behörden zur (Wieder-)Aufnahme von Schutzsuchenden, für die Italien nach den Regelungen der Dublin III-VO eigentlich zuständig ist, systemische Mängel. Ein auf der in den Erklärungen offenbarten Weigerung aufbauender Übergang der Zuständigkeit kann nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung des Europarechts, an die sich die erkennende Kammer gebunden sieht, nicht mehr angenommen werden [...]).
Auch in Ansehung der aktuellen Verhältnisse in Italien bei gedachter Rücküberstellung droht dem Kläger unter Beachtung der einzelfallbezogenen Umstände keine beachtliche Gefahr einer unmenschlichen bzw. entwürdigenden Behandlung in Italien.
Insofern ist bei der Anwendung der oben bereits geschilderten Maßstäbe besonders die spezifische Situation des Betroffenen in den Blick zu nehmen und dabei muss zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen sowie besonders vulnerablen Gruppen mit besonderer Verletzbarkeit (z. B. Kleinkinder, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, Hochschwangere, erheblich Erkrankte etc.) unterschieden werden. Bei Letzteren ist der Schutzbedarf naturgemäß anders bzw. höher [...].
Bei dem erwachsenen und gesunden Kläger handelt es sich nicht um eine Person mit besonderem Schutzbedarf. Entsprechendes hat er weder vorgetragen noch ist es sonst ersichtlich.
Dies zugrunde legend, folgt die erkennende Kammer in Abkehr von ihrer bisherigen Entscheidungspraxis der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, nach der sich in Übertragung der Darlegungen des Bundesverwaltungsgerichts zu der Lage von international Schutzberechtigten in Italien bei den Aufnahme- und Lebensbedingungen der Personengruppe der nicht vulnerablen Asylsuchenden in Italien keine systemischen Schwachstellen feststellen lassen [...].
Zwar erachtet die erkennende Kammer bereits die der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen zugrunde liegende Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht in jeder Hinsicht für überzeugend. So ist das Bundesverwaltungsgericht insbesondere der aus Sicht der Kammer wesentlichen Frage nach der Anzahl an temporären Unterkünften bzw. Notschlafstellen und Hilfsorganisationen nicht nachgegangen, sondern unterstellt letztlich die Auskömmlichkeit, ohne dabei die Anzahl der zu Versorgenden mit in den Blick zu nehmen. Auch erachtet es die Kammer weiterhin nicht als überzeugend, die Betroffenen auf Tätigkeiten in der Schattenwirtschaft und damit letztlich entgegen dem europäischen Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit auf die Illegalität zu verweisen, selbst wenn eine Sanktionierung in Italien faktisch in den allermeisten Fällen ausbleiben sollte [...].
Hinzu kommt, dass das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen die Argumentation im Wege eines Erst-Recht-Schlusses auf Dublin-Rückkehrer überträgt, ohne die Anzahl der diesen zur Verfügung stehenden Unterbringungseinrichtungen im Erstaufnahmesystem (CAS) – das System der Zweiaufnahmeeinrichtungen SAI steht demgegenüber nur international Schutzberechtigten und Vulnerablen zur Verfügung – im Verhältnis zu den Rückkehrern genauer zu beleuchten.
Trotz dieser fortbestehenden Bedenken und auch wenn die Gefahr einer Obdachlosigkeit nicht auszuschließen sein dürfte, schließt sich die Kammer nicht zuletzt zur Wahrung der Rechtseinheit im Ergebnis der auf Grundlage der (spärlichen) zur Verfügung stehenden Tatsachengrundlage benannten Gerichte getroffenen Wertung an, dass es (noch) hinreichend wahrscheinlich ist, dass Dublin-Rückkehrer eine menschenwürdige Unterkunft finden [...].
Allerdings hält die in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides angeordnete Abschiebung des Klägers nach Italien einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.
Rechtsgrundlage für den Erlass der Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt unter anderem in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG – wie hier – die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Die Abschiebung muss also nicht nur rechtlich zulässig, sondern in nächster Zeit ("sobald") mit großer Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich möglich sein Von einer tatsächlichen Durchführbarkeit der Überstellung nach Italien kann nicht ausgegangen werden [...].
Italien ist offensichtlich nicht zur Übernahme bereit. Das ergibt sich bereits aus den vor mehr als zweieinhalb Jahren abgegebenen Erklärungen vom 5. Dezember 2022 und vom 7. Dezember 2022 (Circular Letters des Ministero dell’Interno), mit denen Italien eine (Wieder-)Aufnahme von Schutzsuchenden, für die der Mitgliedstaat nach den Regelungen der Dublin III-VO eigentlich zuständig ist, unter Berufung auf technische Gründe und fehlende Aufnahmekapazitäten zeitlich befristet, aber ohne Nennung eines konkreten Enddatums – mit Ausnahme von Fällen unbegleiteter Minderjährigen im Rahmen des Familiennachzugs – eingestellt hat. Seitdem erklärt Italien im Rahmen der (Wieder-) Aufnahmeverfahren nach Kenntnis der Kammer auch nicht mehr seine Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylverfahren, sondern diese wird lediglich in Folge der Nichtreaktion auf Grundlage von Art. 22 Abs. 7 bzw. Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO fingiert. Seit Abgabe der Erklärung haben auch faktisch allenfalls vereinzelte Rückübernahmen stattgefunden [...], die nichts daran ändern, dass weder zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung noch in absehbarer Zeit eine Überstellung des Klägers faktisch möglich erscheint [...].
