Auslegung der Regelungen des Asylfolge- und Asylzweitantrags:
1. Der materielle Inhalt des § 71a Abs. 1 AsylG (Zweitantrag) ist – mit Ausnahme der günstigeren Präklusionsvorschrift – mit dem des § 71 Abs. 1 AsylG (Folgeantrag) identisch. Die Regelung des § 71a Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 VwVfG ist so auszulegen, dass der Zugang zu einem weiteren Asylverfahren nicht enger ist als bei § 71 Abs. 1 AsylG. Denn nach unionsrechtlicher Auslegung darf der Zugang zu einem weiteren Asylverfahren in Fällen, in denen ein anderer Mitgliedstaat eine bestandskräftige Entscheidung über einen Asylantrag getroffen hat, nicht strenger sein als bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt.
2. Die humanitäre Situation in Afghanistan wird sich u.a. wegen der Einstellung der finanziellen Hilfen der USA weiter verschlechtern.
3. Es ist zweifelhaft, ob ein 35 Jahre alter Mann nach afghanischen Maßstäben noch zur Gruppe der jungen Männer zählt, wenn im Jahr 2022 43,1% der Bevölkerung unter 15 Jahre alt war.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1. Die Ablehnung der Beklagten, ein neues Asylverfahren durchzuführen ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten. Die Bundesrepublik hat eine wirksame Rechtsgrundlage für die Ablehnung (dazu nachstehend a.), nach dieser verfügt der Kläger nicht über einen Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (dazu nachstehend b.). [...]
In der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) ist geklärt, dass ein Folgeantrag auf internationalen Schutz auch dann als unzulässig abgelehnt werden darf, wenn der erste Antrag in einem anderen Mitgliedstaat bestandskräftig abgelehnt worden ist, [...] die Bestandskraft vor dem neuen Antrag eingetreten ist und das Verfahren auch nicht unter den Regeln für eine Erstantragstellung wiederaufgenommen werden kann [...]. Diese Voraussetzungen liegen hier alle vor. Das Königreich Schweden ist an die Richtlinie 2011/95/EU gebunden, die schwedische Entscheidung wurde vor der hier zu prüfenden Asylantragstellung bestandskräftig und auf den früheren Asylantrag ist eine Sachentscheidung nach materieller Prüfung ergangen. Keine Anwendung findet die Richtlinie 2011/95/EU nur auf die Mitgliedstaaten Königreich Dänemark und Republik Irland.
Gleichwohl kann die Regelung des § 71a AsylG nicht ohne weitere Prüfung angewandt werden. Die Regelung gilt - wie sich aus ihrem Wortlaut ergibt - nur in Fällen, in denen ein früherer Asylantrag von einer ausländischen Behörde abgelehnt wurde, nicht jedoch, wenn er vom Bundesamt abgelehnt worden ist. Ist letzteres der Fall, so ist die Regelung des § 71 AsylG anzuwenden. Die Regelung hat einen anderen Wortlaut wie § 71a Abs. 1 AsylG. § 71 Abs. 1 AsylG verpflichtet zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, wenn neue Elemente oder Erkenntnisse zutage getreten oder vom Ausländer vorgebracht worden sind, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einer für den Ausländer günstigeren Entscheidung beitragen.
Die Regelung des § 71 Abs. 1 AsylG ist für sich betrachtet zu eng. Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2013/32 lässt nach dem bereits oben zitierten Wortlaut eine Ablehnung als unzulässig nur zu, wenn keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95/EU als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind. Das steht einer Wahrscheinlichkeitsbetrachtung hinsichtlich des Ergebnisses eines nachfolgenden Asylverfahrens entgegen und fordert, dass die Prüfung, ob die neuen Tatsachen zur Gewährung von internationalem Schutz führen, ausschließlich in einem neuen Asylverfahren zu erfolgen hat. In der Zulässigkeitsstation ist ausschließlich zu prüfen, ob neu vorgebrachte oder zutage getretene Umstände einen Bezug zur Anerkennung internationalen Schutzes haben. Diese richtlinienkonforme Einschränkung vermag zwar für den hier zu entscheidenden Fall des Klägers keine Bedeutung zu gewinnen, sie hat aber Bedeutung für die Frage des Vergleichs der Regelungen des § 71a Abs. 1 AsylG mit § 71 Abs. 1 AsylG.Die Regelung des § 71 Abs. 1 AsylG und die des § 71a Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG haben zwar einen unterschiedlichen Wortlaut, sie können aber - wie gleich noch zu zeigen sein wird - unter Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben so ausgelegt werden, dass Sachverhalte mit grenzüberschreitendem Bezug nicht schlechter als ein rein innerstaatlicher Sachverhalt zu behandeln ist.
