Abschiebungsverbot für jungen Mann aus Afghanistan:
Ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann darf nicht nach Afghanistan abgeschoben werden, weil ihm dort Verelendung droht. Er kann zwar bei seiner Familie unterkommen. Da diese aber auf seine finanzielle Unterstützung angewiesen ist, können sie ihn nicht versorgen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Vor diesem Hintergrund besteht nach Auffassung des erkennenden Einzelrichters in Afghanistan eine humanitäre Situation, die für eine beachtliche Zahl der dort lebenden Menschen das nach Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreichen würde. Andererseits stellt sich die Lage nicht schon so dar, dass die Befriedigung der elementaren Grundbedürfnisse nach Nahrung, Unterkunft und Gesundheit für die afghanische Bevölkerung regelmäßig nicht zu erwarten wäre. Das Gericht kann deshalb nicht die Annahme treffen, dass zurückkehrende afghanische Staatsangehörige oder eine bestimmte Gruppe davon ausnahmslos oder wenigstens im Regelfall einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären [...].
Das Gericht ist unter Berücksichtigung der maßgeblichen individuellen Umstände im Falle des Klägers im Rahmen einer Gesamtschau zu der Überzeugungsgewissheit gelangt, dass dieser bei seiner Rückkehr nach Afghanistan dort alsbald der tatsächlichen Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre und damit in eine ausweglose Lage geriete. Er wird dort nämlich mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein, seinen existenziellen Lebensunterhalt zu sichern und seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, sodass ihm in Afghanistan alsbald nach seiner Rückkehr Verelendung droht.
Zwar gehört der Kläger keiner vulnerablen Personengruppe an. Er ist 34 Jahre alt, gesund und daher – auch angesichts des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung – erwerbsfähig. Er hat in Afghanistan zwar die Schule mit dem Abitur abgeschlossen und kann zwar auch auf relevante berufliche Erfahrungen zurückgreifen, die ihm aber bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht in die Lage versetzen würden, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, da nicht davon auszugehen ist, dass er in seine früher ausgeübte Tätigkeit im Passamt zurückkehren könnte.
Bringt der Kläger somit bereits in seiner eigenen Person keine herausragenden Kenntnisse und/oder Erfahrungen mit, so vermag er im Rückkehrfalle zudem auch nicht auf ein erreichbares, unterstützungswilliges und – kumulativ erforderlich – auch unterstützungsfähiges familiäres Netzwerk zurückzugreifen. Zwar hat die Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung ergeben, dass dieser im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan dort ein solches – mangels substantiierter entgegenstehender Anhaltspunkte unterstützungswilliges – familiäres Netzwerk vorfinden würde; dieses weist nach Überzeugung des erkennenden Einzelrichters allerdings nicht die darüber hinaus erforderliche Unterstützungsfähigkeit auf.
Zur Überzeugung des Gerichts steht aufgrund der insoweit glaubhaften Angaben des Klägers vor Gericht fest, dass sich in Afghanistan noch sein Vater, seine Mutter, mehrere Schwestern und ein ca. 39-jähriger Bruder aufhielten. Zur wirtschaftlichen Situation der Familie hat der Kläger im behördlichen und gerichtlichen Verfahren angesichts der Erkenntnismittellage zu Afghanistan nachvollziehbar und auch ansonsten glaubhaft erklärt, dass sein Vater schon immer als Landwirt auf in seinem Eigentum stehenden Flächen tätig gewesen ist. Bei seiner Ausreise sei die wirtschaftliche Situation der Familie normal gewesen. Im Rückkehrfalle könne seine Familie ihn nicht unterstützen, zumal die landwirtschaftlichen Flächen der Familie wegen des Wassermangels nicht mehr bestellt werden könnten. Die Familie sei vielmehr auf seine Unterstützung aus Deutschland angewiesen. [...]
Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger in Afghanistan zwar Unterkunft und eine Waschmöglichkeit in der Wohnung/Haus seiner Familie finden könnte, dass er jedoch seinen darüber hinausgehenden notwendigen Lebensunterhalt dort nicht würde sicherstellen können und ihm daher alsbald nach seiner Rückkehr Verelendung drohen würde, da die der Familie dort zur Verfügung stehenden oben genannten wirtschaftlichen Grundlagen in Form einer kleinen Landwirtschaft nicht auch noch zur Sicherstellung des Lebensunterhalts einer weiteren erwachsenen Person, hier des Klägers, ausreichen würden.
Angesichts der mangelnden praktischen beruflichen Ausbildung des Klägers ist auch ansonsten nicht erkennbar, dass dieser mittels eigener Kontakte oder der seiner Familie alsbald an eine Erwerbstätigkeit, auch als Gelegenheitsarbeiter, gelangen könnte, dies auch vor dem Hintergrund der fortbestehenden hohen Arbeitslosigkeit in Afghanistan. Aufgrund des erheblichen wirtschaftlichen Abschwungs nach der Machtübernahme durch die Taliban und der auch weiterhin sehr schwachen afghanischen Wirtschaft sowie der dadurch gesunkenen Nachfrage mussten viele Firmen Mitarbeitende entlassen. Gleichzeitig ist die Nachfrage nach Arbeitsplätzen durch die schnell wachsende Bevölkerung sowie aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage vieler Haushalte in den letzten drei Jahren deutlich gestiegen. Zusätzlich suchen auch viele aus Pakistan und dem Iran ausgewiesene und zurückgekehrte Personen nach Erwerbsarbeit in Afghanistan [...].
Überdies verfügt der Kläger nach glaubhaften Angaben auch nicht über relevante Ersparnisse, die er sich in Deutschland erwirtschaftet hätte, zumal er von seinem Verdienst seine Familie in Afghanistan unterstützen muss.
Schließlich ist auch ansonsten nicht erkennbar, dass der Kläger seinen notwendigen Lebensunterhalt bei seiner Rückkehr nach Afghanistan auf andere Weise, etwa durch die Unterstützung sonstiger Dritter, insbesondere im Ausland lebender unterstützungsfähiger Verwandter, sicherstellen könnte. Weitere begünstigende Umstände, die eine Verletzung von Art. 3 EMRK im Rückkehrfalle ausschließen würden, sind im hiesigen Einzelfall ebenfalls nicht ersichtlich. [...]