Es sind namentlich nach wie vor keinerlei Anzeichen erkennbar, dass Italien zeitnah oder auch nur innerhalb des nächsten halben Jahres von seiner bisherigen Praxis abweichen würde oder dass die anderen Mitgliedstaaten oder die Organe der Europäischen Union auf eine Rückkehr zur Beteiligung Italiens am Dublin-System drängen würden.
Soweit Teile der Rechtsprechung demgegenüber entschieden haben, es stehe fest, dass Abschiebungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien durchgeführt werden könnten, die italienischen Erklärungen seien lediglich dem Überstellungsverfahren zuzuordnen [...], vermag dies dogmatisch nicht zu überzeugen. Es ist bereits nicht erkennbar, weshalb Fragen des Überstellungsverfahrens – also organisatorischer Natur – jedenfalls dann keinen Einfluss auf die tatsächliche Möglichkeit der Überstellung haben sollen, wenn sie – wie hier – von einem solchen Gewicht sind, dass sie eine Überstellung auf unabsehbare Zeit faktisch ausschließen. Auch die benannte Rechtsprechung nennt hierfür keine dogmatische Grundlage.
Aber auch sonst überzeugt die Rechtsprechung nicht. Die in § 34a Abs. 1 AsylG vorgesehene Abschiebungsanordnung ist eben Grundlage des Überstellungsverfahrens und darf – anders als die Abschiebungsandrohung – nur erlassen werden, wenn die Abschiebung rechtlich wie tatsächlich möglich erscheint. Genau dies unterscheidet sie gerade inhaltlich von der ansonsten vorgesehenen Abschiebungsandrohung, die nach § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG auch weiterhin möglich ist, wenn eine Abschiebungsanordnung nicht erlassen werden kann, sprich: wenn eine Abschiebung gerade nicht in Aussicht steht. Im Übrigen kann die Tatsache, dass die Dublin III-VO im Falle einer Nichtüberstellung binnen sechs Monaten einen Zuständigkeitsübergang vorsieht, nicht dazu führen, dass auch bei der vorliegend zu beurteilenden jahrelangen klar artikulierten und umgesetzten Nichtrücknahme gleichwohl von einer praktisch möglichen Abschiebung i. S. d. § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG auszugehen wäre. Denn die weitergehende Rechtsfolge des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO für den Fall, dass retrospektiv feststeht, dass eine Überstellung – aus welchen Gründen auch immer im Einzelfall – nicht durchgeführt werden konnte, lässt keine Schlüsse auf die Auslegung des § 34a AsylG, namentlich die Anforderungen an die Prognose hinsichtlich der Durchführbarkeit einer Abschiebung, zu.
Dabei verkennt die Kammer nicht, dass der Gesetzgeber gerade für die Fälle der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates der Europäischen Union für das Asylverfahren nach der Dublin III-VO gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG in § 34a Abs. 1 Satz 1 den Erlass einer Abschiebungsanordnung vorgesehen hat. Einen weitreichenden Ausschluss dieser Vorgehensweise über Einzelfälle hinaus, wie er sich nunmehr seit Jahren im Hinblick auf Italien ergibt, das sich faktisch dem Dublin-System entzogen hat, hatte der Gesetzgeber ersichtlich nicht im Blick. Diese Konsequenz entspricht auch nicht der hinter der Regelung stehenden Intention, die (Rück-) Überstellungen im Rahmen des Dublin-Verfahrens – wie bei den zunächst erfassten Fällen der Abschiebung in einen sicheren Drittstaat – einem beschleunigten Verfahren zu unterstellen, wie es auch dem diesem Regelwerk immanenten Beschleunigungsgrundsatz entspricht. Die gleichwohl in § 34a Abs. 1 Satz 4 AsylG explizit vorgesehene Möglichkeit der Abschiebungsandrohung für den Fall, dass eine Abschiebungsanordnung nicht ergehen kann, steht insoweit auch einer Rechtsfortbildung zur Schließung einer etwaigen planwidrigen Regelungslücke im Hinblick auf eine vom Gesetzgeber so nicht antizipierte Konstellation entgegen.
Die Kammer sieht sich schließlich aus rechtsdogmatischen Gründen nicht im Stande, die tatbestandlichen Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung in der vorliegenden Konstellation aus praktischen Erwägungen einzuschränken. Zwar wird die Entscheidung über die Zuständigkeit für den Asylantrag des Betroffenen in Folge der Aufhebung einer Abschiebungsanordnung im gerichtlichen Eilverfahren erst mit Ergehen der Entscheidung im Hauptsacheverfahren getroffen und läuft auch die sechsmonatige Überstellungsfrist erst ab diesem Zeitpunkt [...].
Gleichwohl ist die daraus folgende längere Phase der Ungewissheit auf die durch den Asylsuchenden selbst erfolgte (erfolgreiche) Inanspruchnahme von gerichtlichem Eilrechtsschutz zurückzuführen und auch von der Dublin III-VO in Art. 27 Abs. 3 selbst so vorgesehen. Der Beschleunigungsgrundsatz gebietet folglich keine Korrektur. Strebt die Beklagte eine schnellere Klarheit an, so hat sie dies bereits durch die Wahl einer Abschiebungsandrohung anstelle einer Abschiebungsanordnung in der Hand. [...]