Die Frage ist durch den EuGH nicht bereits geklärt. Der Entscheidung K. Y. und B. lag nämlich die alte Fassung des Asylgesetzes zugrunde, wie sich aus den Zitaten in Rn. 21 und 22 ergibt. In der alten Fassung waren der Wortlaut beider Regelungen gleich. Die Änderung des § 71 AsylG durch Art. 2 Nr. 12 des Gesetzes zur Verbesserung der Rückführung vom 21. Februar 2024 [...] führte zu den oben aufgezeigten Unterschieden, weil bei § 71a Abs. 1 AsylG die bisherige Fassung beibehalten wurde.Nach Auffassung der Kammer ist es ausgeschlossen, in Fällen in denen ein anderer Mitgliedstaat eine bestandskräftige Entscheidung über einen Asylantrag gestellt hat, strengere Anforderungen für den Zugang zu einem weiteren Asylverfahren zu stellen, als bei einem rein innerstaatlichen Sachverhalt.
In der Rechtsprechung des EuGH ist geklärt, dass bei der Anwendung von Unionsrecht von den Mitgliedstaaten der Effektivitäts- und der Äquivalenzgrundsatz zu beachten sind. Hierzu hat der EuGH z. B in dem auf Vorlage der Kammer ergangenen Urteil vom 27. Februar 2020 - C-773/18 bis C-775/18, [...] folgendes ausgeführt:
"Nach ständiger Rechtsprechung ist es daher Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, solche Verfahrensmodalitäten zu regeln, wobei diese nicht weniger günstig ausgestaltet sein dürfen als die entsprechender innerstaatlicher Rechtsbehelfe (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) [...]."
Das ist auf Fälle übertragbar, in denen - wie hier - eine Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates zur Grundlage einer innerstaatlichen Entscheidung genommen wird. Dasselbe ergibt sich auch aus Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2013/32. Diese Norm kennt nur den Folgeantrag und sie unterscheidet nicht danach, ob der zuvor beschiedene Antrag im selben oder einem anderen Mitgliedstaat entschieden worden ist. Sie ermöglicht damit einem Mitgliedstaat zu entscheiden, ob er eine Rechtsgrundlage schafft, die in Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2013/32 genannten Asylanträge als unzulässig abzulehnen oder nicht. Eine Gleichbehandlung ist auch nach Art. 3 Abs. 1 GG geboten, denn für eine unterschiedliche Behandlung eines Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens - wenn die Entscheidung der Bundesrepublik obliegt - je nachdem, wer die Erstentscheidung getroffen hat, ist kein Sachgrund erkennbar. Aus der Begründung für die Änderung des § 71 Abs. 1 AsylG [...] ergibt sich nichts, aus dem eine bewusste Entscheidung des Gesetzgebers abgeleitet werden kann, den Fall einer Erstentscheidung durch das Bundesamt und den Fall der Erstentscheidung durch einen anderen Mitgliedstaat unterschiedlich zu behandeln. Näherliegend ist aufgrund des Schweigens des Gesetzgebers, dass der Änderungsbedarf in § 71a AsylG nicht gesehen wurde. Ausführungen dazu finden sich nur in dem Empfehlungen der Ausschüsse des Bundesrates [...], das hat aber keinen Eingang in die Stellungnahme des Bundesrates vom 24. November 2023 gefunden, diese befasst sich nur mit der beabsichtigten Änderung der für die Stellung eines Folgeantrages zuständigen Außenstelle des Bundesamtes [...]. Die Frage ist auch im weiteren Gesetzgebungsverfahren nicht mehr aufgegriffen worden [...]. Aus der Änderung des § 71 Abs. 1 AsylG ergibt sich aber die Entscheidung des Gesetzgebers, in Fällen, in denen eine Ablehnung eines weiteren Asylantrages als unzulässig möglich ist, diese Option auch zu nutzen.
