Eilrechtsschutz für Person mit ukrainischer und weiterer Staatsangehörigkeit wegen § 24 AufenthG:
Die Frage, ob ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG besteht, wenn neben der ukrainischen Staatsangehörigkeit eine weitere Staatsangehörigkeit besteht, muss im Hauptsacheverfahren geklärt werden.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
8 Die durchzuführende "Vollprüfung" führt zu dem Ergebnis, dass die Frage, ob dem Antragsteller zu 1 ein Aufenthaltstitel nach § 24 Abs. 1 AufenthG zusteht, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht in einer Weise offen ist, die den Senat veranlasst, unter Berücksichtigung der nach § 80 Abs. 5 VwGO geltenden Maßstäbe für die Interessenabwägung [...] seinem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die mit Bescheid vom 02.08.2024 erfolgte Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG zu entsprechen. Es bedarf der weiteren Aufklärung im Hauptsacheverfahren, ob der Antragsteller zu 1 anknüpfend an seine ukrainische Staatsangehörigkeit die Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 1 lit. a des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 erfüllt, weil er in der Ukraine im maßgeblichen Zeitraum dort seinen Wohnsitz hatte (b). Diese Prüfung ist nicht deshalb entbehrlich, weil dem Antragsteller zu 1 vor der Einreise nach Deutschland in Irland entsprechender Schutz gewährt worden ist (c). Allerdings stellt sich die Frage, ob der Kläger vom vorübergehenden Schutz deshalb ausgeschlossen ist, weil er außer der ukrainischen Staatsangehörigkeit noch die syrische Staatsangehörigkeit besitzt (d). Aufgrund der offenen Erfolgsaussichten mit Bezug zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und der zu Gunsten des Antragstellers zu 1 ausfallenden Abwägung entspricht der Senat auch dem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hinsichtlich der Abschiebungsandrohung und des für den Fall der Abschiebung verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbots (e). [...]
13 cc) Allerdings dürfte für das obligatorische Eingreifen des Schutzes allein das Bestehen eines Wohnsitzes in der Ukraine wiederum nicht genügen, wenn dieser vor dem 24.02.2022 tatsächlich nicht mehr der Ort war, an dem der ukrainische Staatsangehörige sich dauerhaft niedergelassen hatte, sondern er nur noch mit einer Adresse in der Ukraine gemeldet war, aber nicht mehr seinen Lebensmittelpunkt dort hatte. In einem solchen Fall dürfte es an einem durch den bewaffneten Konflikt bedingten Vertreiben im Sinne des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 fehlen [...].
14 Dass selbst ein Wohnsitz in der Ukraine bei einem ukrainischen Staatsangehörigen nicht per se ausreicht, um sich auf Art. 2 Abs. 1 lit. a des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 berufen zu können, wird auch in den operativen Leitlinien der Kommission aufgegriffen. Aus diesen ergibt sich, dass u.a. "ukrainische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Ukraine, die vor dem 24.02.2022 aus der Ukraine vertrieben wurden oder sich vor diesem Datum außerhalb der Ukraine befanden, beispielsweise aufgrund eines Arbeits- oder Studienaufenthalts, von Urlaub, eines Familienbesuchs oder Aufenthalt aus gesundheitlichen Gründen oder anderer Gründe", gemäß Ratsbeschluss keinen Anspruch auf vorübergehenden Schutz haben [...]. In einem solchen Fall können die Mitgliedstaaten jedoch gemäß Art. 2 Abs. 3 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2001/55/EG und des Erwägungsgrunds 14 des Ratsbeschlusses (EU) 2022/382 die Ausdehnung des vorübergehenden Schutzes u.a. auf ukrainische Staatsangehörige in Erwägung ziehen, die nicht lange vor dem 24.02.2022, als die Spannungen zunahmen, aus der Ukraine geflohen sind oder die sich kurz vor diesem Zeitpunkt (z. B. im Urlaub oder zur Arbeit) im Gebiet der Union oder einem anderen Drittland befunden haben und die infolge des bewaffneten Konflikts nicht in die Ukraine zurückkehren können [...].
