BlueSky

OVG Niedersachsen

Merkliste
Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 05.08.2025 - 4 LA 86/23 - asyl.net: M33532
https://www.asyl.net/rsdb/m33532
Leitsatz:

Verzicht auf mündliche Verhandlung nicht widerruflich: 

Die Einverständniserklärung zur Entscheidung des Gerichts ohne mündliche Verhandlung gemäß § 101 Abs. 2 VwGO unterliegt keiner zeitlichen Befristung und ist nicht widerruflich. Es liegt im Ermessen des Gerichts, trotz einer Verzichtserklärung eine mündliche Verhandlung, etwa bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage, durchzuführen. 

(Leitsatz der Redaktion) 

Schlagwörter: Berufungszulassungsantrag, rechtliches Gehör, Verzicht auf mündliche Verhandlung, Asylverfahren, mündliche Verhandlung, Verzicht, Verwaltungsgericht,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3; GG Art 103 Abs. 1; VwGO § 101 Abs. 2; VwGO § 138 Nr. 3; VwGO § 173 S. 1; ZPO § 128 Abs. 2 S. 1; ZPO § 128 Abs. 2 S. 3
Auszüge:

[...]

Die Berufung ist nicht wegen einer Versagung des rechtlichen Gehörs zuzulassen. Entgegen der Auffassung des Klägers (Zulassungsantrag, S. 4) hat das Verwaltungsgericht seinen Anspruch auf rechtliches Gehör nicht dadurch verletzt, dass es über seine Asylklage ohne mündliche Verhandlung entschieden hat. [...]

Ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG nicht unmittelbar. Vielmehr ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, in welcher Weise rechtliches Gehör gewährt werden soll. Hat eine mündliche Verhandlung aber von Gesetzes wegen stattzufinden, begründet der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG ein Recht auf Äußerung in der mündlichen Verhandlung und zugleich auf deren Durchführung durch das Gericht [...]. Die Verfahrenswahl einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung verletzt daher den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet [...]. Dies lässt sich im Falle des Klägers aber nicht feststellen.

Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass beide Beteiligten ihre Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 2 VwGO gegeben haben [...]. Im Anschluss an die Beklagte, die mit Schriftsatz vom 26. Juni 2020 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hat [...], hat der bereits erstinstanzlich anwaltlich vertretene Kläger im Zusammenhang mit der Begründung seiner Klage sein Einverständnis nach § 101 Abs. 2 VwGO erklärt [...]. Wirksamkeitszweifel ergeben sich nicht. Die in dem betreffenden Schriftsatz vom 25. September 2020 enthaltenen Erklärungen "Zur Übertragung der Sache auf den Einzelrichter sowie einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erteilt der Kläger sein Einverständnis." und "Auf eine mündliche Verhandlung kann verzichtet werden." genügen ersichtlich den durch den Grundsatz der Klarheit einer verfahrensbestimmenden Prozesserklärung gestellten Anforderungen [...]. Nicht von Belang ist, mit welchem Motiv bzw. Ziel das Einverständnis erklärt wird [...]. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch geklärt, dass das Verfahren der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung in § 101 Abs. 2 VwGO für den Verwaltungsprozess eine eigenständige und abschließende Regelung erfahren hat. Für eine Anwendung des § 128 Abs. 2 Satz 1 und/oder 3 ZPO über § 173 Satz 1 VwGO ist daneben kein Raum. Demgemäß unterliegt die Einverständniserklärung keiner zeitlichen Befristung und ist der Verzicht auf mündliche Verhandlung selbst bei einer wesentlichen Änderung der Prozesslage nicht widerruflich [...]. Daher ließen die Erklärungen des Klägers mit Schriftsatz vom 31. Juli 2023, die Mitteilung des Verzichts auf eine mündliche Verhandlung sei versehentlich erfolgt, er bestehe darauf, im Klageverfahren angehört zu werden, insoweit werde das Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren nicht erteilt bzw. widerrufen [...], die Wirksamkeit der von ihm abgegebenen Einverständniserklärung nicht entfallen [...]. Insoweit ist auch rechtlich nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht den Widerruf des Klägers als unerheblich angesehen hat [...].

Soweit der Kläger den von ihm geltend gemachten Gehörsverstoß dennoch aus dem Schreiben des Verwaltungsgerichts vom 28. Juli 2023 herleiten will, überzeugt dies nicht. Zwar trifft sein Vortrag [...] zu, dass es ungeachtet wirksamer Einverständniserklärungen nach § 101 Abs. 2 VwGO im Ermessen des Gerichts steht, ob es gleichwohl aufgrund mündlicher Verhandlung entscheidet. Das Gericht hat in diesem Zusammenhang dafür Sorge zu tragen, dass durch seine Verfahrensweise das rechtliche Gehör der Beteiligten nicht verletzt wird [...]. Danach kann eine mündliche Verhandlung dann geboten sein, wenn ein Beteiligter geltend macht, eine wesentliche Änderung der Prozesslage erfordere unter dem Gesichtspunkt seines rechtlichen Gehörs deren Durchführung [...]. Ein entsprechender Fall, der zu einer Ermessensreduzierung auf null führen würde, liegt hier entgegen der Auffassung des Klägers (Zulassungsantrag, S. 3) jedoch nicht vor. Zwar kann auch eine Änderung des entscheidungserheblichen Sachverhalts eine wesentliche Änderung der Prozesslage bewirken [...]. Eine Veränderung des seiner Asylklage zugrundeliegenden entscheidungserheblichen Sachverhalts hat der Kläger aber gerade nicht herbeigeführt. [...]