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VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 25.07.2025 - 3 V 1569/25 - asyl.net: M33587
https://www.asyl.net/rsdb/m33587
Leitsatz:

Widerruf eines Abschiebungsverbots nach schwerer Straftat: 

1. Trotz der  äußerst angespannten Sicherheitslage in Syrien besteht für den Antragsteller seit dem Sturz des Assad-Regimes keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Bürgerkrieg) mehr. 

2. Das Gebiet Hama, das von der neuen syrischen Regierung verwaltet und kontrolliert wird, wird als relativ stabil angesehen. Für einen Sunniten mit einem tragfähigen familiären Netzwerk, ohne individuell gefahrerhöhende Umstände, besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Gefahr für Leib oder Leben. 

3. Die wieder aufgenommenen Rückkehrförderungsprogramme ermöglichen ein Leben am Rande des Existenzminimums und stellen eine maßgebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse dar. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Widerruf, Syrien, Abschiebungsverbot, Sofortvollzug, Wegfall der Umstände, Änderung der Sachlage,
Normen: VwGO § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AsylG § 73 Abs. 6 S. 1
Auszüge:

[...]

Rechtsgrundlage für den Widerruf ist § 73 Abs. 6 Satz 1 AsylG. Danach ist die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Ein Ermessen ist dem Bundesamt insoweit nicht eingeräumt; es handelt sich um eine rechtlich gebundene Entscheidung [...]. Der Widerruf des ehemals zu Gunsten des Antragstellers ergangenen Bescheids erfordert dabei die Feststellung einer derartigen Veränderung der Sachlage, dass die Voraussetzungen für das festgestellte Abschiebungsverbot entfallen sind. § 73 Abs. 6 Satz 1 AsylG verlangt wie seine Vorgängerregelung (§ 73c Abs. 2 AsylG) eine beachtliche Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse. Bei der vergleichenden Betrachtung der Umstände im Zeitpunkt der Feststellung einerseits und der für den Widerruf gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Sachlage andererseits muss sich durch neue Tatsachen eine signifikant und entscheidungserheblich veränderte Grundlage für die Gefährdungsprognose bei dem jeweiligen Abschiebungsverbot ergeben [...]. Des Weiteren darf die Veränderung der zugrundeliegenden Umstände nicht nur vorübergehender Natur sein; vielmehr muss festgestellt werden, dass die Faktoren, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbots geführt haben, als dauerhaft beseitigt angesehen werden können [...].

Nach diesen Maßgaben liegen die Voraussetzungen für den Widerruf des mit Bescheid vom 10.12.2018 zugunsten des Antragstellers festgestellten Abschiebungsverbots vor. Die Gründe für die ursprüngliche Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK haben sich dergestalt beachtlich und nicht nur vorübergehend verändert, dass die Voraussetzungen für das Abschiebungsverbot entfallen sind (a.). [...]

Im vorliegenden Fall hat das Bundesamt zwar im Ausgangsbescheid vom 19.12.2018 die Gründe für die Feststellung des Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht individualisiert, sondern pauschal angeführt, dass aufgrund der "gegenwärtigen Verhältnisse" in Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sei, dass dem Antragsteller bei einer Rückkehr nach Syrien eine Verletzung des Art. 3 EMRK drohe. Es ist jedoch gerichtsbekannt, dass bei allen Personen, bei denen das Bundesamt in den vergangenen Jahren (jedenfalls bis Dezember 2024) die Flüchtlingseigenschaft bzw. den subsidiären Schutzstatus widerrufen hat, ein Abschiebungsverbot zuerkannt wurde. Dies erfolgte zumindest aufgrund der (bis Dezember 2024) beachtlichen Wahrscheinlichkeit in Folge des in Syrien herrschenden bewaffneten Konflikts Opfer von Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung zu werden bzw. aufgrund der fehlenden Möglichkeit der Sicherung eines Existenzminimums angesichts der durch den Bürgerkrieg angespannten wirtschaftlichen Lage in Syrien.

Diese angenommene Gefährdungslage hat sich jedenfalls in Bezug auf den Antragsteller zwischenzeitlich beachtlich geändert, sodass eine Neubewertung der Gefährdungslage angezeigt war.

aa. Durch den Regimesturz in Syrien liegt eine maßgebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse vor.

Insoweit ist irrelevant, dass – wie der Antragsteller vorträgt – bereits 2018 die Auffassung vertreten worden sei, dass Syrer in Damaskus trotz des Bürgerkrieges keine individuelle Bedrohung ihres Lebens fürchten müssten. Durch den Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 besteht keine ernsthafte, individuelle Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit des Antragstellers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Bürgerkrieg) mehr. Zwar ist die allgemeine Sicherheitslage in Syrien weiterhin als äußerst volatil und angespannt anzusehen; es gibt weiterhin aktive Kampfhandlungen, ethnisch-motivierte Gewalttaten gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen, militärische Aktivitäten von Drittstaaten, Terrorismusgefahr, Gewaltkriminalität und Entführungen [...]. Der Antragsteller stammt jedoch aus dem Gebiet Hama, das nunmehr von der neuen syrischen Regierung verwaltet und kontrolliert wird und als relativ stabil angesehen wird [...]. In diesem Gebiet ist weder sein Leben noch seine körperliche Unversehrtheit aufgrund von willkürlicher Gewalt mit einer hinreichend beachtlichen Wahrscheinlichkeit bedroht. Zwar gab es auch nach dem Regimesturz vereinzelte Übergriffe oder Unruhen in Hama [...]. Hierbei stellten jedoch insbesondere Alawiten einen Großteil der betroffenen Personen dar [...]. Stichhaltige Anhaltspunkte dafür, dass der Antragsteller, der sunnitischen Glaubens ist, lediglich aufgrund seiner Anwesenheit in seiner Herkunftsregion einer ernsthaften individuellen Bedrohung  ausgesetzt ist, liegen nicht vor. Auch individuell gefahrerhöhende Umstände in der Person des Antragstellers sind nicht ersichtlich. [...]

bb. Angesichts des Sturzes des Assad-Regimes und der daraufhin wieder aufgenommenen Rückkehrförderungsprogramme, zu deren Leistungen das Bundesamt im angefochtenen Bescheid näher ausgeführt hat, liegt auch in Bezug auf die Bewertung der Möglichkeiten des Antragstellers sich zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren zu können, eine maßgebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse vor.