Die Regelung des § 71a Abs. 1 AsylG i.V.m. § 51 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 VwVfG ist unter Berücksichtigung des zuvor ausgeführten so auszulegen, dass der Zugang zu einem weiteren Asylverfahren nicht enger ist, als bei § 71 Abs. 1 AsylG. Dazu ist § 51 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 2 VwVfG einschränkend auszulegen. Der Wortlaut ist schon bei rein nationaler Betrachtung zu weit, wie die systematische Auslegung mit § 51 Abs. 2 VwVfG ergibt. Danach kann es entscheidend nur auf die Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis des Betroffenen ankommen, nicht auf die tatsächliche Änderung. Anderenfalls bliebe für die Nr. 1 kaum ein Anwendungsbereich. Allerdings ist die Regelung aufgrund der europarechtlichen Vorgaben noch weiter einzuschränken. Bei Nr. 1 genügt es, wenn sich die Sachlage zu Gunsten des Asylantragstellers geändert hat, also jetzt für ihn sprechende Tatsachen zu berücksichtigen sind, die im früheren Verfahren nicht verarbeitet worden sind. Nr. 2 ist erfüllt, wenn bisher nicht berücksichtigte Beweismittel, die dazu beitragen könnten, internationalen Schutz zu gewähren, vorliegen. Damit ist die Möglichkeit, die Art. 33 Abs. 2 Buchst. d) der Richtlinie 2013/32 schafft, vollumfänglich ausgeschöpft. Eine darüber hinausgehende Einschränkung des Zugangs zu einem Zweitantrag (europarechtlich: Folgeantrag) ist von der Richtlinie nicht gedeckt, wie sich aus dem klaren Wortlaut des Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 ergibt "nur dann als unzulässig betrachten". Eine Prüfung der Erfolgsaussichten des Folgeantragsverfahrens darf nicht inzident erfolgen.
§ 51 Abs. 2 VwVfG ist dagegen weiter, als § 71 Abs. 1 AsylG, weil dem Asylantragsteller nur grobes Verschulden oder Vorsatz entgegengehalten werden kann; er also anders gewendet, ein neues Asylverfahren beanspruchen kann, wenn die jetzt vorgebrachten Tatsachen oder Beweismittel aufgrund einfacher Fahrlässigkeit nicht im Erstverfahren vorgebracht worden sind. Das ist zulässig. Unionsrecht steht einer Günstigerstellung von grenzüberschreitenden Sachverhalten nicht entgegen. Bei dieser Betrachtung kann offen bleiben, ob § 51 Abs. 2 VwVfG angewandt werden kann oder diese Vorschrift wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts außer Betracht bleiben muss [...].
Mit den oben genannten auf Unionsrecht beruhenden Einschränkungen ist der materielle Inhalt des § 71a Abs. 1 AsylG – mit Ausnahme der für den Asylantragsteller günstigeren Präklusionsvorschrift – mit dem des § 71 Abs. 1 AsylG identisch. [...]
2. Der Hilfsantrag des Klägers ist zulässig und begründet. Der Kläger verfügt über einen Anspruch, dass für ihn ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festzustellen ist. [...]
Dem Kläger droht in Afghanistan, eine unangemessene und unmenschliche Behandlung. Aufgrund der schlechten humanitären Verhältnisse im Zielstaat. Das kann unter bestimmten Voraussetzungen eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Das ist im Falle von Afghanistan und dem Kläger der Fall.
Die Kammer folgt im Wesentlichen der Darstellung des Bundesamtes zu den wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen in Afghanistan. Diese werden sich allerdings nach den dem Gericht zugänglichen Erkenntnissen in naher Zukunft weiter verschlechtern. Die humanitäre Hilfe internationaler Geber wird deutlich hinter dem Bedarf zurückbleiben. die USA hat ihre Hilfen weitgehend gestoppt, das verschärft die Lebensmittelknappheit für große Teile der Bevölkerung weiter [...].
Aber schon unter Zugrundelegung der von dem Bundesamt aufgezeigten Umstände ist dem Kläger das begehrte Abschiebungsverbot zuzuerkennen. Das Bundesamt stützt seine gegenteilige Auffassung im Kern darauf, dass der Kläger ein junger gesunder Mann ohne erwerbsfähigkeitsmindernde Umstände oder Unterhaltslasten in Deutschland oder im Herkunftsland Afghanistan sei. Das ist aber nicht richtig. Es ist bereits zweifelhaft, ob der Kläger, der am 20. Oktober 1990 geboren und dieses Jahr 35 Jahre alt wird, unter den Verhältnissen in Afghanistan als junger Mann gelten kann. Der Median des Alters der Bevölkerung lag im Jahr 2021 bei 16,7 Jahren, im Jahr 2022 waren 43,1 % der Bevölkerung unter 15 Jahre alt [...]. Er ist jedenfalls nicht gesund. Zur Überzeugung der Kammer hat der Kläger großflächige Verbrennungen am Torso und rechten Oberarm erlitten, die narbig verheilt sind. Diese erheblichen Verletzungen behindern den Kläger und sind auf dem stark umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt ein deutliches Handikap. Damit scheidet eine eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts aus und zwar unabhängig davon, ob der Kläger bei den in Afghanistan verbliebenen Familienmitgliedern Unterkunft finden könnte. Jedenfalls wäre er voraussichtlich nicht in der Lage, seine Ernährung sicherzustellen. Es spricht auch nichts für die Annahme, sein Bruder sei in der Lage, auch noch den Lebensunterhalt des Klägers sicherzustellen, weil er bereits für seine Mutter und 2 Schwestern verantwortlich ist. [...]