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VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 15.07.2025 - 11 S 1780/24 - asyl.net: M33564
https://www.asyl.net/rsdb/m33564
Leitsatz:

Keine Aufenthaltserlaubnis bei Ausweisungsinteresse eines faktischen Inländers:

1. Es spricht viel dafür, dass der bloße Besitz einer Fiktionsbescheinigung für das automatische Entstehen des eigenständigen Aufenthaltsrechts nicht ausreichend ist, sondern es im Zeitpunkt der Volljährigkeit einer gültigen Aufenthaltserlaubnis bedarf, die zum Familiennachzug erteilt wurde.

2. Trotz Geburt und Aufwachsen in Deutschland einer 29-jährigen Person ist sein Privatleben nicht durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen dergestalt charakterisiert, dass er ein "faktischer Inländer" ist. Das liegt daran, dass er lediglich ein Jahr berufstätig war und ein Ausweisungsinteresse wegen Drogendelikte und einer Sachbeschädigung erfüllt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausweisungsinteresse, Passbeschaffung, Kosovo, faktischer Inländer, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: AufenthG § 34, AufenthG § 25 Abs. 5, GG Art. 6, EMRK Art. 8
Auszüge:

[...]

32 1. Die Voraussetzungen für eine Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage des § 34 Abs. 2 Satz 1 AufenthG in Verbindung mit § 34 Abs. 3 AufenthG sind nicht erfüllt.

33 Nach Maßgabe des § 34 Abs. 2 Satz 1 AufenthG wird die einem Kind erteilte Aufenthaltserlaubnis mit Eintritt der Volljährigkeit zu einem eigenständigen, vom Familiennachzug unabhängigen Aufenthaltsrecht. Diese Norm beinhaltet keinen unmittelbaren Rechtsanspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis, sondern regelt nur einen Interimszeitraum - bis zum Ablauf der umgewandelten Aufenthaltserlaubnis - unter Wahrung der Privilegien des Absatzes 1. Mit Erreichen der Volljährigkeit kommt es zu einer automatischen, von Gesetzes wegen eintretenden Veränderung des Rechtscharakters der dem Kind ursprünglich erteilten Aufenthaltserlaubnis (BayVGH, Beschluss vom 26.05.2023 - 10 ZB 22.2550 - juris Rn. 7). Voraussetzung für das Entstehen des eigenständigen Aufenthaltsrechts ist jedoch, dass der Betreffende im Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit noch im Besitz der ihm als Kind erteilten Aufenthaltserlaubnis ist (vgl. Zimmerer, in: Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 01.05.2025, § 34 AufenthG Rn. 13; Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.04.2025, § 34 AufenthG Rn. 10c).

34 Dies ist vorliegend nicht der Fall gewesen. Als der Kläger am 12.09.2014 volljährig wurde, war er bereits seit zwei Jahren nicht mehr im Besitz einer - zuletzt bis zum 11.09.2012 befristeten - Aufenthaltserlaubnis. Er besaß zu dieser Zeit lediglich eine Fiktionsbescheinigung.

35 Es spricht viel dafür, dass der bloße Besitz einer Fiktionsbescheinigung für das automatische Entstehen des eigenständigen Aufenthaltsrechts nicht ausreichend ist, sondern es im Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit einer gültigen Aufenthaltserlaubnis bedarf, die zum Familiennachzug erteilt wurde (in diesem Sinne VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 02.07.1997 - 13 S 2025/96 - juris Rn. 4; HessVGH, Beschluss vom 27.05.1993 - 12 TH 2617/92 - juris Rn. 15 ff., jeweils zu § 21 Abs. 3 AuslG; ausdrücklich zu § 34 Abs. 2 AufenthG: VG München, Beschluss vom 10.02.2012 - M 12 S 11.3553 - juris Rn. 73).

36 Letztlich muss dies im vorliegenden Fall jedoch - wie bereits das Verwaltungsgericht angenommen hat - nicht entschieden werden, da der Kläger die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4 AufenthG nicht erfüllt, die für die anschließende, im Ermessen der Behörde stehende Verlängerung nach § 34 Abs. 3 AufenthG vorliegen müssen (zur Anwendbarkeit des § 5 AufenthG vgl. BVerwG, Urteil vom 15.08.2019 - 1 C 23.18 - juris Rn. 10; VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.02.2021 - 11 S 1547/20 - juris Rn. 29; BayVGH, Beschlüsse vom 14.05.2025 - 19 CS 24.2174 - juris Rn. 11 und vom 01.08.2024 - 19 ZB 23.848 - juris Rn. 14; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 15. Auflage 2025, § 34 AufenthG Rn. 26; Tewocht, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 01.04.2025, § 34 AufenthG Rn. 13). [...]

46 Ob eine relevante Entwurzelung des Klägers aus den im Kosovo herrschenden Lebensverhältnissen vorliegt, kann angesichts der mangelnden Integration des Klägers in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland dahinstehen (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 16.02.2021 - 11 S 1547/20 - juris Rn. 45). Gegen eine Entwurzelung spricht jedenfalls der Umstand, dass der Kläger in einem Haushalt aufgewachsen ist, in dem beide Eltern kosovarische Staatsangehörige und der albanischen Sprache mächtig sind. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger zum Ausdruck gebracht, dass er die Landessprache seines Herkunftsstaates - wenngleich nicht so gut, wie die deutsche Sprache - beherrscht. [...]

76 Eine Abschiebung des Klägers ist nicht wegen seines Rechts auf Achtung des Familienlebens (Art. 6 GG, Art. 7 GrCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK) und des Privatlebens (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 7 GrCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK) auf unabsehbare Zeit rechtlich unmöglich. Insbesondere führt der Kläger kein Privatleben, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen dergestalt charakterisiert ist, dass er es faktisch nur noch im Aufenthaltsstaat führen kann, er mithin ein "faktischer Inländer" ist. Auf die Ausführungen unter II.1.a) wird insoweit verwiesen. [...]