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OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 30.07.2025 - 1 LA 419/24 - asyl.net: M33535
https://www.asyl.net/rsdb/m33535
Leitsatz:

Keine Gehörsverletzung durch unterbliebene Beiziehung einer Behördenakte:

"1. Das Akteneinsichtsrecht nach § 100 Abs. 1 VwGO dient der Gewährung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Es erstreckt sich aber neben der beim Verwaltungsgericht geführten Gerichtsakte nur auf die dem Gericht im Zusammenhang mit dem Rechtsstreit vorgelegten Akten, also auf den bei Gericht vorhandenen Aktenbestand. Einen Anspruch auf Beiziehung von Akten vermittelt § 100 Abs. 1 VwGO nicht. Welche Akten vorzulegen sind, bestimmt das Gericht.

2. Die verfahrensrechtliche Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO gebietet dem Tatrichter (nur), solche Umstände aufzuklären, auf die es nach seiner eigenen materiell-rechtlichen Auffassung, die er seinem Urteil zugrunde legt, ankommt; ob seine Auffassung zutrifft, ist keine Frage des Verfahrensrechts, sondern des materiellen Rechts. Dies gilt auch für die Frage der Aktenbeiziehung: Das Gericht ist nicht verpflichtet, Akten beizuziehen, auf deren Inhalt es nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung nicht ankommt (BVerwG, Beschl. v. 11.03.2004 - 6 B 71.03, juris Rn. 12)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: rechtliches Gehör, Akteneinsicht, doppelte Staatsbürgerschaft, Berufungszulassungsantrag, Besetzungsrüge,
Normen: AsylG § 78 Abs 3 Nr. 3, VwGO § 138 Nr. 1, Nr. 3, Nr. 6; VwGO § 100 Abs. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Berufung ist nicht wegen eines Besetzungsfehlers zuzulassen.

Die Rüge einer fehlerhaften Besetzung des Gerichts (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 1 VwGO) erfordert eine Auseinandersetzung des Klägers mit den Einzelheiten der einschlägigen Geschäftsverteilung sowie gegebenenfalls die Einholung von Erkundigungen und die Vornahme eigener Ermittlungen, um sich über das Vorgehen des Gerichts Aufklärung zu verschaffen [...]. Die Rüge einer vorschriftswidrigen Besetzung eines Spruchkörpers ist nur dann in der erforderlichen Weise begründet, wenn unter Wiedergabe der maßgeblichen, in den Geschäftsverteilungsplänen des (Gesamt-)Gerichts bzw. des Spruchkörpers niedergelegten Heranziehungs- und Vertretungsregeln konkret dargelegt wird, dass und warum ein bestimmter Richter nicht zur Mitwirkung an der Entscheidung berufen war [...].

2. Auch im Übrigen ist die Berufung nicht wegen einer Gehörsverletzung gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO zuzulassen. [...]

Der Kläger trägt vor, das Gericht habe die Akte der Bundespolizei Freilassing beiziehen müssen. Die Akte hätte höchstwahrscheinlich ergeben, dass der angeblich vorgelegte türkische Pass entweder falsch sei oder überhaupt nicht vorliege. Der Pass sei weder übersandt worden noch liege eine Kopie hiervon vor. Bei einem Beweisnotstand sei es Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt zu ermitteln. Sein Antrag auf Beiziehung der Akte sei nicht verspätet und nicht auf eine unzulässige Ausforschung gerichtet gewesen. Dem Gericht hätten sich vielmehr erhebliche Zweifel an der von der Beklagten vorgetragenen türkischen Staatsangehörigkeit des Klägers aufdrängen müssen. Die Verwehrung der Akteneinsicht durch die Weigerung des Gerichts, die Akte beizuziehen, verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör. Dieses Vorgehen verstoße gegen § 100 VwGO.

Mit diesem Vortrag legt der Kläger keine Gehörsverletzung dar. Zwar dient das Akteneinsichtsrecht nach § 100 Abs. 1 VwGO der Gewährung des Anspruchs auf rechtliches Gehör [...]. Dieses erstreckt sich aber neben der beim Verwaltungsgericht geführten Gerichtsakte nur auf die dem Gericht im Zusammenhang mit dem Rechtsstreit vorgelegten Akten, also auf den bei Gericht vorhandenen Aktenbestand [...]. Einen Anspruch auf Beiziehung von Akten vermittelt § 100 Abs. 1 VwGO nicht. Welche Akten vorzulegen sind, bestimmt das Gericht [...]. 

Die verfahrensrechtliche Aufklärungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO gebietet dem Tatrichter (nur), solche Umstände aufzuklären, auf die es nach seiner eigenen materiell-rechtlichen Auffassung, die er seinem Urteil zugrunde legt, ankommt; ob seine Auffassung zutrifft, ist keine Frage des Verfahrensrechts, sondern des materiellen Rechts. Dies gilt auch für die Frage der Aktenbeiziehung: Das Gericht ist nicht verpflichtet, Akten beizuziehen, auf deren Inhalt es nach seiner materiell-rechtlichen Auffassung nicht ankommt [...]. Allerdings müssen sich die Tatsachengerichte um jede mögliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bis zur Grenze der Zumutbarkeit bemühen, sofern dies für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich ist [...]. Die Beteiligten müssen an der Erforschung des Sachverhalts mitwirken. Eine Verletzung der Mitwirkungspflichten durch die Beteiligten kann die Anforderungen an die Ermittlungspflicht des Gerichts herabsetzen und die gerichtliche Aufklärungspflicht findet dort ihre Grenze, wo das Vorbringen der Beteiligten keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Aufklärung bietet [...].

Hieran gemessen ist für eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht vorliegend nichts ersichtlich. Dem Verwaltungsgericht lagen aus seiner Sicht durch die eigenen Angaben des Klägers zu seiner türkischen Staatsangehörigkeit hinreichende Erkenntnisse vor, sodass es die Vorlage des Verwaltungsvorgangs über dessen Einreiseversuch nicht als entscheidungserheblich angesehen hat. Der Einzelrichter hat sich maßgeblich darauf gestützt, dass der Kläger gegenüber dem Bundesamt wiederholt und ausdrücklich bestätigt hat, mit einem türkischen Reisepass nach Österreich eingereist zu sein und die türkische und die syrische Staatsangehörigkeit inne zu haben. Seinen erst im gerichtlichen Verfahren geänderten Vortrag, wonach er ausschließlich syrischer Staatsangehöriger sei, hat das Gericht für verfahrensangepasst und unglaubhaft gehalten. Einer weiteren Sachverhaltsaufklärung bedurfte es hiernach aus Sicht des Gerichts nicht. Dass der Kläger dies anders beurteilt, begründet keinen Mangel bei der gerichtlichen Aufklärung. [...]