Die wirtschaftliche Lage in Syrien ist zwar weiterhin angespannt [...]. So waren im Februar 2025 noch immer 16,5 Millionen Menschen in Syrien auf humanitäre Unterstützung angewiesen [...]. Viele Haushalte sind aufgrund der geringeren Kaufkraft, der begrenzten Beschäftigungsmöglichkeiten – insbesondere in ländlichen Gebieten – und der Liquiditätsengpässe nicht in der Lage, Essen auf den Tisch zu bringen [...]. Vor dem Hintergrund der Vielzahl der nach Syrien zurückkehrenden Flüchtlinge und der hierdurch voraussichtlich steigenden humanitären Bedarfe [...], bleibt zudem anzuzweifeln, ob die Aufhebung eines Großteils der Sanktionen gegen Syrien durch die EU (im Februar 2025) und durch die USA (im Juni 2025), die wirtschaftliche Situation in Syrien nachhaltig verbessern kann [...].

Es kann dahingestellt bleiben, ob derzeit angesichts der wirtschaftlich stark angespannten Lage in Syrien im Regelfall ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, ggf. für bestimmte Personengruppen, auszusprechen ist. Denn im vorliegenden Einzelfall kann ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK jedenfalls mit hinreichend beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden. So ist davon auszugehen, dass der Antragsteller noch über ein hinreichend tragfähiges familiäres Netzwerk verfügt. Soweit er vorgetragen hat, dass er nicht in sein Heimatdorf zurückkehren könne, weil die dort noch lebende Familie seiner getöteten Frau aus Rache nunmehr seinen Tod wolle, kann die Frage der Glaubhaftigkeit dieser Angabe dahingestellt bleiben. Der Antragsteller hat selbst ausgeführt, dass einer seiner Brüder aufgrund der Probleme mit der Familie seiner Frau nach Hama gezogen sei und zudem noch weitere Verwandte seiner Großfamilie in Syrien verteilt leben würden. Er ist folglich nicht darauf angewiesen, in sein Heimatdorf zurückzukehren. Es ist ihm möglich und zumutbar in andere Landesteile Syriens zurückzukehren. Auch der Antragsteller erkennt selbst in seiner Anhörung an, dass er theoretisch in einen anderen Teil Syriens zurückkehren könnte, macht insoweit aber geltend, dass er dann immer in Angst leben müsste. Es ist jedoch nicht erkennbar und seitens des Antragstellers auch nicht substantiiert vorgetragen, dass die Familie seiner Frau ihm erfolgreich in den übrigen Landesteilen nachstellen könnte. Er ist zudem noch relativ jung, gesund, alleinstehend und arbeitsfähig. Er hat in Syrien eine Ausbildung als Fliesenleger gemacht, und anschließend mehrere Jahre im Libanon als Maurer gearbeitet. In der Justizvollzugsanstalt hat er eine Ausbildung als Schlosser absolviert und auch in diesem Bereich mehrere Jahre gearbeitet. Er verfügt mithin über vielfältige praktische Berufserfahrungen und hat zudem keine gesundheitlichen Einschränkungen, sodass er gegebenenfalls auch schwere körperliche Arbeiten verrichten könnte. Vor diesem Hintergrund wird es ihm trotz des angespannten Arbeitsmarkts in Syrien [...] möglich sein, auf Dauer ein Einkommen zu erzielen, mit dem er sich zumindest ein Leben am Rande des Existenzminimums finanzieren kann. Des Weiteren hat der Antragsteller selbst vorgetragen, dass er aufgrund einer Erbschaft Ländereien (5.000 qm) in Syrien besitzt, die er zur Sicherung seines Lebensunterhalts bestellen oder verkaufen könnte. Der Antragsteller erhielt bei seiner Haftentlassung zudem eine Summe in Höhe von ca. 2.400,00 Euro. In Verbindung mit den ihm zusätzlich von der Beklagten in Aussicht gestellten Rückkehrhilfen, ist er in der Lage, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Gerade im Hinblick auf die beruflichen Erfahrungen des Antragstellers ist nicht ersichtlich, dass ihm auch nach dem Verbrauch seiner Ersparnisse und der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht. [...]

b. Auch aus anderen Gründen liegt kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor. Insbesondere folgt ein solches nicht aus einer Gefahr von Übergriffen.

Dem Antragsteller droht zunächst keine Verfolgung in Syrien aufgrund einer (unterstellten) oppositionellen Überzeugung aufgrund eines Entzugs vom Reservedienst im Jahr 2012. Denn die Übergangsregierung hat eine Generalamnestie für alle Wehrpflichtigen, die in der Syrischen Arabischen Armee gedient haben, verkündet. Ihnen werde Sicherheit garantiert und jegliche Übergriffe auf sie seien untersagt [...].

Es ist ferner nicht ersichtlich, dass dem Antragsteller von Seiten der nun anstelle des Assad-Regimes herrschenden Gruppe Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) irgendeine Verfolgung droht. Der Antragsteller gehört zur Volksgruppe der Araber und ist muslimisch-sunnitischen Glaubens. Damit gehört er der nun herrschenden Volks- und Religionsgruppe an. [...]