15 dd) Aufgrund des bei der Antragsgegnerin vorgelegten, am 18.04.2019 ausgestellten und bis 18.04.2029 gültigen ukrainischen Reisepasses, dessen Echtheit von der Antragsgegnerin zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogen wurde, ist hinreichend belegt, dass der Antragsteller zu 1 ukrainischer Staatsangehöriger ist. Er verfügt zudem ausweislich der am 20.11.2024 erstellten Meldebescheinigung über eine Wohnadresse in der Ukraine, unter der er sich am 07.10.2016 angemeldet und in der Folgezeit auch nicht abgemeldet hat. Er hat außerdem schon im Verwaltungsverfahren Kontoauszüge für sein Konto bei einer ukrainischen Bank vorlegt, aus denen sich bei Verkaufsstellen in der Ukraine erfolgte Zahlungen im Zeitraum vom 11.02.2022 bis 28.02.2022 ersehen lassen. Ferner besitzt der Antragsteller zu 1 einen syrischen Reisepass (siehe dazu auch unten d)). In der Ausländerakte enthaltene Kopien deuten darauf hin, dass er unter Vorlage dieses Passes am 28.02.2022 aus der Ukraine ausgereist und am 04.03.2022 in Polen eingereist ist. [...]
17 Diese familiäre Konstellation und der Umstand, dass ein Visum für die Antragstellerin zu 2 zur Familienzusammenführung in der Ukraine zu einem früheren Zeitpunkt abgelehnt worden ist [...], könnten dafür streiten, dass der Antragsteller zu 1 spätestens ab Anfang November 2021 seinen Lebensmittelpunkt in die Türkei verlagert und sich ab dem 11.02.2022 nur noch vorübergehend in der Ukraine aufgehalten hat. Wie sich der Aufenthalt des Antragstellers zu 1 in der Türkei und der Ukraine im Einzelnen gestaltete, bedarf jedoch der näheren Aufklärung im Hauptsachverfahren, wobei den Antragsteller zu 1 eine besondere Mitwirkungspflicht trifft, da es sich hierbei um Umstände handelt, die allein seinem persönlichen Lebensbereich zuzuordnen sind [...]. So liegt etwa ein substantiierter Vortrag oder gar ein Nachweis, wie sich die Berufstätigkeit des Antragstellers zu 1 unter dem Eindruck der familiären Situation gestaltet hat, bislang nicht vor. [...]
26 d) Weiterhin könnte im Hauptsacheverfahren ggf. auch darüber zu befinden sein, ob der Antragsteller zu 1 vom vorübergehenden Schutz deshalb ausgeschlossen wäre, weil er außer der ukrainischen Staatsangehörigkeit noch die syrische Staatsangehörigkeit besitzt. Ob die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 lit. a des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 ausscheidet, wenn der ukrainische Staatsangehörige die Staatsangehörigkeit eines weiteren Drittstaats besitzt, dessen Schutz er in Anspruch nehmen kann, kann im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht geklärt werden. [...]
29 bb) Der Wortlaut der Durchführungsbeschlüsse enthält keine Einschränkung dahingehend, dass sich ein ukrainischer Staatsangehöriger mit einem - hier im Fall des Antragstellers zu 1 unterstellten - Wohnsitz in der Ukraine (siehe hierzu oben 1 b) bb)) im relevanten Zeitraum nicht auf Art. 2 Abs. 1 lit. a des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 berufen könnte, wenn er über eine weitere Staatsangehörigkeit eines Drittstaats verfügt. Die Prüfung, ob eine sichere und dauerhafte Rückkehr in einen anderen Staat als die Ukraine möglich ist, ist nur in den von Art. 2 Abs. 2 und 3 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 erfassten Fallkonstellationen vorgesehen. [...]
33 Für das Verständnis, dass ein Ukrainer nicht dem Schutz nach der Richtlinie 2001/55/EG i.V.m dem Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 unterfällt, wenn er eine weitere Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt, könnte insbesondere die Intention der Richtlinie (vgl. etwa Erwägungsgrund 2 der Richtlinie) und des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 sprechen. Sie zielen auf den Schutz von Personen ab, die nicht in ihrem Herkunftsstaat Ukraine bleiben bzw. dorthin zurückkehren können. Steht aufgrund von Mehrstaatigkeit ein weiterer Drittstaat zur Verfügung, in den der Betreffende zurückkehren und verbleiben kann, spricht dies gegen ein Schutzbedürfnis, dem mit dem unionsrechtlichen vorübergehenden Schutz Rechnung getragen werden muss. [...]
44 Ob bei einer zumutbaren Inanspruchnahme einer weiteren Drittstaatsangehörigkeit die Gewährung vorübergehenden Schutzes für ukrainische Staatsangehörige ausscheidet oder ob die Richtlinie 2001/55/EG i.V.m. den Durchführungsbeschlüssen auch insoweit gegenüber dem Asylrecht eine Privilegierung enthält, weil sie bei einer Mehrstaatigkeit nicht auf einen Verbleib in einem anderen Drittland verweist, lässt sich im vorliegenden Fall im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht klären. [...]