Bei Personen, die Kindheit in Deutschland verbracht haben, ist nur selten Ausweisung möglich:
1. Bei Ausländern, die den größten Teil oder gar die Gesamtheit ihrer Kindheit und Jugend rechtmäßig in Deutschland verbracht haben, ist eine rein generalpräventiv begründete Ausweisung nur ausnahmsweise verhältnismäßig. Ein solcher Ausnahmefall kann vorliegen, wenn der Ausländer in der Öffentlichkeit mit einer Schusswaffe Selbstjustiz begangen hat.
2. Klageverfahren sog. "faktischer Inländer" gegen ihre Ausweisung weisen weder generell "besondere Schwierigkeiten" auf noch besteht grundsätzlicher Klärungsbedarf im Hinblick darauf, dass ihre Ausweisung je nach den Umständen des Einzelfalls selbst dann verhältnismäßig sein kann, wenn außer der Staatsangehörigkeit keine Verbindung zum Zielstaat besteht.
(Amtliche Leitsätze)
[...]
Generalpräventive Ausweisungen können auch bei Ausländern, die in Deutschland aufgewachsen sind, verhältnismäßig sein [...]. Besteht ein rein generalpräventives Ausweisungsinteresse, ist aber besonders sorgsam zu prüfen, ob dieses Interesse so schwer wiegt, dass einem in Deutschland aufgewachsenen Ausländer eine Rückkehr in den Staat seiner Staatsangehörigkeit zugemutet werden kann [...]. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bedarf die Ausweisung eines Ausländers, der den größten Teil oder gar die Gesamtheit seiner Kindheit und Jugend rechtmäßig im Aufenthaltsstaat verbracht hat, sehr gewichtiger Gründe [...]. In dieselbe Richtung geht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Nach ihr ist bei der Ausweisung in Deutschland geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen [...]. Dabei bezieht auch das Bundesverfassungsgericht diese besonders hohen Anforderungen nur auf Personen, deren Aufenthalt zumindest zu einem großen Teil rechtmäßig war [...]. Die Verwurzelung in Deutschland und die Entwurzelung hinsichtlich des Staates der Staatsangehörigkeit, die mit einem Aufwachsen in Deutschland häufig einhergehen, können dazu führen, dass eine nur auf Erwägungen der Generalprävention gestützte Ausweisung den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit nicht gerecht wird [...]. Bei Ausländern, die den größten Teil oder gar die Gesamtheit ihrer Kindheit und Jugend rechtmäßig in Deutschland verbracht haben, wird eine rein generalpräventiv begründete Ausweisung daher eher selten verhältnismäßig sein. [...]
cc) Es liegt jedoch auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im Zulassungsverfahren ein besonderer Ausnahmefall vor, in dem eine rein generalpräventive Ausweisung trotz des rechtmäßigen Aufenthalts des Klägers in Deutschland während seiner gesamten Kindheit und Jugend verhältnismäßig ist. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung des Verwaltungsgerichts wird im Ergebnis nicht schlüssig in Frage gestellt.
(1) Zusätzlich zu dem rechtmäßigen Aufwachsen in Deutschland ist zwar zugunsten des Klägers in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellen, dass er die deutsche Sprache beherrscht, einen deutschen Schulabschluss erworben und eine Berufsausbildung erfolgreich absolviert hat, überwiegend – wenn auch in häufig wechselnden Branchen und Arbeitsverhältnissen – erwerbstätig war, seine Geschwister, Eltern und seine Lebensgefährtin in Deutschland leben und dass von ihm persönlich keine Gefahr mehr ausgeht. Zudem ist er in besonders hohem Maße von dem Staat seiner Staatsangehörigkeit entwurzelt: Er hat die Türkei noch nie besucht (auch nicht z.B. im Urlaub), spricht die türkische Sprache nicht (sondern nur die Kurdische) und hat in der Türkei keine Verwandten. [...]
Die fehlenden Kenntnisse der türkischen Sprache sind bei der Abwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse zwar ein wesentlicher Aspekt. Sie schließen es aber nicht aus, dass das Verwaltungsgericht nach Berücksichtigung aller weiteren Umstände des Einzelfalls dennoch zu dem Ergebnis gelangen durfte, das Ausweisungsinteresse überwiege [...].
(2) Diesen sehr gewichtigen Bleibeinteressen hat das Verwaltungsgericht zurecht ein außergewöhnlich hohes generalpräventives Ausweisungsinteresse gegenübergestellt. Daran bestehen auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im Zulassungsverfahren keine ernstlichen Zweifel. Taten wie die Anlasstat stellen die staatliche Ordnung und die Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens der Gesellschaft existentiell in Frage. Dies ergibt sich aus Vorgeschichte, Motivation, Art, Ort und Zeit der Tat. [...]
Zusammenfassend ergibt sich aus folgender Erwägung, dass das generalpräventive Ausweisungsinteresse, das aus der Anlasstat folgt, im oberen Bereich des Möglichen anzusiedeln ist: Würden sich Vorfälle häufen, bei denen im Rahmen eines längeren Konflikts zwischen zwei Personengruppen ein Mitglied der einen Personengruppe gezielt und überlegt am Nachmittag in einer Innenstadt auf offener Straße mit Tötungsvorsatz auf ein Mitglied der anderen Personengruppe schießt, um dieses für einen (vermeintlichen) Übergriff auf ein Mitglied der Gruppe des Täters zu bestrafen, würden das staatliche Gewaltmonopol, die staatliche Friedensordnung und das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Sicherheit in ihren Grundfesten erschüttert. Daher besteht ein überragendes öffentliches Interesse daran, dass der Staat nicht nur mit Mitteln des Strafrechts, sondern auch mit gefahrenabwehrrechtlichen Instrumenten auf solche Vorfälle reagiert, wozu auch die Ausweisung gehört, wenn der Täter nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
(3) Hinzu kommt, dass der Aufenthalt des Klägers in Deutschland zwar während seiner Kindheit und Jugend durchgängig rechtmäßig war, es aber seit seinem 19. Lebensjahr (seit dem ...2013) und damit seit nunmehr fast 12 Jahren nicht mehr ist. [...]
Mit Kurdisch spricht der Kläger eine Sprache, die in der Türkei zwar nicht Amts- oder Mehrheitssprache, aber in mehr als nur geringfügigem Umfang verbreitet ist. In der Türkei leben ca. 13 bis 15 Millionen Kurdinnen und Kurden. Der amtliche Gebrauch der kurdischen Sprache ist zwar eingeschränkt, der private Gebrauch in Wort und Schrift aber seit Anfang der 2000er Jahre keinen staatlichen Restriktionen mehr ausgesetzt [...]. Kenntnisse der kurdischen Sprache dürfen bei der Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der kein Türkisch spricht, zulasten des Betroffenen in die Abwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK eingestellt werden [...].
(4) Bei der Gesamtabwägung aller vorstehend unter (1) bis (3) genannten Umstände sind letztendlich das außergewöhnlich hohe Gewicht des generalpräventiven Ausweisungsinteresses, der wegen der zahlreichen schwerwiegenden Vorstrafen schon seit längerem unsichere Aufenthaltsstatus, die nicht über längere Zeit verfestigte wirtschaftliche Integration, die kurdischen Sprachkenntnisse, die uneingeschränkte Erwerbsfähigkeit sowie das für den Aufbau einer neuen Existenz günstige Alter des Klägers ausschlaggebend dafür, dass sich die Ausweisung trotz der sehr starken Bindungen in Deutschland und der quasi vollständigen Entwurzelung von der Türkei als verhältnismäßig erweist. [...]